11

Eine Zugfahrkarte von Ullapool nach Inverness zu lösen war einfacher, als sie vermutet hatte. Das musste man Schottland zugutehalten: fast alle Einheimischen waren freundlich und hilfsbereit. Auf dem Bahnhof hatten ihr einige Reisende die ganze Prozedur erklärt. Nun saß sie in einer Sitzreihe, unter ihrer Reisetasche, die sie rutschfest im Gepäcknetz verstaut hatte. In Inverness würde sie umsteigen und nach Glasgow weiterfahren, zu ihrem Treffen mit Lambent.

Um diese Tageszeit, am frühen Sonntagmorgen, herrschte kein allzu reger Reiseverkehr, und sie hatte den Wagen für sich allein. Sie fühlte sich wie Harry Potter, wenn die Servierwagen mit Tee, Suppe und Keksen vorbeikamen. Hier gab es keine Bertie Botts Every Flavour Beans, die Geleebonbons, die er so gern mochte. Aber wenn Juliette aus dem Fenster schaute und die Hügel betrachtete, konnte sie sich die Türme von Hogwarts unschwer vorstellen. Das lenkte sie von dem Angriff im Hotelzimmer, von ihren neu entdeckten Talenten und der beklemmenden Frage ab, was um alles in der Welt sie bedeuten mochten. Aber im Zug war ihr Gefühl eines schmerzlichen Verlustes und wehmütiger Erinnerungen stärker ausgeprägt als beim Autofahren. Vielleicht, weil sie jetzt untätig die Landschaft und die verfallenen Schlösser vorbeiziehen sah.

Reglos saß sie da, von Erinnerungen heimgesucht, die sie gar nicht hätte haben dürfen. Der Anblick einer alten Kirche jagte einen Schauer über ihren Körper. Über eine rot gestrichene Tür huschte ein Schatten und stimmte Juliette traurig. Ein Pfad führte in einen dunklen Wald und weckte in ihr den plötzlichen Wunsch, aus dem Zug zu springen und zwischen die hohen Bäume zu laufen. Beinahe empfand sie es als frustrierend, dass ihr dieses Land so beharrlich Erinnerungen suggerierte.

»Wie ich sehe, fühlst du dich unserem schönen Schottland verbunden«, erklang eine tiefe Stimme hinter ihr.

Nur ganz leicht zuckte sie zusammen, drehte sich um und starrte Gabriel Black an, den Mann, der sie im Pub geküsst, vor dem Fremden gerettet und bis vor wenigen Stunden im Gefängnis gesessen hatte. Er war ganz in Schwarz gekleidet. Sein welliges rabenschwarzes Haar hob sich kaum von dem Lederkragen seiner Jacke ab. In seinen silbernen Augen funkelten Geheimnisse.

Weil Juliettes Zunge an ihrem Gaumen klebte, brachte sie kein Wort hervor. Gabriels Duft wehte zu ihr, Sandelholz und Zedern und Kaminfeuerrauch, Bilder aus ihrem Traum erschienen in ihrer Fantasie. Völlig erschlafft lagen ihre Finger auf dem Tablett vor ihrem Sitz, unbewusst presste sie die Beine zusammen. Ihre Unterlippe begann zu zittern.

Schließlich stammelte sie: »B … Black.«

Gabriel lächelte, setzte sich ungebeten auf den Platz an ihrer Seite, und seine körperliche Nähe drohte ihre Sinne zu benebeln.

Hastig rutschte sie von ihm weg, bis ihr Ellbogen gegen die kalte Metallleiste unter dem Fenster stieß.

Sichtlich amüsiert, beobachtete Gabriel ihren Rückzug. »Wir müssen reden, Babe«, sagte er mit seinem melodischen schottischen Akzent.

»Wo … worüber?«, stotterte sie. Über den Kuss? Den Angriff in meinem Zimmer? Seine Verhaftung?

Gabriels Lächeln wurde breiter, sein Blick streifte ihren Mund, bevor er wieder in ihre Augen schaute. Dann griff er nach der Teetasse auf ihrem Tablett, nahm einen Schluck und stellte sie zurück. »Was für einen guten Geschmack du hast. Klar, du bist ja auch ein schottisches Mädchen.«

»Hör mal«, begann sie und fühlte sich dabei ein bisschen schwindlig, »ich bin dir dankbar, weil du mich vor dem Schurken in meinem Zimmer gerettet hast, aber …« Als er eine ihrer langen Locken nonchalant zwischen seinem Daumen und seinem Zeigefinger zwirbelte, vergaß sie, was sie sagen wollte. »Aber …« Von seiner Nähe abgelenkt, befeuchtete sie ihre Lippen. Die Luft ringsum schien zu knistern.

Irgendwo in der Ferne donnerte es, über dem Rattern des Zugs kaum vernehmlich. Den Kopf schräg gelegt, wartete Black, bis sie weitersprach.

»Aber ich kenne dich nicht, und du bist …« Sie verstummte wieder.

»Was bin ich, Juliette?«, fragte er leise.

Er kennt meinen Namen. Aus irgendeinem Grund überraschte sie das nicht. So unwirklich wirkte er, obwohl er direkt neben ihr saß und einer mächtigen Bronzestatue glich. Wie eine Heldengestalt kam er ihr vor, ein Traum. Du machst mir Angst.

Jetzt grollte der Donner in der Nähe des Zugs, über dem Rattern deutlicher zu hören. Unaufhaltsam zog das Gewitter heran. In Gabriels grauen Augen flackerte ein sonderbares Licht, und er neigte sich zu ihr. »Das solltest du unter Kontrolle bringen, Liebes.« Sein Lächeln nahm einen düsteren Ausdruck an. Als sie ihm auszuweichen versuchte, stieß ihr Kopf fast gegen die Fensterscheibe. »Es wird dich schwächen. Und wie willst du dich danach gegen mich wehren, Babe?«

Sie konnte kaum atmen und versuchte angestrengt zu begreifen, was er gesagt hatte, und zugleich ihre körperliche Reaktion auf seine Nähe in den Griff zu bekommen. Was sie von seinen Worten verstand, genügte vollauf, um gewaltige Adrenalinmengen durch ihre Adern zu jagen. »Was sollte ich unter Kontrolle bringen?«, wisperte sie.

»Das Gewitter, Juliette. So etwas gehört zu den Talenten eines Sternenengels, nicht wahr? Und weil das Unwetter so heftig tobt, nehme ich an, du hast diese Fähigkeit erst kürzlich entdeckt und zu selten erprobt.«

Eisiges Grauen kühlte die Hitze in ihrem Blut, die Gabriel entfacht hatte. Ihr Magen schien sich in Blei zu verwandeln. Schmerzhaft hämmerte ihr Herz gegen die Rippen. Also wusste er, dass sie das Wetter beeinflussen konnte. »Wovon redest du?«

Unentwegt lächelte er sie an. Seine Pupillen weiteten sich wie die eines Raubtiers, das seine Beute wählte. »Das weißt du genauso gut wie ich, Babe. Und ich weiß es, weil ich dich seit einer halben Ewigkeit gesucht habe. Keine Ahnung, wie viele Jahre.«

Ringsum verschwamm die Welt, alles bewegte sich im Zeitlupentempo, während Gabriel eine Hand hob und Juliettes Wange berührte. Sie fühlte sich gefangen und vereinnahmt und begehrt und geliebt und schöner denn je zuvor. Und ihr Körper reagierte, als würde sie ihn dringender brauchen als alles andere auf der Welt. Er umfasste ihre Hand so behutsam, als hielte er einen kostbaren, zerbrechlichen Schatz fest. In seinen Fingern spürte sie ein Zittern, obwohl seine Stimme so ruhig geklungen hatte, wie eine Antwort auf ihre chaotischen Herzschläge und das heftiger werdende Unwetter vor den Fenstern des Zugs.

Jetzt beugte er sich noch näher zu ihr. Die nächsten Worte flüsterte er an ihrem Mund. Sein Atem erinnerte sie an Minze und Parmaveilchen. Sie liebte Parmaveilchen. »Nur für mich wurdest du erschaffen, Juliette.« Besitzergreifend und zugleich verführerisch strich er über ihre volle Unterlippe. Das Silber seiner Augen verwandelte sich in Quecksilber und reflektierte die Blitze, die draußen aufflammten. »Wie könnte ich sonst so viel über dich wissen?«

Kopfschüttelnd erwiderte sie seinen eindringlichen Blick. »Das alles verstehe ich nicht.« Gar nichts konnte er wissen. Es war einfach verrückt. Mit ihren merkwürdigen Fähigkeiten musste sie selbst erst einmal zurechtkommen. »Bitte, geh weg.« Fast verzweifelt wünschte sie, er würde sie küssen oder verschwinden. Das eine oder das andere. Sonst würde sie die Besinnung verlieren.

»O nein, Liebes, das ist unmöglich, weil diese Männer hinter dir her sind. Der Kerl, der dich gestern überfiel, war nicht der Erste, der einen Sternenengel angegriffen hat. Und nicht der Letzte. Allein bist du nicht sicher. Deshalb muss ich dich beschützen.«

Juliettes Augen verengten sich. »Wie kann ich wissen, dass du den Angriff auf mich letzte Nacht nicht arrangiert hast? Manchmal arbeiten Schurken ja so zusammen. Einer spielt den Garstigen, der andere ›rettet‹ das Opfer.« Zähneknirschend versuchte sie an ihre eigenen Worte zu glauben, damit sie überzeugend klangen. »Ich bin nicht dumm.«

»Gewiss nicht, Schätzchen«, stimmte er zu. Nun glitzerte eine geheimnisvolle Heiterkeit in seinen Augen und machte ihn noch anziehender. Noch nie war sie so nahe daran gewesen, ihre Selbstbeherrschung in der Nähe eines Mannes zu verlieren, nur weil er gut aussah. Umwerfend. Himmlisch. Aber vielleicht war das alles ganz falsch. Denn seit sie ihn küssen wollte, schmerzte ihr Körper vor Sehnsucht an den peinlichsten Stellen.

Offenbar signalisierte Juliettes Verlangen dem Raubtier in seinem Innern ihre Kapitulation, denn seine Pupillen wurden riesig. Dieser Anblick lähmte sie geradezu. Ehe sie reagieren konnte, ging er zum Angriff über. Mit beiden Händen umfasste er ihr Gesicht, als beanspruchte er sie als sein Eigentum, und sein Mund streifte ihren.

O Gott, ja. Jetzt war sie verloren, es gab kein Zurück. Nichts in ihrem Dasein würde sich jemals so wunderbar anfühlen. Selbstvergessen senkte sie die Lider. Sie glaubte zu brennen, ihr Herz raste, ihr Körper schmolz dahin. Zwischen ihren Beinen sammelte sich lustvolle feuchte Hitze, sie bekam kaum noch Luft. Wie von selbst umklammerten ihre Hände das schwarze Leder seiner Jacke, ihre Finger krallten sich in das Material, als ginge es um ihr Leben.

So gut konnte er küssen. Alles machte er richtig. Er wusste sie zu umgarnen, ihren Mund zu öffnen. Mit diesem Kuss ergriff er von ihr Besitz, kostete sie und zerstörte ihre Schutzmauern, als wären sie aus Pappe.

Dann plötzlich erstarrte er. Sein Körper spannte sich an, er schlang seine Finger in ihr Haar. Langsam, ganz langsam rückte er von ihr weg.

Sobald seine Lippen ihren Mund verließen, spürte sie eine so eisige Leere, dass sie erschauerte. Die abrupte Trennung schmerzte geradezu qualvoll. Aber sie hatte sich sofort unter Kontrolle, ihre Hände lösten sich von seiner Jacke.

Sie öffnete die Augen, sah eine Veränderung in Gabriels Gesicht und erschrak. Noch immer verriet es heiße Leidenschaft. Aber in seinen schmalen Augen und den angespannten Kiefermuskeln las sie einen bedrohlichen Zorn und eiserne Entschlossenheit. »Rühr dich nicht von der Stelle, Babe«, sagte er. »Bleib hier, bis ich zurückkomme.«

Zu verblüfft, um zu antworten, starrte sie ihn schweigend an. Das hielt er offenbar für eine Zustimmung, denn er erhob sich geschmeidig. Sie richtete sich auf, und die Realität traf sie wie eine kalte Dusche. Juliette beobachtete, wie er sich umschaute. Endlich konnte sie wieder vernünftig denken. Er muss verrückt sein. Gefährlich. Das alles ist reiner Wahnsinn. Warum weiß er über mich Bescheid? Sobald er verschwunden ist, laufe ich weg.

Als hätte er erraten, was sie plante, beugte er sich zu ihr herab. »Damit das klar ist, Juliette. Ganz egal, wohin du gehst, ich finde dich überall. Falls du die Flucht ergreifst, wirst du nicht weit kommen.« Seine Augen schienen sie wie silberne Dolche zu durchbohren.

Mühsam schluckte sie. Ein paar Sekunden wartete er noch, bevor er durch den Mittelgang des Wagens, in dem niemand außer Juliette saß, davoneilte. Ehe er die Schiebetür öffnete, warf er ihr einen letzten warnenden Blick zu. Und dann sah sie ihn nicht mehr.

Wie er es verlangt hatte, blieb sie eine ganze Weile sitzen. Natürlich wollte sie ihm nicht gehorchen, aber sie konnte sich einfach nicht bewegen. Schon zweimal hatte er sie geküsst. Und diese Küsse waren absolut himmlisch gewesen. Kein anderer Mann würde sie je wieder so küssen.

Doch so wundervoll der Mann auch sein mochte, irgendwie hatte er herausgefunden, dass sie das Gewitter beeinflusste, das jetzt wilder denn je tobte. Außerdem hatte er etwas Seltsames behauptet: Sie sei ein Sternenengel. Und seit sie ihren Verdacht laut ausgesprochen hatte, fand sie es auch immer glaubhafter, dass Gabriel ein Komplize ihres blonden Angreifers war. Gemeinsam hatten die beiden sie kidnappen wollen. Deshalb war Black gerade rechtzeitig in ihrem Hotelzimmer aufgetaucht, um sie zu ›retten‹.

Juliette misstraute ihm. Nichts an ihm erschien ihr vertrauenswürdig. Weder sein großer, starker Körper noch die durchdringenden silbernen Augen noch das attraktive Gesicht, die tiefe Stimme mit dem wohlklingenden Akzent, die ihr die Knie weich werden ließ, seine geschmeidigen Bewegungen, der betörende Duft, die verdammten, überwältigenden Küsse.

Diesen Küssen traute sie am allerwenigsten.

Mit zitternden Fingern berührte sie ihre Unterlippe. »Ich muss hier weg«, wisperte sie.

Als hätte der Zug sie gehört und würde ihr seine Hilfe anbieten, verlangsamte er sein Tempo und fuhr in die nächste Station ein. Juliette spähte in den Mittelgang. An beiden Enden waren die Türen geschlossen. Nur hinter einer entdeckte sie eine Bewegung, verschwommen und undeutlich: Aus dem benachbarten Wagen stiegen Fahrgäste aus.

Ohne noch länger zu überlegen, stand sie auf, zerrte ihre Reisetasche aus dem Gepäcknetz und stürmte in die Richtung, die Gabriel nicht eingeschlagen hatte. Die Tür öffnete sich, Juliette lief hindurch und sprang auf den Bahnsteig hinab.

Bis sie feststellte, wo sie sich befand, dauerte es eine Weile. In Schottland gab es nur wenige größere Städte, und dies war gewiss keine. Eher ein Dorf. Muir of Ord las sie auf einem Schild. Okay. Wo immer das sein mochte.

Immerhin wusste sie, dass der Ort zwischen Ullapool und Inverness liegen musste, also im Hochland. Aus dieser Gegend stammten ihre Vorfahren mütterlicherseits, die MacDonalds.

Und was jetzt? Juliettes Gedanken überschlugen sich. Sie brauchte ein Auto, eine Landkarte, und sie musste sich möglichst schnell vom Zug und seinen Fenstern entfernen. Wie von selbst bewegten sich ihre Füße. Sie rannte um das rote Backsteingebäude des Bahnhofs herum. Später würde sie den Stationsvorsteher um Hilfe bitten. Aber jetzt würde sie sich erst einmal verstecken.

Dafür eignete sich die Damentoilette am besten. Dort wollte sie sich verbergen, bis der Zug weiterfuhr. Ein lausiger Plan. Aber leider fiel ihr kein anderer ein.

 

Wie Feuer brannte das Blut in Gabriels Adern. Noch nie hatten ihn solche Emotionen erfasst. Juliette brachte ihn völlig durcheinander. Während des atemberaubenden Kusses hatte er ihre Hingabe gespürt, und er wusste, er hätte sie gleich dort auf dem Sitz in dem Eisenbahnwagen nehmen können. Nicht, dass er es getan hätte. Oder vielleicht doch?

Aber dann hatte er etwas anderes gespürt. Eine Vibration in der Luft, eine Verdichtung der Atmosphäre, elektrisch geladen, negativ und falsch. Überall würde er dieses Flirren erkennen: Der Adarianer hielt sich in diesem Zug auf. Im selben Wagen wie Juliette. Unsichtbar lag er auf der Lauer, wie eine verborgene Schlange. Womöglich saß er ihr gar gegenüber und hatte sie schon die ganze Zeit beobachtet.

Gabriel fragte sich, warum ihm das nicht sofort aufgefallen war. Vermutlich, weil Juliette ihn unwiderstehlich in ihren Bann gezogen und alles andere aus seinem Bewusstsein verdrängt hatte. Oder der Adarianer konnte sich so gut verstecken, dass Gabe ihn erst entdeckt hatte, als der Feind in seine unmittelbare Nähe gelangt war. Plötzlich hatte er offenbar eine Bewegung wahrgenommen, einen Luftzug, als der Adarianer durch den Mittelgang an ihm vorbeiging.

Aber worauf hatte der Mann gewartet? Wahrscheinlich hatte er Juliette nicht direkt angegriffen, weil es schwierig gewesen wäre, eine bewusstlose Frau unbemerkt aus dem Zug zu schaffen. Dann war Gabe aufgetaucht und hatte den Plan des Adarianers durchkreuzt. Während Gabriel und Juliette sich geküsst hatten, hatte der Schurke den Wagen verlassen.

Jetzt verkroch er sich irgendwo. Und Juliette saß allein in ihrem Großraumwagen. Gabriel war kein Idiot. Natürlich würde sie flüchten. Sobald er ihr genug Zeit ließ, würde sie zur Besinnung kommen und verständlicherweise Furcht verspüren. Sie hatte keinen Grund, an die Lauterkeit seiner Absichten zu glauben. Zweifellos traf ihre Vermutung zu, gewisse Männer würden die Frauen mit dem Trick, dass einer auf sie losging und der andere sie ›rettete‹ herumkriegen. Michael hatte während seiner Polizeiarbeit in New York oft genug solche Vergewaltigungsszenarios mitbekommen und im Lauf der Jahre zahlreiche erstaunliche Geschichten erzählt.

O ja, die Männer konnten wahre Monstren sein. Und Juliette war nicht dumm. Also würde sie fliehen. Diesen Gedanken hatte er in ihren Augen gelesen, bevor er davongegangen war.

Doch wenigstens konnte sie aus dem fahrenden Zug nicht einfach verschwinden. So leichtsinnig, hinauszuspringen, war sie nicht. Und die Türen öffneten sich erst in den Stationen. Vorerst saß sie in diesem Eisenbahnwagen fest, und er hatte genug Zeit, um den Adarianer aufzuspüren.

Was ihn verwirrte, war die offenkundige Abwesenheit anderer Adarianer. Wo steckte der General? Warum zeigte sich Abraxos nicht? Verdammt, was ging da vor?

Gabe eilte durch die Mittelgänge und achtete auf die vertrauten negativen Vibrationen, die ihm die Nähe des Adarianers verraten würden. Erbost verfluchte er sein Pech. Nach gut zweitausend Jahren hatte er seinen Sternenengel endlich gefunden, aber sein Feind ebenso. Doch wenigstens musste er sich nicht mit Samael herumschlagen, so wie Uriel vor ein paar Monaten, um seinen Sternenengel zu erobern. Das war immerhin ein schwacher Trost.

Erst einmal würde er also den Adarianer unschädlich machen, und zwar für immer.

Während Gabriel so durch den Zug lief, ignorierte er die Blicke neugieriger Fahrgäste. Im letzten Wagen wuchs seine Sorge. Nirgendwo hatte er den Adarianer wahrgenommen. Keine Elektrizität, keine dichtere Atmosphäre. Nichts glich den Vibrationen in Juliettes Wagen. Wo trieb sich der Feind herum?

Und dann war da ein vager Gedanke in seinem Hinterkopf, und der Zug wurde langsamer.

Nein. Abrupt blieb Gabe stehen und schaute in die Richtung, aus der er gekommen war. Auf einem Display las er Muir of Ord, ein paar Leute ergriffen ihr Gepäck. Rücksichtslos drängte er sich im Mittelgang an ihnen vorbei. Alle Türen öffneten sich vor ihm, und er stürmte hindurch.

Als er Juliettes Großraumwagen erreichte, stand der Zug schon seit einigen Sekunden am Bahnsteig, und Gabriels Befürchtung bewahrheitete sich: Sie war verschwunden.