14
Daniel wusste, was er tun musste. Nachdem er den Adarianern entkommen war, hatte er genug Zeit gefunden, um nachzudenken. Er war die Bahnschienen entlang bis in den Wald gelaufen und dadurch Mitchell und den beiden anderen entwischt.
Danach war er noch eine gute halbe Meile weitergerannt, bis ihn Mitchells psychischer Radar nicht mehr bedrohte. Als ein Zug vorbeifuhr, hatte er seine adarianische Kraft genutzt, war auf ihn aufgesprungen und nach Glasgow gelangt.
Jene Momente in der Station von Muir of Ord hatten alles verändert. Denn die Anwesenheit Elys, Lukes und Mitchells bedeutete, dass sie irgendwie gewusst hatten, entweder er oder der Sternenengel würden sich dort aufhalten. Vielleicht konnten sie mittlerweile Personen orten oder sogar hellsehen. Er hatte keine Ahnung, wie oder wann es dazu gekommen war. Jedenfalls änderte es seine Situation, und er gab seinen Plan auf, den Sternenengel zu kidnappen und dem General zu übergeben. Denn Kevin würde befürchten, Daniel könnte in die Zukunft der Sternenengel blicken, und das sicher nicht schätzen.
Also musste er sich etwas Besseres ausdenken und auf eigene Faust handeln. Wenn der General das Talent eines Erzengels – oder eines Adarianers – absorbierte, indem er deren Blut trank, warum sollte es ihm, Daniel, nicht gelingen, sich Juliettes Fähigkeiten auf dieselbe Weise anzueignen? Und wenn ihr ganzes Blut durch seine Adern floss, würde er ihre Kräfte für immer besitzen.
Für Kevin Trenton war die Heilkunst besonders wichtig. Sollte Daniel sie beherrschen, nebst anderen Gaben, wäre er ein wertvoller Gefolgsmann des Generals und würde seinen Platz unter den Adarianern zurückgewinnen. Nach wie vor sah er in Juliette seine Rettung. Aber nun würde sie eine andere Rolle spielen. Eine von kürzerer Dauer.
Schwer stützte Juliette sich auf das kühle Messinggeländer im Lift, der zu den oberen Hoteletagen emporschnellte. Letzten Endes hatte sie doch noch den Wein getrunken, und der war wirklich stark gewesen.
Aber sie hatte nur die Wahl gehabt, von ihm zu trinken oder in Gegenwart dieser beiden umwerfenden Männer ohnmächtig zu werden. Denn als sie den ›Schwarzen Zauberer‹ erwähnt hatten, da schien sich die Welt vor ihren Augen zu drehen. Ein Kriegsherr mit schwarzem Haar und silbernen Augen? Der hatte sogenannte Sternenengel in sein Bett geholt? Das war einfach zu viel. Und sicher kein Zufall.
Sofort würde ich mit ihm schlafen, dachte sie leichtfertig, Gabriel Black ist wahnsinnig sexy. Vor allem sein schottischer Akzent. Und er küsst wie ein Engel. Sekundenlang schloss sie die Augen, und die Erinnerung an seine Küsse entlockte ihr ein Stöhnen.
Verdammt, ich bin beschwipst. Obwohl sie nur ein Glas getrunken hatte. Aber dieser Wein, so machtvoll, so rot … Betörend hatte er in ihrer Kehle gebrannt. Nach dem dritten Schluck war ihre Angst verflogen wie Staub im Wind. Und sie hatte begonnen, über Sams und Laws Legende nachzudenken.
Falls das alles stimmte – konnte Gabriel der Schwarze Zauberer sein? Und sie ein Sternenengel?
Unmöglich. Oder? Nur ein Zufall, nicht wahr? Niemand lebte zweitausend Jahre. Und jetzt gab es keine Kriegsherren mehr. Zauberer schon gar nicht. Und was immer ein Sternenengel sein mochte, mit ihr hatte es nichts zu tun.
Andererseits … Juliette konnte Verletzte heilen. Und das Wetter beeinflussen. Und Telekinese anwenden. Dazu waren normale Leute nicht fähig. »O Gott, was passiert mit meinem Leben?«, flüsterte sie und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. So heiß fühlten sich ihre Wangen an, der Alkohol glühte in ihren Adern. Sie trank fast nie, das passte nicht zu ihr.
Plötzlich gaben ihre Beine unter ihr nach, und sie rutschte an der Wand der Liftkabine hinab. Den Kopf gesenkt, saß sie am Boden und zog die Knie an. Zum Glück würde sie allein bis zur obersten Etage fahren. Nachdem sie die Schlüsselkarte in den Schlitz gesteckt hatte, würde der Aufzug sonst nirgendwo halten. Sie war zu schwach, um aufzustehen. Denn in diesem Moment erkannte sie die erschütternde Wahrheit: sie war zu einer Superheldin geworden, einer Gestalt aus oder in einer Geschichte.
Sie war innerhalb weniger Tage auch zu vielen attraktiven Männern begegnet. Solche Typen gab es nicht wirklich. Zumindest keine ungebundenen. Und diese Legende war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Juliette trieb in einem Meer aus lauter Unsinn dahin, ertrank darin. In einer Märchenwelt gefangen, sah sie keinen Ausweg. So als wäre sie in einem Traum eingesperrt, aus dem sie nicht erwachen konnte. War es das, was hier geschah? Lag sie in einer Art Koma? War ihr Kopf gegen Korallen geprallt, während sie den Surfer aus dem Wasser gezogen hatte? Bildete sie sich das alles in irgendeinem Krankenhausbett ein?
Welch ein grausiger Gedanke. Zwischen Leben und Tod gefangen … Müde saßen ihre Eltern und Freunde neben dem Bett und gaben die Hoffnung auf.
Nein, sie wollte erwachen!
Aber in den Tiefen ihrer Seele wusste sie, dass es kein Traum war. Denn ihre Träume waren anders. In ihren Träumen spürte sie niemals Schmerzen. Jetzt hingegen fühlte sich alles real an, obwohl sie es nicht glauben konnte.
»Wenn mich doch jemand retten würde …«, flüsterte sie, den Tränen nahe.
Plötzlich ging ein heftiger Ruck durch die Liftkabine. Glücklicherweise saß Juliette schon auf dem Boden, sonst wäre sie hingefallen. Der Aufzug verlangsamte kreischend sein Tempo, dann hielt er. Erschrocken riss Juliette die Augen auf. Wie sie dem Display entnahm, befand sie sich irgendwo zwischen dem vierunddreißigsten und fünfunddreißigsten Stockwerk.
Sie umklammerte das Messinggeländer, zog sich hoch und wollte auf den roten Alarmknopf drücken. Aber da erklang wieder ein Kreischen, diesmal dicht über ihrem Kopf, die Messingdecke der Kabine verbog sich und brach auf. Entgeistert und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, rang Juliette nach Luft. Stumm vor Entsetzen beobachtete sie, wie die Teile der Decke nach außen gerissen wurden und ein gähnendes Dunkel enthüllten.
Nur Sekundenbruchteile starrte sie in die Finsternis, bevor die Konturen eines großen Mannes im Licht der Kabine erschienen. Als er oben auf dem Rand des Lifts niederkniete, sah sie ihn etwas deutlicher. Er war unglaublich groß. Sicher würde er sie um einen halben Meter überragen. Pechschwarzes Haar fiel über seine Schultern herab, seine Augen glühten wie zwei goldene Sonnen. So eingehend wie Samuel Lambent musterte er sie, dann enthüllte er lächelnd ebenmäßige weiße Zähne – und zwei Reißzähne. Wie eine Gestalt aus einem Erotik- oder Horrorfilm.
Schön. Tödlich. Unwirklich.
Sie wollte schreien, und das gelang ihr auch. Aber der Mann sprang blitzschnell in die Liftkabine herab. Mit unnatürlicher Anmut landete er auf den Füßen. Juliette wich zurück, bis sich das Messinggeländer schmerzhaft in ihr Kreuz drückte. Tatsächlich, er überragte sie um mindestens einen halben Meter.
»Juliette.« Gedehnt sprach er ihren Namen aus, als würde ein Stück Zucker auf seiner Zunge zergehen. »Ich tue Ihnen nicht weh«, versprach er. »Aber Sie müssen mich begleiten. Zweimal werde ich Sie nicht dazu auffordern.«
So viele Talente habe ich, dachte sie verzweifelt, und jetzt hilft mir kein einziges. Es gab keine Wolke, der sie Blitze entlocken, keine Gegenstände, mit denen sie per Telekinese um sich werfen konnte, und die verdammte Heilkunst würde ihr nichts nützen. Sie brauchte etwas, was diesen Mann unschädlich machen und es ihr ermöglichen würde, danach wegzufliegen.
»W … wer sind Sie?«, stammelte sie fast unhörbar. Mit gefühllosen Fingern umklammerte sie das Messinggeländer hinter ihrem Rücken.
»Ich heiße Azrael, und ich bin Gabriels Bruder.«
Gabriel Black. Sicher würde ihr Gesicht ein Erkennen verraten, die Angst, die dieser Name in ihr weckte. Sa in hat recht, Black ist ein Zauberer, und sein Bruder ist ein verdammter Vampir! Das war eine idiotische Schlussfolgerung, aber eine verständliche spontane Vermutung, von kalter Furcht hervorgerufen.
Als der Vampir nun auf sie zukam, wusste Juliette nicht, was sie tun sollte. Aber ihrem Körper fiel etwas ein. Sie spürte, wie er nach ihren Kräften suchte, dann ein Gezerre in ihrem Innern, einen Ruck nach außen, und schon drehte sie sich um und umklammerte das Messinggeländer erneut.
Nur eine Sekunde lang konzentrierte sie sich, ehe ihre telekinetischen Kräfte das Geländer aus der Wand rissen, und sie vergeudete keine Zeit, sondern fuhr auf dem Absatz herum, um Azrael das glänzende Metall gegen den schönen Schädel zu schmettern.
Doch der Vampir duckte sich nicht einmal. Stattdessen hob er seine rechte Hand und stoppte die rasante Bewegung der Waffe. Verstört starrte Juliette in seine Augen. In ihrer Hand erkaltete das Metall. Sie schaute hinab und beobachtete, wie sich Eiskristalle auf dem Messing bildeten.
Dann stieg Dampf empor, ihre Finger drohten zu verbrennen, und sie musste die Stange loslassen. Zitternd trat sie zurück und presste sich an die Kabinenwand.
»Tut mir leid, Juliette«, sagte der Vampir gleichmütig. »Ich wollte Sie nicht erschrecken. Aber ich habe erklärt, ich würde Sie nicht zweimal auffordern, mich zu begleiten.«
Nun ließ er die Stange fallen. Ehe Juliette Luft holen und schreien konnte, wurde sie von starken Armen umschlungen, an eine harte Brust gedrückt und augenblicklich von einer tiefen, völlig fremdartigen inneren Ruhe erfüllt, die alle Spannungen in ihrem Körper lockerte und ihr Gehirn benebelte.
Ihr Kampfgeist erstarb. Wie aus weiter Ferne hörte sie Männer schreien, und der Vampir sprang mit ihr empor. Der Flug dauerte nicht lange. Fest und sicher hielt Azrael sie in seinem Arm, während sie durch den Aufzugschacht nach oben sausten, zu einer schimmernden Tür.
Juliette war zu erschöpft, um sich darüber zu wundern. Es war einfach nur eine weitere überirdische Neuheit in einer Welt, die nicht mehr den Gesetzen der Logik gehorchte.
Juliette entspannte sich, denn sie hatte ohnehin keine Wahl. Sie fühlte sich friedlich und ruhig, wie unter Drogen, und unfähig, Zorn aufzubieten oder eine Flucht zu erwägen.
Vor der Tür hielt der Vampir schwebend inne und hob seine freie Hand. Da veränderte sich die Tür, löste sich auf, und in der verschwommenen Metallmasse öffnete sich ein Portal.
Jenseits dieses Portals sah Juliette ein Wohnzimmer mit Ledersofas und -sesseln und einem knisternden Kaminfeuer. Einige Männer erwarteten sie dort. Zwei von ihnen kannte sie. Einer war der berühmte Filmstar Christopher Daniels. Der andere Gabriel Black.
Ehe sie zu überlegen vermochte, was mit ihr geschah, trug der Vampir sie über die Schwelle. Raum und Zeit veränderten sich um sie herum, und es war ein merkwürdiges Gefühl, das Juliette nicht hätte beschreiben können, wäre sie danach gefragt worden. Aber ihr entspannter Zustand ermöglichte es ihr, einfach alles zu akzeptieren, bis sie die andere Seite erreichten. Laudos schloss sich das Portal hinter ihnen.
Azrael stellte sie behutsam auf schwankende Füße. Sofort kam Gabriel zu ihr und umfasste ganz sanft ihre Oberarme. Mit seiner Hilfe fand sie ihr Gleichgewicht. »Juliette, schau mich an, Liebes«, bat er leise.
Unsicher starrte sie den Boden an, als wollte sie sich seiner Stabilität vergewissern. Sie fühlte sich der Realität entrissen, ihre Stimme gehorchte ihr nicht. Aber sie zwang sich, Gabriels Blick zu erwidern.
»Was hast du nur mit ihr gemacht?«, fragte er, an Azrael gewandt. Die Augen des Vampirs glühten nicht mehr. Jetzt strahlten sie faszinierend bernsteinfarben mit goldenen Punkten.
»Sie steht immer noch unter seinem Bann«, erklang eine weibliche Stimme.
Blinzelnd sah Juliette sich um. Da entdeckte sie eine Frau, die hinter Christopher Daniels hervortrat und ihr ein warmherziges Lächeln schenkte. Sie hatte langes blauschwarzes Haar und indigoblaue Augen und war von außergewöhnlicher Schönheit.
Gabriel musterte den Vampir vorwurfsvoll, was Azrael offensichtlich nicht störte.
»Leider war das nötig. Sie hat mir gegenüber ihr geradezu feuriges Temperament bewiesen, obwohl Samael sein Bestes getan hatte, um sie betrunken zu machen.« Ein leichtes Lächeln entblößte die Spitzen seiner Reißzähne. »Plötzlich hat sie das Geländer aus der Wand der Liftkabine gerissen und versucht mich niederzuschlagen. Mir fehlte die Zeit, um vernünftig mit ihr zu reden. Schon nach wenigen Sekunden wusste Sam, was im Aufzugschacht geschah. Hätte ich Juliette vor der Aktion nicht präzise geortet, wäre es schiefgelaufen. Als ich sie durch das Portal trug, standen seine Männer schon vor der Lifttür.«
Es fiel Juliette schwer, diesen Worten zu folgen. Sie spähte zu den Fenstern des luxuriös eingerichteten Zimmers hinüber. Erstaunlicherweise herrschte draußen nächtliches Dunkel. War es nicht eben noch drei Uhr nachmittags gewesen?
»Wahrscheinlich hat er sie durch die Liftkamera beobachtet«, meinte ein anderer Mann. So wie seine Gefährten groß und muskulös, hatte er dichte blonde Locken und saphirblaue Augen. Er trug Bluejeans, ein langärmeliges Thermohemd und ein doppeltes Schulterhalfter mit zwei Pistolen. Im Hosenbund steckte eine Polizeimarke. Darauf stand NYPD – New York Police Department. Unwillkürlich dachte Juliette, dass sie, wenn ein solcher Cop sie jemals anhalten sollte, sofort noch eine Gesetzesübertretung begehen würde, damit er sich wieder an ihre Fersen heftete.
»Sie ist völlig von der Rolle«, konstatierte ein braunhaariger Brillenträger in einem maßgeschneiderten braunen Anzug und ging zu ihr. Mit sanfter Gewalt schob er Gabriel beiseite. Dann nahm er seine Brille ab und schaute ihr in die Augen. »Was hast du denn da verbockt, Az?«
Darauf gab Azrael keine Antwort. Reglos wie eine Statue stand er im Schatten.
Die Lider gesenkt, schüttelte Juliette langsam den Kopf. Sie fühlte sich nicht schlecht, sondern eher so, als wäre nichts wichtig und alles okay und ihr würde keine Gefahr drohen. Gar keine, wenn ihre lächerliche Umgebung auch das Gegenteil bekundete.
»Lass sie frei, Az«, befahl Gabriel und zog sie hinter seinen Rücken, sodass er zwischen ihr und dem Vampir stand.
»Willst du das wirklich?«, fragte Azrael, legte den Kopf schräg und verengte seine goldenen Augen.
Gabriel schwieg. Obwohl Juliette sein Gesicht nicht sah, konnte sie sich vorstellen, welchen Blick er dem Vampir zuwarf. Seinem Bruder.
»Also gut.« Azrael schlenderte zu einer zweiflügeligen Glastür, die offenbar auf eine Terrasse führte. »Jetzt werde ich etwas zu mir nehmen. Was du noch wissen solltest«, fügte er hinzu und schaute Gabriel über seine breite Schulter an, »Sam ist in ihr Gehirn eingedrungen.«
Als er sich der Tür näherte, schwang sie auf, und er verschwand in der Dunkelheit. Sofort verflog Juliettes innere Ruhe. Ihre Gedanken waren nicht mehr benebelt, ihr ganzer Körper spannte sich an, eisige Angst jagte Cortisol und Adrenalin durch ihr Blut. Dann hob sich ihr Magen wie bei einem heftigen Kater. Ihr wurde übel, ihr Kopf schmerzte und sie wich vor Gabriel zurück, der sich zu ihr umgedreht hatte. Taumelnd schaute sie sich im Zimmer um, als würde sie alles zum ersten Mal sehen. Ein Polizist, ein berühmter Schauspieler, eine schöne Frau, ein Mann in einem braunen Anzug. Und soeben war noch ein Vampir hier gewesen.
Krampfhaft schluckte sie bittere Galle hinunter. Unfassbar. Sie war aus einem Lift geholt, hypnotisiert und durch irgendein Portal getragen worden. Durch Raum und Zeit.
Ihr Herz raste, verstärkte die Übelkeit und die Kopfschmerzen. »Oh, ich glaube, ich …«
Sie konnte den Satz nicht beenden, da sie spürte, wie ihr das Essen hochkam. Eine Hand auf den Mund gepresst, sank Juliette auf die Knie.
Aus dem Augenwinkel sah sie den Cop und die schwarzhaarige Frau auf sich zulaufen. Sie konnte nicht verhindern, dass beide sich neben sie knieten, und die Frau drückte ihr eine Hand auf die Brust. Beinahe hätte Juliette sich übergeben. Aber dann verebbte die Übelkeit wunderbarerweise. Und es fühlte sich himmlisch an. Stöhnend schloss sie die Augen. Auch das Kopfweh verflog, und sie seufzte erleichtert.
Nach einer kleinen Weile zog die Frau ihre Hand zurück. »Geht es Ihnen besser?«, fragte sie sanft.
Juliette hob die Lider und las in den indigoblauen Augen eine Einfühlungsgabe, wie sie ihr nur selten begegnet war. »Ja, danke.«
Lässig zuckte die Frau die Achseln. »Nichts Besonderes. Wären Sie nicht so durcheinander gewesen, hätten Sie’s selbst geschafft.« Nun stand sie auf, ebenso wie der Cop, und Gabriel reichte Juliette eine Hand. Misstrauisch starrte sie ihn an, ignorierte das Hilfsangebot und kam aus eigener Kraft hoch. Mit einem tiefen Atemzug bezwang er seinen Ärger.
»Wer sind Sie alle?«, fragte sie und trat ein paar Schritte zurück. Wenn sie sich auch besser fühlte – in ihrem Kopf drehte sich immer noch alles. Als nun der Brillenträger auf sie zuging, hob sie abwehrend die Hand. »Bitte, kommen Sie nicht näher. Beantworten Sie nur meine Frage.«
In der Ferne grollte Donner und lenkte alle Blicke auf die Fenster. Ein Blitz beleuchtete die Vorhänge. Daran bin ich schuld, dachte Juliette. Das Gewitter spiegelte ihre Emotionen.
»Sind wir wieder mal so weit«, murmelte der Cop und fuhr sich mit den Fingern durch sein blondes Haar. »Kannst du was dagegen machen, Ellie?«, bat er die schwarzhaarige Frau und wies auf die Fenster.
»Tut mir leid.« Sie schüttelte den Kopf. Lächelnd wandte sie sich wieder an Juliette. »Ich bin Ellie. Und das ist Uriel, mein Mann. Azrael hat Sie hierher gebracht. Das ist Max und das Michael.« Sie wies auf einen der Anwesenden nach dem anderen. »Ich weiß, Sie sind verwirrt und finden das alles verrückt. Aber ich versichere Ihnen, niemand in diesem Raum würde Ihnen jemals etwas antun.«
Der Reihe nach betrachtete Juliette die Gesichter und versuchte sich die Namen zu merken. Zuerst hatte Ellie ihr den Filmstar Daniels vorgestellt und ihn Uriel genannt. Vielleicht war es gar nicht der Schauspieler, sondern nur jemand, der ihm ähnlich sah. »Was wollen Sie von mir?«
»Wir möchten Ihnen nur helfen«, beteuerte Max, setzte seine Brille wieder auf und streckte beschwörend seine Hände aus. »Klar, im Moment machen Sie einiges durch und verstehen nicht, was mit Ihnen geschieht. Deshalb sind Sie bei uns.«
Jetzt erinnerte sie sich, wie sie im Lift zu Boden gesunken war und gefleht hatte, jemand möge sie retten. Hatte der Allmächtige ihre Bitte erhört und ihr Hilfe gesandt? Aber was für Retter waren das? Der Doppelgänger eines Filmstars? Ein Vampir? Ein mutmaßlicher ehemaliger Kriegsherr, der womöglich ihren Tod anstrebte, um ewig weiterzuleben?
Wenigstens ist auch noch ein Cop da, dachte sie und wollte verzweifelt glauben, eine Polizeimarke würde automatisch auf einen guten Menschen hinweisen. Obwohl sie wusste, dass das nicht stimmte.
Ganz in der Nähe schlug ein Blitz ein, und sie hörten das krachende Geräusch eines umstürzenden Baums.
»Wir müssen reden, meine Kleine«, entschied Gabriel und ging zu ihr. Diesmal wich sie nicht zurück. Sein Anblick schien sie zu fesseln und weckte Erinnerungen an seine Küsse, seinen Duft, seine silbernen Augen.
»Das hast du auch im Zug gesagt.«
»Ja. Und jetzt werden wir alles besprechen.« Ermutigend lächelte er ihr zu, und sie kniff die Augen zusammen.
»Ich traue dir nicht«, erwiderte sie unverblümt.
Vor dem Fenster schlug ein Blitz ein. Instinktiv duckten sich die meisten Anwesenden, und Gabriel schaute seufzend in die Nacht hinaus. »Das solltest du unter Kontrolle bringen, Babe.«
»Warum? Weil ich damit an Kraft verliere und dich dann nicht mehr bekämpfen kann? Hast du das nicht behauptet? Und wieso sollte ich mich überhaupt gegen dich wehren müssen? Würdest du mir das erklären, Black?« Ihre Unterlippe bebte. In ihrem ganzen Körper spürte sie ein Zittern. Von der Übelkeit und den Kopfschmerzen war sie geheilt worden. Aber jetzt meldete sich ihr Temperament zurück.
»Nun muss ich verschwinden, meine Schicht fängt an«, murmelte Michael, der Cop, und Gabriel sah zu ihm hinüber. Zwischen den beiden fand ein stummer Wortwechsel statt. »Gerade habe ich mit einem widerwärtigen Fall zu tun, mit einem Serienkiller:« Er zog eine Bomberjacke aus braunem Leder über das Schulterhalfter. »Ruft mich an, wenn ihr mich braucht.«
»Danke, Mike«, sagte Max.
Michael ergriff einen schwarzen Seesack, nickte Juliette zu und ging zur Haustür. Während Juliette ihm nachschaute, bekämpfte sie den Impuls, ihn zurückzurufen. Er war Polizist und vielleicht der einzige Gute hier.
Nachdem er das Zimmer verlassen hatte, trat Max zu Juliette und Gabriel. »Miss Anderson, wir haben einige Fehler gemacht. Das bedaure ich zutiefst. Aber Eleanore hat recht. Niemals würden wir Ihnen etwas antun. Für uns sind Sie wichtiger, als Sie es ahnen.« Er nahm die Brille ab und steckte sie in die Brusttasche seines Jacketts. Dann umfasste er behutsam Juliettes Ellbogen. »Bitte, wollen Sie sich nicht wenigstens setzen?«
Sie ließ sich zu einer Couch führen. Denn hätte sie sich losgerissen, hätte es ihr keinen Vorteil verschafft. Sollte sie fliehen müssen, konnte sie dank ihrer telekinetischen Begabung immer noch irgendwelche Gegenstände an feindliche Köpfe werfen oder Blitze herbeirufen. Außerdem hatte Eleanore sie tatsächlich geheilt. Juliette musterte die schwarzhaarige Frau.
Glichen sie einander? War auch Ellie telekinetisch veranlagt und imstande, das Wetter zu beeinflussen?
Max drückte Juliette auf die Couch und legte eine Decke um ihre Schultern.
»Jetzt koche ich Tee«, sagte Ellie und eilte zu einem der zahlreichen Türbögen.
»Warten Sie!« Angstvoll sprang Juliette auf. Hier traute sie nur Eleanore, die anderen waren ihr fremd. Und Gabriel Black stand viel zu nah bei ihr. Sie begegnete seinem forschenden Blick und spürte, dass er endlich mit ihr allein sein wollte.
Verwirrt von der Hitze, die dieser Gedanke zwischen ihren Schenkeln erzeugte, schluckte sie. Dann schaute sie Eleanore an. Die schwarzhaarige Frau hatte sich zu ihr umgedreht. »Bitte, gehen Sie nicht.«
»Bleib hier, Ellie«, schlug Max vor, »ich kümmere mich um den Tee.«
Eleanore nickte, und er verschwand. Lächelnd sank sie auf die Couch. »Setzen Sie sich zu mir, Jules«, sagte sie und klopfte einladend auf das Polster.
Jules? So wurde Juliette nur von ihrer besten Freundin Sophie genannt. Sogar die Eltern redeten sie stets mit ihrem vollen Vornamen an. Aber irgendwie klang die Abkürzung aus dem Mund dieser Frau gut und richtig und ganz selbstverständlich.
Sobald Juliette Platz genommen hatte, beruhigten sich ihre Nerven.
Doch da trat Gabriel noch näher, und sie spannte sich erneut an. Als er vor ihr niederkniete, wehte ein Hauch seines berauschenden Eau de Cologne in ihre Nase, und ihr Mund wurde wässerig. Zu beiden Seiten ihrer Beine legte er seine Hände auf das Sofa. Fast schmerzlich fühlte sie die Wärme seiner Finger, so dicht neben ihren Schenkeln.
Entschlossen starrte sie den Couchtisch an. Denn sie wusste, sie wäre verloren, wenn sie in seine Augen schaute.
»Sieh mich an, Liebes«, bat er leise. Seine Stimme glich liebkosenden Händen in ihrem Haar, heißem Atem auf ihren Brüsten. So verführerisch. Sie schloss die Lider und schüttelte den Kopf.
»Ach, Süße, ich will dir nichts Böses«, fuhr er fort. »Merkst du das nicht?«
»Was für Leute seid ihr alle?«, fragte sie, die Augen immer noch fest zusammengekniffen.
»Gabe, Mike, Uriel und Az sind Erzengel«, erklärte Eleanore. »Und Sie und ich, wir beide sind Sternenengel.«
Da riss Juliette die Augen auf und starrte sie an. »Was haben Sie gesagt?«
»Sternenengel«, wiederholte Ellie geduldig, »den Erzengeln zu Gefährtinnen erkoren.«