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Juliette wich auf dem mächtigen Himmelbett langsam zurück, denn noch immer wollte sie einesteils flüchten. Aber der Engel grinste dreist, kam wie ein großer Kater über sie, geschmeidig und gefährlich, und sie gelangte nicht weit.
Kraftvoll umfasste er ihre Handgelenke, ehe sie auch nur blinzeln konnte. Ihre Atemzüge beschleunigten sich, und sie starrte die starken Muskeln an seinen Armen und seiner Brust an. Dann schweifte ihr kühner Blick über seine glatte gebräunte Haut zu der Stelle, wo sein Körper in seiner aufgeknöpften Bluejeans verschwand.
Ihr Mund fühlte sich heiß und trocken an. Wie rasend schlug ihr Herz. Ihre Hände bebten unter seinen, die sie wie Schraubstöcke umschlossen. Ringsum ragten die Wände des Schlosses empor, am Rand ihres Blickfelds, kahl und doch schützend, uralt und neu zugleich. Zerbröckelnde Grundmauern, verhüllt von Erinnerungen an die Gobelins und Wandleuchter, die sie einst geschmückt hatten.
In dem gigantischen steinernen Kamin knisterten Flammen, die das Gemach des Herrschers wärmten, und von der See her strömte ein kalter Wind durch die leeren Fensteröffnungen herein und fegte durch den in Trümmern liegenden Raum.
Das Schloss war ein Skelett, ein Gespenst, bis auf die Knochen entblößt, umgeben von den Erinnerungen an seine Vergangenheit.
Der Engel jedoch war warm, kein Geist, sein Körper hart und beharrlich und sehr, sehr real. Jetzt senkte er den Kopf und betrachtete Juliettes schlanke Gestalt. Als er sich bewegte, sah sie wieder die großen schwarzsilbernen Flügel an seinem Rücken. Irisierend schimmerten die Federn in den Mondstrahlen, die durch die Fenster hereindrangen und den Schauplatz ihres heimlichen Liebesspiels erhellten.
So schön, dachte sie geistesabwesend.
Er begegnete ihrem Blick, und sie verlor sich im seltsamen Silberlicht seiner Augen. Sie glühen, dachte sie ehrfürchtig.
Mit diesem Blick fesselte er sie an das Bett, beanspruchte sie, nahm sie in Besitz. Kein Mann auf der Welt hatte sie jemals so angesehen wie dieser Engel.
Juliette spürte, wie sie errötete, wie ihre Wangen glühten, wie ihre Brüste anschwollen, wie der Stoff ihrer Bluse über die schmerzhaft verhärteten Brustwarzen rieb. Plötzlich fiel ihr das Atmen schwer. Sie wollte sich unter dem Engel aufbäumen, den Abstand zwischen den beiden Körpern überwinden und ihn berühren. Noch nie hatte sie sich etwas so brennend gewünscht.
Endlos lange starrte er sie an, beobachtete sie, prägte sich ihren Anblick ein, schien sie mit seinen Augen zu verschlingen. Ihre Brust verengte sich. Das ertrug sie nicht, seine absolute Kontrolle über ihren Körper. Zwischen ihren Schenkeln fühlte sie eine feuchte Wärme. Hatte er das mit seiner Willenskraft bewirkt? Leise lachte er, als würde er ihre Gedanken erraten. Wie eine Liebkosung glitt sein Gelächter über ihre Haut, tief und köstlich lasterhaft. Sie erschauerte, schloss die Augen und bekämpfte den Drang, sich unter ihm zu winden. Fast hielt sie es nicht mehr aus. Fast hätte sie ihn angefleht, sie zu nehmen.
Irgendetwas stimmt mit mir nicht, dachte sie. Das passte nicht zu ihr.
Niemals gab sie sich leichtfertig hin. Sie besaß normalerweise einen eisernen Willen. Was war geschehen? Wieso hatte sie diesen Engel in ihr Bett gelassen? War sie ihm nicht eben erst begegnet?
Nicht einmal seinen Namen kenne ich.
Als sie seine weichen Lippen wie Schmetterlingsflügel auf ihren spürte, riss sie die Augen auf. Da hob er herausfordernd den Kopf und musterte sie wieder mit seinem übermenschlichen Blick. Kein Wort sagte er. Aber ein fast grausames Lächeln entblößte seine ebenmäßigen, schneeweißen Zähne, erschien ihr raubtierhaft in seinem viel zu attraktiven Gesicht. Und dann umfasste er ihre Handgelenke mit nur einer Hand. Mit der anderen packte er ihre Bluse.
Der Stoff spannte sich, schabte über ihre empfindlichen Brustwarzen, und sie rang nach Luft. Langsam, beinahe bedrohlich, riss er die Knöpfe ab, einen nach dem anderen, und entblößte ihren Oberkörper.
Jetzt stöhnte sie. Der Wind wehte über ihre nackte Haut, leckte hungrig an den Spitzen ihrer Brüste, die sich noch schmerzhafter aufrichteten.
Er wird mich verschlingen, dachte sie, und es störte sie nicht.
Anmutig senkte er seine Flügel an den Seiten des Betts herab, so dass die schwarzsilbernen Federn sie vor dem Wind schützten. Dann neigte er sich zu ihr, und sie spürte seinen heißen Atem – im intensiven Kontrast zu der Kälte – auf ihrer rechten Brust. Sie spannte sich an, wehrte sich gegen den Griff, der ihre Handgelenke fesselte. Doch der Engel hielt sie mühelos fest, seine Zunge streifte ihre Brustwarze. Schreiend zuckte Juliette zusammen, und wieder glitt sein Gelächter über ihre Haut wie ein sanftes Donnergrollen.
»Bitte«, keuchte sie und wusste nicht einmal, worum sie flehte. Es war einfach zu viel. Zu sonderbar, zu perfekt. Engel durften Menschen nicht quälen, oder?
Und dann sank er auf sie herab, presste seine harte Brust an ihren Busen, und ihr stockte der Atem. Aber er lenkte sie ab, indem er mit seiner freien Hand die Volants ihres Minirocks an ihrem schlanken Schenkel hochschob. Voller Sehnsucht stöhnte sie wieder, als er ihre Hinterbacken streichelte. Sie trug keinen Slip …
An ihrem Ohr spürte sie seinen Atem, eine Gänsehaut am ganzen Körper. »Das tu ich doch gern«, flüsterte er, und seine Hand wanderte nach vorn.
»… klappen Sie die Tische zurück und stellen Sie die Rückenlehnen senkrecht …«
Als der Pilot die Landung ankündigte, schreckte Juliette aus ihrem Schlaf hoch. Der Mann an ihrer Seite warf ihr einen wissenden Blick zu. Zutiefst verlegen unterdrückte sie ein Seufzen und starrte aus dem Fenster. Ihr Spiegelbild starrte zurück – lange, dichte braune Locken, haselnussbraune Augen, in diesem Moment eher grün, gerötete Wangen und Lippen, Folgen ihres Traums.
Nicht zum ersten Mal hatte sie von verfallenen Schlössern und gespenstischen Gestalten geträumt. In manchen Nächten wanderte sie über einen uralten schottischen Friedhof, dessen Grabsteine unleserlich, windschief, zum Teil gar umgefallen waren und zugleich frisch errichtet und jüngst behauen. In anderen Nächten ging sie durch ein Schloss, so wie in diesem letzten Traum. Lauter Ruinen – und trotzdem sah sie, wie sie einst ausgesehen hatten, als hielten sich in ihr hartnäckige Erinnerungen an ihren längst verblassten Glanz.
Immer wieder geriet sie in solche Träume, die Vergangenheit und Gegenwart auf melancholische Weise vermischten. Das zählte zu den Gründen, die sie bewogen hatten, Anthropologie zu studieren. Geschichten aus der Vergangenheit faszinierten sie. Ja, sie schrien geradezu nach ihr.
Aber in diesem Traum war zum ersten Mal ein Mann erschienen. Ein Engel.
»Guten Tag, meine Damen und Herren, hier spricht Ihr Kapitän.« Erneut erwachte die Sprechanlage zum Leben, Störgeräusche durchbrachen die Worte, Musikfetzen aus diversen Filmen, die im Jet liefen. Juliette sah sich um und beobachtete, wie Passagiere zusammenzuckten und hastig ihre Kopfhörer abnahmen. »Unsere bisherige Flugzeit beträgt sechs Stunden und achtunddreißig Minuten. In dreiundzwanzig Minuten werden wir Edinburgh erreichen. Ein kühler Märztag, einundvierzig Grad Fahrenheit, vier Grad Celsius, Nordwestwind, fünfzehn Meilen pro Stunde …«
Juliette verdrängte die Stimme des Piloten aus ihrem Bewusstsein und betrachtete durch das Fenster die grünschwarze Landschaft. In letzter Zeit verreiste sie sehr oft. Während des Vorjahrs hatte sie in Australien dank eines Übersee-Forschungsprogramms studiert und Neuseeland besucht. Sie war zu beiden Küsten der USA geflogen. Jetzt würde sie mehrere Wochen in Schottland verbringen und an ihrer Dissertation arbeiten, finanziert durch ein Forschungsstipendium der Carnegie Mellon University in Pittsburgh.
Aus zwei Gründen war Schottland für sie etwas Besonderes. Zum einen hatte sie schon als kleines Mädchen hierherkommen wollen, denn ihre Eltern stammten aus Schottland. Ihre Mutter war eine MacDonald, ihr Vater ein Anderson, und so lag ihr Schottland gewissermaßen im Blut.
Der zweite Grund hing mit einer neuen Entwicklung zusammen. So oder so hatte sie ethnologische Studien auf den Äußeren Hebriden geplant, der Heimat ihrer Familie väterlicherseits, da hatte ihr Studienberater ihr erklärt, Samuel Lambent, der berühmte, reiche Medienmogul, würde ihr einen Deal anbieten. Er würde ihr ein beträchtliches Honorar und ihren verlängerten Aufenthalt zahlen, wenn er ihre Forschungsergebnisse für eine TV-Miniserie über die Legenden entlegener schottischer Gebiete verwenden dürfte.
Völlig verblüfft hatte Juliette nicht einmal gefragt, warum Lambents Wahl ausgerechnet auf sie gefallen war, obwohl sich Studenten in aller Welt mit Schottland befassten und einige sicher fundiertere Kenntnisse besaßen.
Nur zu gern nutzte sie diese einzigartige Chance. Aber natürlich stellte Lambent gewisse Bedingungen. Er brauchte Material, das er dem TV-Publikum ›verkaufen‹ konnte, und außerdem musste sie jede Woche einen seiner Leute treffen und ihn über ihre Fortschritte informieren.
Sie hatte das Gefühl, dies alles wäre ein Traum, zu fantastisch, um wahr zu sein. Allzu viel Geld hatte sie nie besessen. Ihre Eltern waren Professoren. Diesen Beruf strebte sie ebenfalls an. Doch die Fachgebiete der beiden gehörten zu den finanziell vernachlässigten im akademischen Spektrum. Und zudem besaß Juliette, was jeder Buchhalter als ›die ziemlich unangenehme Angewohnheit, ständig ihr Geld zu verschenken‹ bezeichnet hätte. Sie war einfach zu emotional, konnte niemanden leiden sehen, und wann immer sie das Los unglücklicher Menschen zu lindern vermochte, zögerte sie nicht.
Deshalb führte sie ein sehr bescheidenes Leben.
Aber nun konnte sie sich fast alles leisten, was sie wollte. Für eine Villa in Beverly Hills würde das Geld natürlich nicht reichen. Doch das interessierte sie auch gar nicht. Und falls die Fernsehserie erfolgreich wäre, würde diese Villa für sie ja eines Tages vielleicht sogar dennoch finanzierbar sein.
Ja, es glich wirklich einem Traum. Vor dem Angebot hatte sie an sich selbst und ihrem Verstand gezweifelt. Monatelang war sie fast mittellos gewesen, überarbeitet, hin- und hergerissen zwischen ihrer Dissertation und diversen Gelegenheitsjobs. Und einem Zusammenbruch nahe – wegen eines Ereignisses in Australien …
Allein an einem Strand, hatte sie ein paar kostbare erholsame Minuten genossen und das Meer beobachtet. Plötzlich hatte sie einen Surfer versinken und nicht mehr auftauchen sehen. Irgendwie war es ihr trotz ihrer zierlichen Figur gelungen, den bewusstlosen Mann an Land zu ziehen. Sie hatte seine Kopfverletzung entdeckt und erkannt, in welch bedenklichem Zustand er sich befand. Und dann hatte sie etwas Unbegreifliches getan: Sie hatte ihre Hand auf seine Brust gelegt und sich vorgestellt, sie würde ihn heilen.
Im Nachhinein hatte sie zu wissen geglaubt, was geschehen war. Sie hatte eine Halluzination gehabt. Das war die einzig logische Erklärung. Offenbar war zu viel auf sie eingestürmt – die Reise, der Studienstress, der verantwortungsvolle Job in dem örtlichen Kinderheim. Vermutlich hatte der Mann den Unfall nur überlebt, weil sie nach der imaginären ›Heilung‹ zum nächsten bewachten Strandabschnitt gelaufen war und die Rettungsschwimmer alarmiert hatte.
Tage- und nächtelang hatte sie an jene seltsamen surrealistischen Minuten gedacht und überlegt, was mit ihr passiert sein mochte. Welche Art von Zusammenbruch hatte die Illusion bewirken können, sie würde Heilkräfte besitzen? Sie hatte sogar erwogen, aus dem Forschungsprogramm auszusteigen, den Job im Kinderheim aufzugeben und ihren Eltern zu gestehen, dass sie das alles nicht mehr ertragen würde.
Und dann hatte Samuel Lambent, als Lebensretter und Schutzengel, ihr dieses fabelhafte Angebot gemacht. Als der Vertrag per FedEx eintraf, hatte sie ihn unterschrieben, ohne ihn genau zu lesen, und ihr Stresspegel war sofort gesunken. Eine schwere Last war ihr von der Seele genommen, und sie hätte diesen Mann am liebsten geküsst.
Sie konnte es kaum erwarten, ihre Forschungsarbeit zu beginnen. Für die Dauer ihrer Abwesenheit würde ihre beste Freundin Juliettes Mietwohnung in Pittsburgh beziehen und den Garten pflegen. Was Sophie ihrem eigenen winzigen Apartment zweifellos vorzog. Juliette, genannt Jules, wusste ihre gute Freundin zu schätzen. Auch Soph hatte es nicht leicht im Leben, hatte aber keine Sekunde gezögert und sofort ihre Hilfsbereitschaft bekundet. Sofern sie Jules um die wunderbare Forschungsreise beneidete, hatte sie es nicht gezeigt.
Lächelnd beschloss Juliette, in Edinburgh ein besonderes Geschenk für Sophie zu kaufen. Oder vielleicht in Glasgow. Sie freute sich nicht sonderlich darauf, ein Auto zu mieten und auf der falschen Straßenseite zu fahren. Aber alles andere in ihrem Leben erschien ihr derzeit geradezu perfekt.
O nein, nicht schon wieder. »Verdammt«, murmelte Gabriel. Unfassbar, dass es schon wieder so weit war. Dabei hielt er sich erst seit ein paar Monaten neuerlich hier in Rodel, in Schottland, auf.
»Holt die Nüsse!«, schrie jemand im Pub, und einige seiner Kumpel lachten. »Schürt das verflixte Feuer!«, rief ein anderer.
Gabriel fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und versuchte, angemessene Verlegenheit zu mimen. Aber es fiel ihm schwer, denn er war eher frustriert und wütend als verlegen. Dass es diesmal so weit kommen würde, hatte er wirklich nicht beabsichtigt. Zugegeben, früher war er durchaus stolz gewesen, wenn es dazu kam. Jetzt hingegen war es für ihn nur mehr eine ermüdende Prozedur, sinnlos und manchmal sogar schmerzhaft.
»Leider bist du zu weit gegangen, Black.« Stuart beugte sich über den Tisch und sprach leise, mit starkem Akzent, wie es normal war für jemanden, der sein ganzes Leben auf den Inseln verbracht hatte. »Nun hat Dougal dich aber am Wickel. Was los sein wird, falls die blöden Nüsse nicht gleichzeitig hochgehen, will ich mir gar nicht vorstellen.«
»Werden sie nicht, Stuart«, erwiderte Gabriel genauso leise. »Tun sie nie.«
Stuart Burns war über siebzig, ein harter Muskelprotz. Etwas anderes als Fischen hatte er nie getan, und das war auf den Äußeren Hebriden kein einfacher Job. Entweder brachte es einen Mann um, oder es machte ihn stärker. Für Stuart galt beides. Deshalb war Gabriel ihm begegnet. Bei einem Bootsunfall hatte er ihn aus der eisigen See gezogen. Damals war Stuart noch sehr jung gewesen. In jenen Wellen war seine weichere Seite gestorben und ein hartgesottener, strenger Charakter übrig geblieben. Aber er hatte sich stets als guter, verlässlicher Freund erwiesen – der einzige Mensch, der Gabriels Geheimnis kannte. In ganz Schottland wusste nur er, dass Gabriel Black nicht, wie alle anderen glaubten, Duncan Blacks Sohn war, sondern Duncan Black selbst. Weil jedes männliche Mitglied dieser Familie ein und derselbe war. Ja, im Grunde gab es weder Duncan Black noch Gabriel Black – sondern nur Gabriel, den mächtigen Erzengel, den Boten, einen der vier berühmten erhabenen Erzengel.
Im Lauf der Jahrhunderte hatte er viel Zeit in Schottland verbracht. Manche Epochen waren angenehm gewesen, andere weniger. Europa hatte die Inquisition, die Pest und zahllose Kriege durchlitten, der Teppich der schottischen Geschichte war aus Dornenfäden gewebt, und trotzdem liebte Gabriel sein schönes Kaledonien.
Da er nicht alterte, durfte er an keinem Ort je zu lange bleiben. Sonst hätten sich die Leute gefragt, warum ein Fünfzig- oder Sechzigjähriger immer noch wie ein Dreißigjähriger aussah. Bevor es dazu kam, zog er also jeweils anderswohin. Zwanzig oder dreißig Jahre später kehrte er dann nach Schottland zurück und gab sich als Sohn des Mannes aus, der er früher gewesen war.
Seine Erklärungen blieben stets die gleichen. Sein ›Vater‹ war mit einer Frau aus einem anderen Dorf durchgebrannt und er, Gabriel, das Resultat dieser Beziehung. So machte er es immer wieder, denn nichts konnte ihn allzu lange von Schottland fernhalten.
Diesmal hatte er der Rückkehr besonders ungeduldig entgegengefiebert. Denn neuerdings war das Leben in dem Herrenhaus in den Vereinigten Staaten, das er mit seinen drei Brüdern teilte, einfach zu unwirklich geworden. Vor Kurzem hatte Uriel seinen Sternenengel gefunden und mit ihr jenes wahre Glück, das die anderen Erzengel schon so lange ersehnten. Gut zweitausend Jahre lang hatte der einstige Racheengel den weiblichen Engel gesucht, der eigens für ihn vom Alten Mann erschaffen wurde. Und vor einigen Monaten war er der Frau endlich begegnet. Er war der erste der vier Brüder, der dieses Ziel erreicht hatte.
Doch nicht nur von den Erzengeln wurden die Sternenengel geschätzt, sondern auch von den Adarianern, einer älteren, furchterregenden und mächtigen Erzengelrasse. Wegen der ungewöhnlichen Heilkunst der Sternenengel wollten die Adarianer sie in ihre Gewalt bringen. Zur gleichen Zeit wie Uriel hatte auch der Anführer der Adarianer die schöne Eleanore aufgespürt. Nach einigen physischen und mentalen Kämpfen hatten die vier Erzengel mehr oder weniger gesiegt. Nun lebten Uriel und Eleanore glücklich verheiratet in den USA.
Gabriel freute sich für seinen Bruder. Und die Gewissheit, dass diese Zweisamkeit möglich war und die Sternenengel tatsächlich existierten, erfüllte ihn mit neuer Hoffnung, nachdem er seine eigene jahrhundertelange Suche nach seiner Seelengefährtin schon fast aufgegeben hatte.
Andererseits war es schwierig, Uriel und Eleanore vereint zu sehen, ohne sich zu fragen, ob er noch eine Woche würde warten müssen, bis sein Sternenengel endlich auftauchte, oder weitere zweitausend Jahre. Ob sich seine Brüder Michael, der Krieger, und Azrael, der Todesengel, das auch fragten?
Den Gedanken an lange Jahrhunderte in öder Einsamkeit ertrug er kaum. Und so war er nach Schottland zurückgekehrt und von seiner Heimat mit offenen Armen aufgenommen worden.
Jetzt unterdrückte er ein Stöhnen, als zwei große Haselnüsse aus der Küche des Pubs geholt wurden.
»Verdammt«, murmelte er.
Es war eine alte Tradition auf den Äußeren Hebriden, normalerweise nur während des Samhain-Festes gepflegt, das man anderswo Halloween nannte. Doch die Bevölkerung der Insel Harris war von diesem Termin schon öfter abgewichen, wegen eines gewissen Duncan Black, eines faszinierend schönen Mannes mit silbernen Augen und schwarzem Haar, der zu seiner Zeit ziemlich viele Haselnüsse gebraucht hatte.
Dieser Tradition gemäß mussten zwei Haselnüsse ins Feuer geworfen werden, eine für den Mann und eine für die Frau. Sobald sie sich erhitzten, sprangen sie hoch. Wenn sie gleichzeitig emporhüpften, durfte sich das Paar auf eine glückliche Zukunft freuen und heiratete in der Regel bald darauf. Wenn nicht, sollte es sich besser möglichst schnell trennen.
Zu Gabriels Leidwesen war der verstorbene Duncan Black sehr beliebt bei den jungen Frauen gewesen, um es milde auszudrücken. Doch keine von Duncans Nüssen war jemals gemeinsam mit einer anderen hochgesprungen. Und hätten sie es auch nur versucht, hätte er sie mittels seiner telekinetischen Begabung zurückgehalten. Natürlich hatte er die Bedürfnisse eines gesunden Mannes. Aber das Schicksal hatte keine der Frauen, mit denen er zusammen gewesen war, zu seiner Braut bestimmt.
Das wusste er besser als jeder sonst, zumal, seit Uriel seinen Sternenengel gefunden hatte.
Und so bedauerte er es zutiefst, dass er nun schon, nachdem er nur einige Monate wieder in seiner schottischen Heimat gewohnt hatte, in Duncan Blacks Fußstapfen steckte. Offenbar verstanden es die Blacks, die Frauen verrückt zu machen und in den Männern rasende Eifersucht zu wecken.
Aber diesmal fühlte Gabriel sich nicht mehr so schuldig wie früher. Dass Edeen Angus’ Schwester war, hatte er nicht gewusst, aber viele Geschichten über Angus Dougal gehört. In der ersten Nacht nach seiner Rückkehr auf die Insel Harris, als er den Vertrag für die Teilzeitarbeit auf Stuarts Boot unterzeichnet hatte, war Edeen zu ihm gekommen. Sie hatte erklärt, sie habe zwar Familie auf der Insel, sei jedoch ungebunden. Natürlich hatte er nicht Nein gesagt. Immerhin war sie eine Schönheit mit schulterlangem flachsblondem Haar und grünen Augen. Also hatte er getan, was jeder andere heißblütige Mann auch getan hätte, und deshalb plagten ihn keine Gewissensbisse.
Auf der anderen Seite des Pubs lachte Edeen, und Gabriel hörte den perlenden Klang. Sie saß mit zwei Freundinnen an einem runden Tisch beim Fenster. Als er den Kopf hob und ihrem Blick begegnete, zwinkerte sie ihm zu und lächelte kokett. Das tröstete ihn, denn es bedeutete, dass sie die Situation komisch fand und nicht ernst nahm.
Er nickte. Sehr gut. Nur ihr Bruder würde enttäuscht sein. Gabriel spähte zu ihm hinüber.
Und Angus schaute zurück, mit harten grünen Augen in einem Gesicht, das manche Frauen fast so attraktiv fanden wie Blacks Züge. Wie Gabe vermutete, hing das teilweise mit Angus’ Zorn zusammen. Und der rührte natürlich jetzt daher, dass seine Schwester mit Gabriel geschlafen hatte. Dies war eine tiefreligiöse, abergläubische Gemeinde. Im Allgemeinen hurten die Leute nicht herum, schon gar nicht mit der Schwester eines der gefährlichsten Männer im Dorf.
Angus war groß und so muskulös wie Stuart. Und er hatte ein Problem. Wenn die Haselnüsse nicht zusammen hochflogen, würde er versuchen, Gabe irgendwas zu beweisen.
Was kein gutes Ende nehmen würde. Denn auf der ganzen Erde gab es keinen einzigen Menschen, der Gabriel in einem Kampf besiegen konnte. Und einen Schotten zu verletzen, war das Letzte, was der Erzengel wollte, nur vier Monate nach seiner Rückkehr auf die Insel, zumal dieser Schotte zufällig ein Polizist war.
»Bring mich hier raus«, flüsterte er Stuart zu. Sein schottischer Akzent unterschied sich kaum von dem seines Freundes.
Als Stuart lachte, klang es wie das Rascheln welker Herbstblätter, von einem Windstoß durcheinandergewirbelt. »Da hast du dich selber reingeritten, Black. Sieh allein zu, wie du rauskommst.«
Gabriel warf ihm einen kurzen Blick zu und holte tief Luft. Dann beschloss er, aufzustehen und zu verkünden, er würde die Haselnüsse nicht so benutzen, wie es sein Vater, sein Großvater und sein Urgroßvater getan hatten. Doch in diesem Moment sprang Edeen auf, hob eine Hand, und das Stimmengewirr verstummte.
»Hört mir zu!« Sie stieg auf ihren Stuhl. »Ihr alle hattet euren Spaß!« Ihre Hände in die Hüften gestemmt, starrte sie die Männer der Reihe nach an. »Jetzt reicht’s! Das ist eine Samhain-Tradition, keine März-Tradition. Und ich lasse mich nicht von euch zwingen, jemanden zu heiraten, nur weil’s zwei verdammte Nüsse so wollen!«
Lautes Gelächter erfüllte das ganze Pub. Teilweise klang es nervös, denn auf den Äußeren Hebriden pflegten die Frauen nicht zu fluchen. Aber Edeen Dougal hatte einen gewissen Status erworben, und so wurde es akzeptiert.
Angus Dougal bahnte sich einen Weg durch die Menge und blieb vor ihr stehen. Immer noch auf dem Stuhl stehend, überragte sie ihren Bruder um Haupteslänge. Herausfordernd musterte sie ihn.
»Steig da runter und misch dich nicht ein …«, begann er.
»Ach, halt den Mund, du bist nicht mein Dad«, unterbrach sie ihn verächtlich und verdrehte die Augen. »Hau bloß ab!« Sie sprang vom Stuhl herunter, schlenderte zur Tür und warf ihr blondes Haar über die Schulter zurück. »Bei diesem Unsinn mach ich nicht mit.« An die Allgemeinheit gewandt, fügte sie hinzu: »Findet ihr nicht, dass ihr alle ein bisschen kindisch seid?«
Ihre Freundinnen folgten ihr. Die eine zog sich noch ihre Jacke über, die andere rückte den Riemen ihrer Handtasche zurecht. Belustigt und leicht verlegen seufzten sie beide. An Edeens Eigenwilligkeit waren sie längst gewöhnt.
Zum Abschied nickte sie dem Barkeeper zu, der wissend lächelte. Und dann verschwand Edeen Dougal mit ihren Begleiterinnen.
Vor lauter Erleichterung hätte Gabriel fast geweint.
»Nun bist du gerettet, Black.« Stuart lachte wieder und schüttelte den Kopf. »Und das von einem Mädchen!«
»Aye.« Gabriel hob sein Glas, ein schiefes Grinsen auf seinem attraktiven Gesicht. »Möge der Allmächtige die Frauen segnen …«