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»Na, großartig.« Finster betrachtete Juliette den dunklen Himmel durch die Windschutzscheibe. »Einfach großartig.« Mit geschürzten Lippen umklammerte sie das Lenkrad immer fester, bis ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Es war schon schwierig genug, die Entfernung zwischen den Autoreifen und dem Straßenrand abzuschätzen, wenn man auf der rechten Seite saß, und der Verkehr, Stoßstange an Stoßstange, zerrte zusätzlich an ihren Nerven. Ringsum fühlte sich das Vehikel wie schäbiges Plastik an, und sie saß allein auf einer fremden Straße fest. In absehbarer Zeit würde sie das Hotel wohl kaum erreichen.
Falls sie es überhaupt fand. Dabei half ihr zum Glück das Navi am Armaturenbrett. Wenn sie die falsche Richtung einschlug, würde ihr eine ganz reizende britische Stimme Bescheid geben.
Juliette riskierte wieder einen Blick nach oben. Erstaunt sah sie das grelle Netz eines Blitzes am Himmel. Zwei Sekunden später krachte ein Donnerschlag.
Normalerweise genoss sie heftige Gewitter. Was dies dem Verkehr antat, gefiel ihr nicht so gut. Die Straßen waren ohnehin schon furchtbar, viel zu schmal, voller Straßenschilder und parkender Autos. Und es gab einfach zu viele Fahrzeuge auf diesem Straßennetz, das die Schotten vor tausend Jahren angelegt hatten. Auf regennassem Asphalt geriet man in eine gewaltige Schlange, die im Schneckentempo dahinkroch.
Bis zu Juliettes Ankunft im Radisson Blu würden noch Stunden verstreichen. Sie seufzte erleichtert, weil eine britische Tankfüllung für tausend Meilen reichte. Seit sie den Flughafen verlassen hatte, war keine einzige Tankstelle aufgetaucht.
O Gott, wie schlecht du gelaunt bist, Jules, dachte sie und rieb sich die Augen, als der Wagen vor ihr wieder einmal stehen blieb. Nur Mut. Du bist sicher und unversehrt gelandet, alles andere ist unwichtig. Aber die blöde Fluglinie hatte ihr Gepäck verschlampt, ihre rechte Hinterbacke war gefühllos vom langen Sitzen, und sie fürchtete, ein Autounfall würde sie noch vor dem Ende des Tages hinter Gitter bringen.
Hinter ihr erklang eine Hupe, und Juliette spähte in den Rückspiegel. Neben ihren braunen Haaren und den haselnussbraunen Augen sah sie den Fahrer eines BMW. Mittleren Alters, soweit sie das erkennen konnte. Goldene Armbanduhr? Vielleicht Silber – schwer zu sagen in diesem schwachen Licht. Ein bebrillter Glatzkopf. An seinem rechten Ohr klebte ein Handy. Juliette runzelte die Stirn.
Warum zum Teufel hupte er?
Die Autoschlange kroch weiter, und Jules kam bis auf gute fünf Stundenmeilen, bevor der Verkehr erneut stockte. Seufzend verdrehte sie die Augen, als der Typ hinter ihr wieder hupte. Diesmal pausenlos. Juliette warf ihm im Rückspiegel einen vernichtenden Blick zu. Unbeeindruckt hupte er. Was zum Teufel … Glaubt der, ich könnte die dreihundert Autos vor mir zu einem schnelleren Tempo zwingen? Oder bildet er sich ein, ich könnte mich in Luft auflösen?
Über den Highway rollte ein Donnergrollen hinweg, ließ die Autofenster klirren und die BMW-Hupe für eine kleine Weile verstummen. Ein Blitz flammte rechts von Juliettes Wagen auf, nicht weit entfernt, und sie begann die Sekunden zu zählen. Noch ehe sie bei zwei war, ertönte ein gewaltiges Krachen. Sie zuckte zusammen, instinktiv duckte sie sich. Irgendwo auf dem grünen Hügel zwischen den Vorstädten heulten Sirenen.
Juliette schaltete das Radio ein, hörte aber nur ein Rauschen. Als sie zu schlucken versuchte, fühlte sich ihre Kehle staubtrocken an. Ihr Kopf schmerzte, ihre Arme und der Nacken spannten sich an.
Jetzt steckte ihr Auto unter einer Überführung fest. Der feuchte graue Zement war von mindestens zehn Gangs geschmückt worden. Während sie die Augen zusammenkniff und die Graffiti musterte, kam ein Mann hinter einem der Stützpfeiler hervor. Seine Schuhe waren löchrig, und er hielt einen Hut mit ein paar Münzen in der Hand. Automatisch kramte Juliette in ihrem Rucksack auf dem Beifahrersitz des Mietwagens. In einer der Außentaschen verwahrte sie immer ein bisschen Kleingeld. Sie tastete danach und schaute durch die Windschutzscheibe. Vorerst bewegte sich der Verkehr nicht weiter. Sobald sie die Münzen gefunden hatte, kurbelte sie das Seitenfenster herunter und rief nach dem Mann, der sie nicht zu hören schien. Es donnerte erneut.
Auf den dritten Ruf reagierte der Mann und sah sie an – strahlend blaue Augen in einem geröteten Gesicht. Sie winkte ihn zu sich, und er hinkte herbei. Als er das Geld entgegennahm, verzogen sich seine rissigen Lippen zu einem dankbaren Grinsen.
Hinter ihr hupte Mr. BMW wieder. Ihre Augen weiteten sich, sie hob den Kopf und schaute in den Rückspiegel. Durchdringend starrte er sie an. In ihren Ohren rauschte das Blut. Die Lider halb geschlossen, erwiderte sie seinen Blick. Normalerweise ließ sie sich nicht so leicht provozieren. Aber dieser Typ ging wirklich zu weit.
Und jetzt zeigte er ihr auch noch, auf britische Art, einen Vogel!
Plötzlich sprühten weiße Funken aus seiner Motorhaube, ein blendender Blitz schoss hindurch. Was nun geschah, beobachtete Juliette wie im Zeitlupentempo. Millionen winziger elektrischer Teilchen flogen empor und erinnerten sie an die Glaskugeln, innerhalb derer Blitze entstanden, die sich, wenn man das Glas berührte, auf die eigene Handfläche richteten.
Der ohrenbetäubende Lärm glich dem einer Bombendetonation und übertönte alles andere. Aber Juliette wusste, dass um sie herum auch Sirenen und Hupen schrillten und die Leute aus ihren Autos stiegen.
Für Juliette indes existierten nur die Zeitlupe und der Mann, der sein Handy nun tatsächlich nicht mehr loslassen konnte, da die Elektrizität des Blitzes durch den BMW schoss, ins Innere des Wagens. Die Brille des Fahrers wurde zerstört, seine Brauen versengt, seine Armbanduhr schmolz.
Das habe ich bewirkt, dachte sie plötzlich. Jetzt schrie Mr. BMW. Doch sie hörte es nicht, so klangen ihr die Ohren. Er umklammerte seinen Arm, tastete nach dem Türgriff, und sie konnte nur verstört zuschauen.
In der Tiefe ihrer Seele kannte sie die Wahrheit. Sie war so unleugbar wie die Tatsache, dass die Sonne jeden Tag im Osten aufging und dass man mit dem Gehirn dachte. Sie selbst hatte den Blitz in das Auto dieses Mannes gelenkt.
In gewissen Momenten eines Lebens scheint die Zeit stillzustehen. Denn wie alles andere ist auch die Zeit relativ. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis Mr. BMW zur Besinnung kam und den geschmolzenen Türgriff umfasste, den Wagenschlag öffnete und heraustaumelte. Und es dauerte weitere Jahre, bis Juliette ihre Autotür aufstieß.
Von qualvollen Schuldgefühlen getrieben, stürmte sie durch das nachlassende Unwetter zu dem bewusstlosen Mann, sah ihre Finger an seinem Hals, die den Puls suchten. Stunden später – so kam es ihr zumindest vor – beugte sie sich zu ihm hinab und hoffte seinen Atem zu hören.
Ja, Gott sei Dank … Sie kauerte sich auf die Fersen und betrachtete die geschmolzene Armbanduhr, die Brandmale, die sie auf der Haut des Mannes hinterlassen hatte. Und dann, ohne zu überlegen, schloss sie die Augen und berührte seine Brust.
So etwas hatte sie auch in Australien getan. Doch sie fand keine Zeit, um über diesen Wahnsinn nachzudenken, ihr Körper agierte aus eigenem Antrieb.
Ringsum mischten sich gellende Stimmen, jemand schrie, man müsse einen Krankenwagen rufen, eine andere Person erwiderte, der würde niemals durch den Stau kommen. Es donnerte immer noch, aber nicht mehr so laut. Ganz in der Nähe knisterte ein Feuer, und Juliette registrierte, dass der BMW ausbrannte. Dieses Geräusch erfüllte sie mit einer beklemmenden Angst. Sie fürchtete sich nicht vor Flammen, wenn sie im Kamin eines gemütlichen Wohnzimmers loderten. Aber aus eigener Kraft entfacht, entwickelten sie eine unberechenbare Energie, die alles auf ihrem Weg verzehrte.
Da hörte sie Regen herabprasseln. Bald würde das Feuer erlöschen. Durchnässt und fröstelnd spürte sie, wie die vertraute Wärme unter ihrer Hand entstand, in ihren Arm und in den ohnmächtigen Mann drang.
Das passiert nicht wirklich, dachte sie, während eine seltsame Schwäche ihren Körper erfasste. Mr. BMW bewegte sich, die Brandmale verblassten. Ich kann heilen, und ich kann Blitze vom Himmel herabrufen. Es war ein flüchtiger Gedanke, eine Flüsterstimme in ihrem Gehirn. Und eine Wahrheit, so eindeutig, dass sie nicht ignoriert werden konnte.
Juliette öffnete die Augen und sah den Mann, dem sie die Münzen gegeben hatte, gegenüber am Straßenrand stehen. Schweigend schaute er sie an. Plötzlich raste ihr Herz, und sie fühlte sich so gelähmt wie ein Reh im Scheinwerferlicht eines Autos.
Unter ihrer Handfläche drehte sich Mr. BMW ein wenig zur Seite und hob die Lider. Juliette beobachtete ihn und blinzelte. Dann zog sie hastig ihre Hand zurück.
Sie war völlig erschöpft. So wie damals, nachdem sie den Surfer in Australien gerettet hatte. Das passiert wirklich. Auch was ich dort getan habe, war real. Keine Halluzination.
Nun blickte der Mann zu ihr auf, zwinkerte und hob einen Arm, um sein Gesicht vor dem Regen zu schützen. Dann runzelte er die Stirn. »He, was ist los?«, stieß er angewidert hervor, mit starkem schottischem Akzent. »Bestehlen Sie mich oder was?«
Das würde sie sich nicht gefallen lassen, trotz der unglaublichen Situation. Heller Zorn stieg in ihr auf. Nur zu gut erinnerte sie sich an sein unverschämtes Benehmen und starrte ihn verächtlich an. »Sie sind ohnmächtig geworden. Wie ein kleines Mädchen. Und ich wollte Ihnen nur helfen.«
Zu ihrer Verblüffung verzog sich sein Gesicht zu einem breiten Grinsen, und er begann zu lachen. Ein nettes Lachen, tief und aufrichtig. »Ah, das passt zusammen. Endlich hab ich was aus meiner Scheidung rausgeholt, was sich lohnt, nämlich das Vehikel, und der Allmächtige nimmt’s mir wieder weg. Offenbar mag er meine Ex lieber als mich.«
Er versuchte sich aufzusetzen, und Juliette half ihm unwillkürlich.
»Sie sehen genau so aus wie sie«, fügte er hinzu, »als sie ein junges Mädchen war.« Seufzend strich er sich über die Glatze und wischte die Regentropfen weg. »Für mich war sie zu gut. Das hätte sie wissen müssen. Und ich auch.« Er schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, dass ich so ein Arschloch bin.«
Juliette blinzelte wieder. Hatte er deshalb gehupt, bis sie ausgeflippt war? Wow, das muss eine grässliche Scheidung gewesen sein. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schmeckte den Regen. Was sollte sie dazu sagen? Obwohl sie vor Kälte zitterte, gelang es ihr zu lächeln. »Schon gut.«
Hilflos zuckte er die Achseln. »Sie sehen wirklich wie meine Ex aus – jetzt, da ich meine Brille nicht mehr habe und alles verschwimmt.« Er suchte den Boden ab, fand nichts und schien es aufzugeben. »Übrigens, ich bin Albert«, stellte er sich vor und streckte seine Hand aus.
Nach kurzem Zögern ergriff sie diese. Von einem schlaffen Händedruck hielt sie nichts, ganz egal, unter welchen Umständen. »Ich bin Juliette.« Dann musterte sie die Fahrzeuge ringsum. In der Ferne ertönten Sirenen, etwa zwanzig Autos weiter vorn stritten zwei Leute wegen eines verbeulten Kotflügels. Inzwischen hatten Mr. BMW und Juliette auch ein beachtliches Publikum angelockt.
»He, ist mit euch alles in Ordnung?« Zwei Jungs spähten um den Wagen hinter dem schwelenden BMW herum, ihre Sorge wirkte echt. »Braucht ihr einen Notarzt?«
»Da ist schon einer unterwegs, James«, sagte der andere.
»Hörst du’s nicht?«
Das Gespräch wurde fortgesetzt. Aber Juliette ignorierte die beiden und neigte sich näher zu Albert. »Können Sie aufstehen?«
»Ja, ich glaube schon. Ich dachte, der Blitz hätte mich erwischt.« Prüfend berührte er seine Arme und sein Gesicht. »War wohl ein Irrtum. Nicht mal meine Ohren dröhnen.«
Warum nicht, wusste Juliette. Während das Gewitter abzog und damit ihre Emotionen widerspiegelte, hämmerte diese Erkenntnis gegen die Tür ihres Bewusstseins und behauptete sich geradezu unverfroren. Der Blitz hatte Albert schwer verletzt. Daran war sie schuld, nicht irgendeine Naturgewalt. Und seine Genesung verdankte er ihr. So lautete die reine Wahrheit. Doch sie erwiderte nur: »Vielleicht mag der Allmächtige Ihre Ex gar nicht lieber.«
Albert quittierte ihr ironisches Lächeln mit einem schiefen Grinsen, und sie half ihm auf die Beine.
Zwanzig Minuten später traf die Polizei ein und scheuchte alle Leute in ihre Autos, natürlich abgesehen von Albert, der in einen Krankenwagen verfrachtet wurde, weil ihn ja in seinem Wagen der Blitz getroffen hatte.
Juliette sah ihn zum Abschied nicken und nickte zurück. Dann stieg sie, von der Polizei gedrängt, in ihren Mietwagen. Immer noch zitternd, schaute sie über das Lenkrad nach vorn – in leuchtend blaue Augen. Der Mann, dem sie das Geld gegeben hatte. Den hatte sie ganz vergessen. Wusste er, dass sie Albert geheilt hatte?
Mühsam schluckte sie, und er hielt die Münzen hoch, die er von ihr bekommen hatte. Er nickte, als wollte er ihr bedeuten: Ich verstehe. Und … danke. Nachdem er das Geld in den Hut zurückgeworfen hatte, ging er davon und verschwand hinter einem der Stützpfeiler …
Ein paar Minuten später setzte sich die Autoschlange wieder in Bewegung, und Juliette fuhr los. Es regnete nicht mehr. Zwischen grauen Wolken kam die Sonne hervor.
Und Juliette überlegte, ob sie an ihrem Verstand zweifeln musste. Nun gab es nichts mehr, das ihr gesichert erschien.
Daniel wusste, dass die Zeit drängte. Sein Plan hatte ihn aus dem Hauptquartier der Adarianer über den Atlantik und dorthin geführt, wo der zweite Sternenengel soeben gelandet war. Es war ein riskanter Plan, nicht leicht zu verwirklichen.
Aber sein Leben hing davon ab.
Denn Abraxos würde einen seiner Männer töten. Der große, attraktive adarianische General mit dem rabenschwarzen Haar und den blauen Augen war der erste Erzengel gewesen, der Kommandant des Adarianer-Heeres, das der Alte Mann vor Äonen aus seinem Reich verjagt hatte. Deshalb waren die Soldaten gezwungen gewesen, sich auf dem Abfallhaufen, den die Menschen Erde nannten, ein neues Leben aufzubauen.
Und jetzt, da der General von der Existenz der Sternenengel und ihrer Heilkunst wusste, hatte er einen schrecklichen Plan geschmiedet. Er wollte alle Sternenengel kidnappen und ermorden, damit er zusammen mit einigen auserkorenen Adarianern für den Rest seines ewigen Lebens die Heilkraft des Sternenengelblutes genießen konnte.
Nur wenige würden das Blut trinken. Und Daniel würde nicht zu ihnen gehören. Wäre er im Hauptquartier der Adarianer geblieben, hätte Kevin ihn bereits getötet. Denn dessen Meinung nach besaß Daniel nur ein einziges Talent – sich unsichtbar zu machen. Und das genügte offenbar nicht, um ihn am Leben zu lassen. Der General brauchte ein Versuchskaninchen. Für diese tödliche Aufgabe hatte er Daniel ausgesucht.
Doch er irrte sich – Daniel konnte außerdem in die Zukunft blicken. Diese zweite Fähigkeit hatte er stets verheimlicht, denn sie war nicht leicht zu nutzen, mochte sie auch noch so wertvoll sein. Wann immer er sie anwandte, litt er höllische Schmerzen, war geschwächt und erschöpft, und nicht einmal Morphium konnte diese übernatürlichen Qualen lindern.
Solange aber Abraxos nicht selbst leiden musste, hätte er Daniel rücksichtslos gezwungen, sein besonderes Talent zu nutzen, um Sternenengel oder andere übernatürliche Wesen aufzuspüren. Auch war es zweifellos überaus hilfreich, die nächsten Aktionen eines Gegners zu kennen, bevor der sie auch nur plante. Deshalb hatte Daniel seine prophetische Gabe dem General verschwiegen und nur zugegeben, er könne sich unsichtbar machen.
Vor einigen Tagen hatte er in die Zukunft geschaut. Weil er von bösen Ahnungen heimgesucht wurde, hatte er wissen wollen, warum. Und so hatte er beschlossen, die infernalischen Schmerzen zu erdulden, in der Überzeugung, die Hellseherei wäre notwendig. Und da hatte er etwas erblickt, was ihn ziemlich beunruhigte – der General wollte ihn töten, indem er sein ganzes Blut trank. Deutlich hatte Daniel die Szene vor sich gesehen und auch Kevins Beweggründe.
Ob Kevins Plan überhaupt sinnvoll war, war eine andere Frage. Daniels Ansicht nach würden die Adarianer niemals ihren Traum verwirklichen können, einen Sternenengel in ihre Gewalt zu bringen, geschweige denn alle. Mit diesem Vorhaben bewies der General lediglich seinen Wahnwitz. Doch darauf kam es nicht an. So oder so hätte er Daniel ermordet, ganz egal, ob die übrigen Ziele erreichbar waren oder nicht.
Ob er wohl nun einen anderen Adarianer ermorden würde, nachdem Daniel geflohen war? Vielleicht hatte er das schon getan, und der Soldat lebte nicht mehr. Wer mochte es gewesen sein? Hatte das Experiment geklappt? Besaß Abraxos jetzt die Kräfte dieses Adarianers?
Wenn ja – würde er sich weitere Fähigkeiten aneignen und einen Soldaten nach dem anderen töten? Wann würde er innehalten?
Wie Daniel wusste, war er als Versuchsobjekt ausgewählt worden, weil er außer der Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen, scheinbar nichts zu bieten hatte. Aber wenn er sein zweites Talent bewies, würde Abraxos vielleicht darauf verzichten, ihn umzubringen und sich seine Fähigkeiten anzueignen, weil er keine Schmerzen ertragen wollte. Stattdessen würde er Daniel weiterleben lassen, ihn leiden und sich die Zukunft weissagen lassen, wann immer es ihm beliebte.
Selbst wenn dies ein qualvolles Leben verhieß – Daniel fand es besser, dem Anführer mit der Hellseherei zu dienen, als den grausamen Tod hinzunehmen, den ihm jene beklemmende Zukunftsvision gezeigt hatte. Darin lag seine einzige Hoffnung. Denn niemals würde er die Adarianer ganz verlassen, niemals für immer aus ihrer Mitte verschwinden können. Weil er nirgendwo anders hingehörte. Die Adarianer waren das Einzige an Familie, was Daniel je gekannt hatte. Und ganz davon abgesehen – wo er auch sein mochte, der General würde ihn finden. Es gab kein Entrinnen.
Also musste Daniels Plan gelingen.
Dafür brauchte er Juliette Anderson, seinen Beweis. Neben der jetzt unantastbaren Eleanore Granger war Juliette der einzige Sternenengel, von dessen Existenz er wusste. Und er bezweifelte nicht, dass nur er allein sie ausfindig gemacht hatte. Sogar die vier Erzengelbrüder waren ahnungslos.
Wenn er schnell genug agierte, würde er alle Konkurrenten besiegen, mochten es Erzengel oder Adarianer sein. Er würde Juliette in seine Gewalt bringen und dem General beweisen, welch ein wertvolles Teammitglied er war.
Deshalb warf er jetzt in seinem Hotelzimmer in Schottland den Koffer, den er Juliette gestohlen hatte, auf das Bett und öffnete ihn. Es war geradezu lächerlich einfach gewesen, den Koffer auf dem Rollfeld des Flughafens vom Gepäckwagen zu nehmen … Glücklicherweise wurden auch alle Gegenstände unsichtbar, die er anfasste, sobald er sich unsichtbar machte. Was hatte Juliette gedacht, als ihr Gepäck nicht auf dem Förderband erschienen war? Nun musterte er ihr Eigentum. Zuerst fiel ihm ein Plüschelefant inmitten einiger Kleidungsstücke auf. Ziemlich abgenutzt. An manchen Stellen war die dunkelgraue Farbe verblasst. Ein Band, aus Samtresten genäht, umgab den Hals. Darauf stand Nessie.
Unwillkürlich grinste Daniel und ergriff das Plüschtier. »Nessie, wie?« Sicher würde Juliette den Elefanten vermissen, der eindeutig ein sehr persönliches Erinnerungsstück war, und Daniel fühlte sich schuldig wegen des Diebstahls. Doch nur flüchtig. Voller Neugier roch er an dem abgewetzten Stoff. Parmaveilchen, ein süßer, erstaunlich seltener Duft. Behutsam legte er den Elefanten auf die Steppdecke und inspizierte die anderen Sachen.
Ein paar Taschenbücher über Archäologie und Schottland, eines über Traumdeutung. Die Stirn gefurcht, wunderte er sich über das seltsame Thema. Dann warf er das Buch beiseite. Nachdem er eine Zeit lang reizvolle Dessous und ihre Kleidung durchwühlt hatte, fand er, was er suchte, und hielt es ins Licht – einen USB-Stick.
Grinsend steckte er ihn in seine Hosentasche, zog seine Belstaff-Jacke an und ging zur Tür. Zukunftsvisionen, die ein bestimmtes Individuum betrafen, ließen sich leichter heraufbeschwören, wenn man etwas besaß, was der Person gehörte.
Als er am Badezimmer vorbeikam, musterte er sich im Spiegel. Blond, eins neunzig groß, breitschultrig, mit markantem Kinn, eisgrünen Augen und Pupillen, die tintenschwarzen Teichen glichen. Daniel blieb stehen, lächelte sein Ebenbild an und bemerkte den grausamen Zug um seinen Mund. Millionen Mal hatte er sich betrachtet. Trotzdem interessierte ihn der Anblick immer wieder. Wenn man als kostbarste adarianische Gabe die der Unsichtbarkeit besaß, war es beruhigend zu wissen, dass man anschließend stets wieder auftauchte.
Daniel nahm den Fahrstuhl nach unten. Die Hotelhalle wirkte luxuriös, mit einem Marmorboden, Spiegeln in vergoldeten Rahmen und unzähligen Vasen voller echter Orchideen. Daniel ging an einigen Angestellten vorbei, nickte den Frauen zu, die ihn ungeniert begafften, und betrat den Raum, in dem mehrere Computer für die Gäste bereitstanden.
Glücklicherweise traf er dort niemand anderen an. Er setzte sich vor den Rechner, der am weitesten von der Tür entfernt war, und steckte den Stick in den Laufwerkschacht.
Immer breiter grinste er, während er die Dateien öffnete und studierte. Ein paar wissenschaftliche Abhandlungen, alte Artikel, sogar elektronische Bücher. Am meisten interessierte ihn die Datei Tagebuch ab 2000.
Bequem lehnte er sich zurück. Nun würde er nicht nur Informationen sammeln, sondern die Lektüre auch genießen.