25

Gabriels Herz schmerzte. Auf seinen Armen wog Juliette fast nichts. Wie ein Kind. Was er beobachtet, was sie soeben getan hatte, um sie beide zu retten, konnte er kaum glauben. Welch eine ungeheure Macht sie besaß, hatte er nicht gewusst. Und der Steinkreis – Callanish, dachte er leicht benommen – würde nie mehr derselbe sein. Doch das spielte keine Rolle. Für ihn zählte nur die beängstigende Schwäche seiner Seelengefährtin.

»Michael!«, schrie er, als er durch das Portal stürmte.

Nun brauchte Juliette die Heilkunst des Kriegers, denn er spürte, wie ihre Lebensgeister ermatteten. Zu viel hatte sie sich zugemutet, und jetzt drohte ihr der Tod.

»Michael!«, schrie er noch einmal und unterdrückte ein Schluchzen. Dass es in seiner Kehle aufstieg, konnte er nicht verhindern. Hastig, die Zähne zusammengepresst, schloss er das Portal hinter sich. Im selben Moment rannte sein Bruder, der seine Polizeiuniform trug, zu ihm.

Außer Michael hielt sich nur Max im Wohnzimmer des Herrenhauses auf. Erschrocken erhob sich der Hüter hinter einem kleinen Tisch, auf dem ein Schachbrett und zwei Kaffeetassen standen.

»Gib sie mir!« Der blonde Erzengel nahm Juliettes reglose Gestalt aus Gabriels Armen, der sich mühsam beherrschen musste, um sie ihm nicht sofort wieder zu entreißen und an seine eigene Brust zu drücken.

»Was ist passiert?«, fragte Max.

Gabriel wollte antworten. Aber in seinen Lungen existierte kein Atem. Verzweifelt beobachtete er, wie Michael den bewusstlosen Sternenengel auf die Couch legte, neben ihr niederkniete. Seine Brust verengte sich qualvoll, und so dauerte es eine Weile, bis er hervorstieß: »Die Adarianer!«

Als die Splitterwaffe von Juliettes Bauch rutschte, fing Michael sie auf, warf sie Gabriel zu und konzentrierte sich sofort wieder auf den Sternenengel. Sichtlich besorgt, berührte er ihre Brust. »So sah Ellie auch aus.« Vor einigen Monaten hatte Eleanore mehreren schwer verletzten Leuten kurz hintereinander das Leben gerettet und sich danach in einem ähnlichen Zustand befunden. »Was zum Teufel hat sie gemacht?« Er senkte die Lider, seine Handfläche auf dem zarten kleinen Körper begann zu glühen.

Die Augen weit aufgerissen, schaute Gabriel ihm zu. Ein heftiges Zittern erfasste ihn, das sich wie eine schreckliche Krankheit anfühlte.

»Sicher wird sie genesen«, versuchte Michael ihn zu beruhigen. »Sie ist nur geschwächt. Wie Ellie damals.«

Max’ starke Hand legte sich auf Gabriels Schulter. »Erzähl mir, was geschehen ist.«

»Ganz plötzlich haben sie uns angegriffen, bei den Steinen von Callanish.« Gabriel ließ Juliette nicht aus den Augen. Jetzt sah er ihre Wimpern flattern. »Irgendwie wussten sie, wo sie uns finden würden.« Das verstand er noch immer nicht. Er hatte die Ankunft der Adarianer weder gespürt noch gehört. Woher nahmen sie ihre neue Fähigkeit, Sternenengel aufzuspüren und ohne Vorwarnung zu überfallen?

Schweigend stand Max hinter ihm. Nun öffneten sich Juliettes rosige Lippen. Leise stöhnte sie und atmete tief durch, Mike zog seine Hand zurück und setzte sich auf seine Fersen.

Als Juliette blinzelte, eilte Gabriel zu ihr und ergriff ihre schmalen Finger. »Oh, meine Süße, du bist wirklich ein Engel.« Da schenkte sie ihm ein scheues Lächeln.

»Wie viele waren es?«, fragte Max und nahm auf der anderen Seite des Couchtisches Platz.

»Drei.« Gabriel beobachtete, wie Juliette sich aufzurichten versuchte, drückte sie in die Polster zurück und musterte sie vorwurfsvoll. Sie errötete frustriert. Aber sie fügte sich in ihr Schicksal, und er schob ein Kissen unter ihren Kopf. Ihre braunen Locken hingen beinahe bis zum Boden hinab. »Drei«, wiederholte er. Voller Stolz betrachtete er seine Seelengefährtin. »Um uns zu retten, hat sie einen fünfzehn Tonnen schweren Stein bewegt. Ein Wunder hast du vollbracht, nicht wahr, Babe?«

»Ich habe Callanish zerstört«, entgegnete sie.

»Das bringen wir schon wieder in Ordnung«, versprach er mit gutem Grund. Zusammen mit seinen Brüdern und Max konnte er alles wieder richten, sogar eine uralte, heilige Gedenkstätte.

»Die Adarianer sind zu weit gegangen«, meinte Michael.

»Allerdings«, stimmte Max zu. »Nicht nur diesmal. Offenbar spitzt sich die Situation zu.«

Juliette wandte sich an Michael, der vom Boden aufgestanden war und jetzt auf dem Zweiersofa saß. »Danke für die Rettung. Eben ging es mir ziemlich mies.«

Lächelnd nickte er ihr zu. »Das kann ich mir vorstellen. War mir ein Vergnügen, Ihnen zu helfen.«

»Was genau ist passiert?«, beharrte Max. Mit den Informationen, die er bisher von Gabe erhalten hatte, begnügte er sich nicht.

»Das werde ich erzählen. Aber zuerst …« Gabriel sah sich um. »Wo sind die anderen?«

»Uriel hat einen Drehtermin«, erwiderte Max, »und Ellie ist bei ihm. Azrael schläft.«

Offensichtlich war das Herrenhaus im Moment auf die schottische Mittagszeit eingestellt, und der Vampir schlief in seinem Keller. Gabe nickte. »Okay, hol Uriel hierher, und sorg für eine dunkle Umgebung, damit wir Az wecken können. Ich habe wichtige Neuigkeiten.«

Dreißig Minuten später erschienen Uriel und Eleanore im Wohnzimmer.

Ellie setzte sich sofort zu Juliette auf die Couch, und die beiden Frauen sprachen leise miteinander. Unterdessen ließ Max die Nacht hereinbrechen. Vor einem der Fenster stand hell der Vollmond.

Auch Azrael gesellte sich zu ihnen. An eine Wand gelehnt, verschränkte er die Arme vor der breiten Brust und schlug die schwarz gestiefelten Beine übereinander. Unheimlich glühten die goldenen Augen in seinem schönen Engelsgesicht. Gabriel erwiderte seinen stechenden Blick und spürte beunruhigende Vibrationen, die der einstige Todesengel aussandte. Vermutlich war Az zu früh geweckt worden, und der Schlafmangel ärgerte ihn.

Gabe schloss die Jalousien und ergriff das Wort. »Welche Fortschritte hast du mit der Splitterwaffe gemacht, Max?«

Kopfschüttelnd nahm der Hüter seine Brille ab und putzte sie mit einem Ärmel seines braunen Anzugs. Er sah wie eine Mischung aus Bibliothekar und Geschäftsmann aus, wenn er nicht kämpfte. Auf Schlachtfeldern trug er Tarnkleidung und verlor regelmäßig seine Brille. »Keine. Dass du das wissen willst, wundert mich nicht. Von diesen verdammten Dingern wurdest du öfter getroffen als wir.«

»Wie oft?«, fragte Juliette.

»Dreizehn Mal«, antwortete Az, »inklusive der Geschosse in Slains Castle.«

Gabriel begegnete dem sorgenvollen Blick seines Sternenengels.

»Und diese Wunden tun schlimmer weh als sonst was«, ergänzte Uriel und schockierte Juliette damit noch heftiger.

»Halt den Mund«, befahl Gabe, was Uriel nicht beeindruckte.

»Die Heilung ist noch schmerzhafter.«

Klugerweise wechselte Max das Thema. »Keine Ahnung, wie diese Waffen funktionieren. Wenn man den Abzug betätigt, passiert nichts. Und wenn man das Schießeisen auseinandernimmt und wieder zusammensetzt, ist man auch nicht schlauer.«

»Um damit umzugehen, muss man ein Adarianer sein.« Gabriel warf Uriel einen letzten vernichtenden Blick zu und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Über das Problem hatte er gründlich nachgedacht. »Juliette hat vorhin erfolglos versucht, mit diesem Ding auf unsere Feinde zu schießen. In unseren Adern fließt kein adarianisches Blut, und ich wette, darin liegt das Geheimnis.«

Eine Zeit lang herrschte tiefes Schweigen im Zimmer, dann fragte Max: »War das alles, was du mit uns besprechen wolltest, Gabe?« Offenbar glaubte er, das rätselhafte Funktionieren der Splitterwaffe wäre an diesem Abend nur die Spitze eines Eisbergs.

»Nein.« Wie Tornados gingen Gabriel Juliettes Erzählungen von ihren früheren Leben durch den Kopf. Er musste seinen Brüdern mitteilen, dass die Lebenswege der Sternenengel untrennbar mit den einstigen Pflichten der Erzengel verbunden waren.

Davor schreckte er zurück. Aber sie mussten es erfahren. Er schaute Azrael an, der die Arme senkte und sich zu seiner vollen imposanten Größe von fast zwei Metern aufrichtete. Wie das orangerote Licht in seinen Augen verriet, las er bereits die Gedanken seines Bruders. Und er erkannte, was sie bedeuteten.

»Es geht um die Sternenengel«, sagte Gabriel. »Da gibt es etwas, was ihr alle wissen müsst.«

 

Samuel nickte dem blonden Schauspieler zu und ersparte ihm die Mühe, an die offene Bürotür zu klopfen. »Komm rein, Law.«

»Mein Herr und Meister.« Jetzt war Lawrence McNabb wieder einer der Gehilfen Samaels und nicht mehr der Schauspieler und Protegé, für den ihn die restliche Welt hielt.

»Schließ die Tür«, befahl Sam.

Law gehorchte und blieb vor dem Schreibtisch stehen.

Die Finger aneinandergelegt, lehnte Samael sich in seinem Sessel zurück. »Die Adarianer agieren ziemlich schnell.«

Zustimmend nickte Law. »Das habe ich gehört. Soll ich mich einmischen?«

»Ja.« Anmutig erhob sich Sam und trat an eines der großen Fenster hinter dem Tisch, die Hände in den Taschen seiner anthrazitfarbenen Anzughose. Soeben war die Sonne untergegangen, der See und die Skyline von Chicago lagen im trüben Licht der Abenddämmerung. »Hin und wieder legen uns die vier Lieblingserzengel Steine in den Weg«, fuhr er belustigt fort. »Trotzdem läuft im Großen und Ganzen alles nach Plan.«

»Aber?«

Samael lächelte. Wie gut McNabb stets voraussah, was auf ihn zukam. »Für meinen Geschmack war der letzte adarianische Angriff auf den Sternenengel zu gefährlich. Bald wird sich alles entscheiden, nichts darf meinen Plan vereiteln.« Langsam wanderte er um den großen Schreibtisch herum zu dem Marmorkamin, in dem helle Flammen tanzten, und stützte seinen rechten Arm auf das Sims. Im flackernden Feuerschein glänzte seine Armbanduhr. »Der Sternenengel ist sehr kostbar, Law.« Diese Worte sprach er mit einer Intensität aus, die er sich nicht ganz erklären konnte. »So wie die anderen drei.«

»Das verstehe ich«, beteuerte Law. »Und ich werde Juliette alles verschaffen, was sie zu ihrem Schutz braucht.«

»Tu das.« Sam starrte in die zuckenden Flammen, bevor er sich wieder an McNabb wandte. »Verdächtigt dich Uriel?«, wechselte er das Thema. Seit anderthalb Jahren standen Law und der Erzengel nun gemeinsam vor der Kamera. Bisher hatte der einstige Racheengel nicht erkennen lassen, dass er in McNabb mehr sah als einen Co-Star. Aber es würde nicht schaden, wenn man sich vergewisserte.

»Nein, mein Herr und Meister, Eure Magie ist ihm bisher entgangen.« Laws gewinnendes Lächeln, das leuchtend weiße Zähne enthüllte, hatte schon viele Frauen – und Männer – betört.

»Gut.« Das Letzte, was Sam gebraucht hätte, wäre eine Umbesetzung gewesen. Er war auch ein berühmter Medienmogul, und diese Position hatte er nicht mit Schlampereien erreicht. Sein Job bedeutete ihm sehr viel.

Zugleich waren andere Dinge noch wichtiger.