31
Kevin spürte, wie seine Männer ins derzeitige Quartier zurückkehrten. In der Luft lagen Schwingungen, die ihm verrieten, dass sie nicht mehr in Gefahr schwebten. Vor langer Zeit hatte er seine Fähigkeit erkannt, die anderen zu einem gewissen Zeitpunkt an einen bestimmten Ort zu beordern.
Meist hielten sich die Adarianer aus den Angelegenheiten der Menschen heraus. Mit der Welt der Sterblichen hatten ihre Schlachten nichts zu tun. Trotzdem kam es manchmal zu ungeplanten Kämpfen, nicht zuletzt, weil die Adarianer nicht als einzige übernatürliche Kreaturen auf dem dritten Sonnenplaneten lebten. Nur selten gingen solche Scharmützel schief. Wenn es doch einmal passierte, funktionierte Kevins Rückrufmethode. Bedauerlicherweise nur dann oder wenn das Ziel das Kampfs erreicht war. Wäre er imstande gewesen, seine Leute jederzeit zusammenzutrommeln, hätte er Daniel schon vor Tagen in die Finger gekriegt.
Also begann die Rückrufaktion, wenn die Adarianer geschlagen waren oder sie erreicht hatten, was sie wollten. Dann verschwand einer nach dem anderen und tauchte an einem zuvor vereinbarten Ort auf. In diesem Fall war es ein unterirdisches Quartier, durch die Klippe erreichbar, auf der Juliette jetzt stand. Solche Bunker gab es auf dem ganzen Planeten, von den Adarianern im Lauf mehrerer Jahrtausende errichtet und instand gehalten.
Kevin eilte durch die gewundenen Korridore des Höhlenlabyrinths, bis er die Stimmen seiner Männer hörte. Am Eingang zum Bunker verwandelte er sich in einen wirbelnden blauen Nebel und wehte durch die Ritze unter der Metalltür. Auf der anderen Seite verdichtete sich die blaue Wolke zur vertrauten hochgewachsenen Gestalt des Anführers.
»General«, grüßte einer der Soldaten. Seine Stimme klang gepresst vor Schmerzen. Vor mühsam gezügelter Wut biss er die Zähne zusammen. Kevin ließ seinen Blick über die kleine Schar schweifen. Obwohl Ely verwundet war und blutete, stand er stolz und hoch aufgerichtet da wie eh und je. Mitchell war unverletzt. Dieses Glück hatte er in jeder Schlacht, weil er enorme Kräfte besaß und die Gegner ihm lieber aus dem Weg gingen. In einem ähnlichen Zustand wie Ely, sah Luke etwas mitgenommen aus, aber halbwegs gesund.
Alle sieben Mitglieder der Gruppe, zu der einst elf Adarianer gezählt hatten, waren mehr oder weniger lädiert. Kevins Vampir-Gehör vernahm ihre Herzschläge.
Bis auf einen machten alle einen stabilen Eindruck. Der General ging zu dem braunhaarigen Mann, der auf einem blutgetränkten Feldbett lag, das attraktive Gesicht aschfahl. Wie Kevin wusste, verströmten die blaugrünen Augen hinter den geschlossenen Lidern ein helles Licht, auch wenn sie nicht glühten. Paul konnte wie ein Sternenengel elektrische Kraftfelder kontrollieren und sogar Blitze vom Himmel holen, um seine Feinde zu treffen.
»Goldkugeln, Sir«, erklärte einer der Männer, während der General den schwer verletzten Soldaten musterte. In Pauls Brust klafften drei Löcher. Anscheinend hatten die Erzengel zu kämpfen gelernt. Fast zu spät, überlegte Kevin. Auf ihn selbst, einen frisch gebackenen Vampir, übte das Gold nicht mehr diese Wirkung aus. Bald würden alle seine Erwählten diese Immunität besitzen.
Aber vorerst waren sie dem Metall hilflos ausgeliefert. Und einer würde daran sterben. Aus diesem Grund war Kevin hierhergekommen und hatte Juliette Anderson auf der Klippe allein zurückgelassen. Er hatte geahnt, dass mindestens einer seiner Männer würde geheilt werden müssen. Und er war nicht sicher, ob der Machttransfer von einem Sternenengel auf einen Adarianer klappen würde. Deshalb sollten sich alle seine Leute in stabilem Zustand befinden, bevor er Mitchell auf die Frau losließ.
Mit einer knappen Geste öffnete er die Schlösser der Metalltür, und sie sprang auf. Feuchte, salzige Luft und Mondschein strömten in den Bunker. Da Pauls Lebenskräfte zusehends schwanden, verlor Kevin keine Zeit. Wie ein blauer Komet raste er durch die unterirdischen Gänge und durch die Öffnung der Klippe zum dunklen Himmel empor. Der Windstoß, den er erzeugte, wehte Juliette das Haar in die Augen.
Zusammengesunken, ihre Knie an die Brust gezogen, saß sie auf einem Felsbrocken. Kevin landete und ging zu ihr, seine Stiefel knirschten auf den Steinen. Da nahm sie die schützenden Hände von ihrem Gesicht. Als er vor ihr auf ein Knie sank, um ihr auf Augenhöhe zu begegnen, zuckte sie zurück.
»Nun müssen Sie etwas für mich tun, Juliette«, verkündete er und versuchte sie auf vampirtypische Weise mental zu beeinflussen.
Herausfordernd starrte sie ihn an. Aus ihrer ganzen Haltung sprach eisige Abwehr. Er war beeindruckt. Jeden Menschen auf Erden würde allein schon seine Anwesenheit hypnotisieren. Aber Juliette war ein Sternenengel, und noch dazu ein ziemlich wütender. Sie glaubte, sie hätte nichts zu verlieren. Und so sah sie keinen Grund, ihm zu gehorchen.
Doch dies war nicht der rechte Zeitpunkt, um ihr das durchgehen zu lassen. »Wenn Sie sich weigern, räche ich mich an Ihrer Familie«, teilte er ihr in ruhigem Ton mit, und sie wollte sich abwenden, den Blickkontakt beenden. Gnadenlos umfasste er ihr Kinn und zwang sie, ihn wieder anzuschauen. »Danach nehme ich mir Ihre Freunde vor. Und sobald ich mit Ihrem Freundeskreis fertig bin, suche ich mir zehn Kinder aus und töte eines nach dem anderen in Ihrem Namen.«
Endlich sah er Angst in ihren Augen flackern. In seinem Griff fühlte sie sich gut an, und das erinnerte ihn an ihre Vollkommenheit. Kein Wunder. Ein Sternenengel! Kein perfekteres weibliches Wesen war jemals erschaffen worden. Diese weiche, warme Haut. Und wie zauberhaft sie erbebte. Widerstrebend biss sie ihre ebenmäßigen weißen Zähne zusammen. Ihre braunen Augen glitzerten grün vor Zorn. Von wachsendem Verlangen erfüllt, starrte er sie an, hörte ihren Atem stoßweise gehen, roch das Adrenalin in ihrem magischen Blut. Seine Reißzähne begannen zu schmerzen.
Irgendwo in der Nähe tauchte ein Blitz in die See, Donnerschläge krachten. Kevin ließ Juliettes Kinn los und packte ihren Hals, fest genug, um ihr seinen Standpunkt klarzumachen. »Lassen Sie den Unsinn!«, mahnte er. Natürlich wusste er, dass sie das Gewitter entfesselt hatte. »Wenn Sie auch nur einen elektrischen Funken in meine Männer jagen, werden diese Kinder dafür büßen, das schwöre ich. Haben Sie das verstanden?«
Sie nickte. Welch eine Wonne, diese schmerzliche Miene!
»Gut.« Er stand auf und zog sie hoch, die Finger immer noch um ihre Kehle geschlossen. Gequält rang sie nach Luft, umfasste instinktiv sein Handgelenk.
Da sah er etwas Goldenes schimmern, und seine Augen wurden schmal. Ein Armband, mit eingravierten Schriftzügen, die ihm bekannt erschienen, in einer alten Sprache. Aber dafür hatte er jetzt keine Zeit.
Er umschlang Juliette, ohne ihren Hals loszulassen, flog mit ihr vom Klippenrand hinab und in die unterirdischen Gänge, genoss den würgenden Atem seiner Gefangenen, die hämmernden Herzschläge. Und dann passierte er die Metalltür. Schwungvoll landete er inmitten seiner Männer und stellte Juliette auf die Füße, ergriff ihre Schulter und half ihr, das Gleichgewicht wiederzufinden.
Prompt riss sie sich los und sah sich von Adarianern umringt. Die sechs, die stehen konnten, erhoben sich langsam und musterten die vielversprechende junge Frau. Was sie empfanden, las Kevin in ihren Gesichtern: Zorn, Schmerzen, wilden Durst nach Rache und etwas anderem.
Juliette drehte sich um ihre eigene Achse. Zweifellos glaubte sie sich von Haifischen umzingelt. Solange sie sich an seine Drohungen erinnerte, war sie machtlos. Das ahnten seine Männer, wie ihre erwartungsvollen Augen verrieten. Auch sie sah es. Unwillkürlich trat sie näher zu Kevin. Ihr Puls raste. Würde ihr kleines Herz der Panik standhalten?
Um die Situation auszunutzen, neigte er sich zu ihrem Ohr hinab und flüsterte: »Heilen Sie ihn, meine Kleine.« Er zeigte auf Pauls verkrümmte Gestalt. Dann umklammerte er wieder Juliettes Kehle. »Ich sage es nur einmal«, betonte er und ließ sie los.
Zaudernd wankte sie zu dem Feldbett, auf dem Paul lag. Kevin beobachtete sie aufmerksam. Falls sie irgendetwas Gefährliches unternahm, würde er sofort eingreifen. Um ihr Platz zu machen, traten die Adarianer beiseite. Aber die glühenden Blicke folgten ihr wie die Wolfsaugen dem kleinen Rotkäppchen.
Juliette kniete neben Paul nieder, drückte ihre Finger an seinen Hals und suchte den Puls.
»Noch lebt er«, erläuterte Kevin, um ihr die Mühe zu ersparen. »Mit knapper Not.«
Sie nickte und berührte Pauls Brust. Während mehrere Sekunden verstrichen, geschah nichts. Kevin hörte, wie Juliettes Herzschlag sich erneut beschleunigte, sank neben ihr auf ein Knie und legte seine Hand auf ihre. Nichts. Er spürte keine Wärme. Keine Heilkraft.
Von wildem Zorn getrieben, sprang er auf und zerrte Juliette an den Haaren hoch. Gepeinigt stöhnte sie. Er zog sie näher zu sich heran und hielt sie unbarmherzig fest. »Was haben Sie getan?«, zischte er.
Juliette antwortete nicht. Ihre Augen loderten smaragdgrün. Provozierend starrte sie ihn an. Als er sie mit seiner freien Hand wieder am Hals packte, schlossen sich ihre Finger um seinen Unterarm, und sein Blick fiel auf das goldene Schmuckstück. Jetzt schien es heller zu schimmern.
In Juliettes Gedanken fand er die Antwort. Die konnte sie ihm nicht verhehlen. Mit gefletschten Zähnen drückte er ihr die Kehle noch fester zu. Mit der anderen Hand ließ er ihr Haar los und riss an dem goldenen Armband. Bei der Berührung erwärmte sich das Metall. Aber es brannte nicht, und er spürte die Verblüffung seiner Soldaten.
Felsenfest umgab das Gold Juliettes Handgelenk, obwohl Kevin immer heftiger daran zerrte und es ihr ins Fleisch schnitt. So kam er nicht weiter. Um den Sternenengel nicht sofort zu töten, musste er seine Kraft und seine Wut mühsam bändigen. »Nehmen Sie das Ding ab!«, befahl er mit gleißenden Reißzähnen.
»Beißen Sie mich doch!«, fauchte Juliette.
»Mit Vergnügen!« Erneut krallte er seine Finger in ihre Locken, bog ihren Kopf zurück und betrachtete ihren schlanken Hals. Wie er in den letzten paar Nächten herausgefunden hatte, konnte ein Vampir sein Opfer auf zweierlei Arten beißen. Entweder hackte er seine Reißzähne einfach wie zwei Zinken einer Mistgabel seitlich in den Hals der Person, was ihr grausige Schmerzen bereitete. Oder er überflutete sie mit einem wilden Entzücken, das die Qualen vertrieb.
Jetzt war er nicht in Geberlaune. Als er seine Reißzähne in den Hals des Sternenengels grub, nahm er Zweierlei wahr: Erstens Juliettes Schmerzen, die ihr einen gellenden Schrei entlockten und ihre Knie einknicken ließen. Und zweitens die Ekstase, die ihm das zarte Fleisch zwischen seinen Zähnen und der Geschmack des Blutes auf seiner Zunge schenkten. Hingerissen presste er die schlaffe Gestalt seines Opfers an seine Brust, und heiße Lust breitete sich in seinem ganzen Körper aus.
Erst als er ein drittes oder viertes Mal schluckte, merkte er, dass etwas fehlte. Gewiss, es war das süßeste Blut, das er je gekostet hatte. Aber nur Blut. Keine Magie.
Mit aller Kraft konzentrierte er sich. Irgendwie musste er Juliettes Macht zwingen, ihren Körper zu verlassen und in seinen zu dringen. Vergeblich. Nichts geschah, der Sternenengel in seinen Armen wurde immer schwächer. Verwirrt spürte er Juliettes Herz flattern, hörte sie in hilfloser Qual stöhnen. Was stimmte da nicht? Ich töte sie. Doch es ist sinnlos. Offenbar hielt das Armband die Magie in ihr fest und hinderte ihn daran, sich die ersehnten Fähigkeiten anzueignen.
In Anbetracht dieser bitteren Erkenntnis zügelte er sein Verlangen. Er zog seine Reißzähne aus Juliettes Hals und starrte zwei tiefe dunkelrote Löcher an, aus denen das kostbare Sternenengelblut sickerte. »Nimm sie«, befahl er Mitchell, dem dunkelhaarigen Adarianer, dem er sie versprochen hatte.
Mitchell empfing sie aus den Armen des Generals, ehe dieser neben Paul niederkniete. Kevins Magen krampfte sich zusammen, sein Herz tat weh. Zu viele hatte er in letzter Zeit verloren, einen eigenhändig getötet, und seine Welt wurde kleiner.
Jetzt war der Herzschlag des Schwerverletzten kaum noch zu spüren, der Tod unaufhaltsam. Wenn Kevin zögerte, würde er alles, was diesen Adarianer ausmachte, verlieren. Und so neigte er sich zu seinem Soldaten hinab und flüsterte ihm ins Ohr: »Vergib mir.« Dann drehte er Pauls Kopf zur Seite, und seine Reißzähne versanken im Hals des Sterbenden.
Ringsum schwiegen die Adarianer, als würden sie alles verstehen. Oder vielleicht waren sie zu schockiert, zu verängstigt, um zu protestieren. Was immer der Grund sein mochte, der Raum verwandelte sich in eine Leichenhalle, während der General Pauls Blut trank und dadurch dessen Fähigkeiten absorbierte.
Nach dreißig Sekunden war es vorbei. Pauls Herz pochte nicht mehr, sein Leben war beendet. Kevin entfernte seine Zähne aus dem Hals des Soldaten, stand auf und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. Schon jetzt spürte er die neue Magie, einsatzbereit. Er sah zu Juliette, die in Mitchells Armen lag, die Augen halb geschlossen, schwach, aber bei Bewusstsein.
Wachsam, wenn auch hoffnungslos, beobachtete sie ihn. Wie ein Wolf nach erfolgreicher Jagd ging er zu ihr. »Wie kann ich mir das Armband aneignen?« Mit seiner ganzen Macht bedrängte er sie, denn er musste die Wahrheit erfahren. Sofort.
Unter seinen Worten erschauerte sie und stöhnte, da seine Magie aphrodisierend auf ihren Körper wirkte. Wissend schaute Mitchell auf sie hinab. Dann fixierten seine glitzernden schwarzen Augen den General.
Kevin strich Juliette das Haar aus dem Gesicht und wartete, bis sie die Lippen öffnete. Ihrer gequälten Kehle entrang sich nur ein heiseres Wispern: »Ich kann es abnehmen.«
»Ja, das stimmt«, erklärte Mitchell, der in ihr Gehirn eingedrungen war. Diese Bestätigung benötigte Kevin nicht. Die Gabe, Gedanken zu lesen, war Vampiren zu eigen, und seine Verwandlung in einen Untoten war vollendet.
Anscheinend konnte nur die Person das Armband abnehmen, die es angelegt hatte. Zuvor hatte Juliette es abgelehnt, das zu tun, und es hatte Paul das Leben gekostet. Wenn sie bei ihrer Weigerung blieb, würde es Mitchell um die Gabe der Heilkunst bringen.
Kevin merkte, wie sich die Fähigkeiten, die er Paul gestohlen hatte, zu allen anderen gesellte, die seinem Körper bereits innewohnten, und er fühlte sich so stark wie nie zuvor. »Nehmen Sie es ab, Juliette!«
Hinter ihr schüttelte Mitchell das Haupt, als wollte er einen klaren Kopf bekommen, und schwankte. Kevin hielt ihn fest. Lächelnd beobachtete er, wie Juliette blinzelte und nach dem Armband tastete.
Doch noch bevor ihre Finger das Gold umschlossen, versank der Bunker im Chaos. Die schwere Metalltür wurde aus den Angeln gerissen und schleuderte mehrere Adarianer gegen die nächste Wand. Die Höhlenwände bebten. Bedrohlich flackerten die Lampen und erloschen.