20

 

Mit grauen, geronnenen Gedanken im Kopf fuhr Farber mit der Zahnradbahn hinauf in die Altstadt zurück. Er sah über das pastellfarbene Dächermeer und beobachtete, wie es hinter ihm zurückfiel, als die Bahn höherstieg, und dabei dachte er: Ich werde es nicht zulassen. Er wiederholte den Gedanken in lauten Worten, aber die mitfahrenden Cian waren zu höflich, ihn deshalb anzustarren. Vielleicht rückten sie fast unmerklich ein wenig von ihm ab, vielleicht nicht einmal das. Farber nahm sie auch gar nicht wahr. »Sie ist nicht daran schuld«, erklärte er der Luft. »Sie wußte es einfach nicht besser.« Die Bahn war fast oben, und er spürte, wie sich sein Magen und seine Muskeln zusammenzogen, als bereite er sich unbewußt auf einen Kampf vor. Die Gondel kreischte, als sie in die Bergstation einschwang und über dem Bahnsteig auslief, helle Rechtecke aus Licht und Schatten huschten über die Fenster, die Wände vibrierten. Er preßte die Stirn gegen das kalte, summende Metall und wurde sofort vom Geruch ihres Körpers überwältigt, dem Geschmack ihres verborgenen Fleisches, dem Gefühl ihrer Haut, ihrer Stimme, ihren ruhigen Augen, dem sanften Druck ihrer Hände, ihres Mundes, ihrer Zunge – eher ein Nachklang in seinen Körperzellen als eine gewöhnliche Erinnerung. Sie war ihm für immer aufgeprägt; es überraschte ihn, daß sie keine sichtbaren Spuren auf seiner Haut zurückgelassen hatte. Ich werde es nicht zulassen, dachte er. »Ich erlaube niemandem, sie mitzunehmen«, bemerkte er im Gesprächston zu dem Cian neben ihm. Der Cian lächelte unverbindlich und rückte von Farber ab. Die Bahn hielt an.

Auf dem Weg den Hügel hinauf hörte er zum ersten Mal die Musik.

Er begann zu laufen, schwerfällig, von dem schweren Diagnostikator auf seinem Rücken niedergedrückt, steif von fehlendem Schlaf und einem furchtbaren Kater, sich aber mit einer grimmigen Entschlossenheit vorwärts treibend. Er schlidderte um eine Ecke in die Row, und da waren sie: eine große Prozession mit Trommeln und tikans vor seinem Haus, die zeigte, was die Glocke geschlagen hatte. Die Talismane wurden hochgehalten. An der Spitze standen, wie es sich gehörte, der Twizan und die Soúbrae. Ein wenig seitlich davon stand Genawen, strahlte alle an und machte einen fast überglücklichen Eindruck. Die Row hinauf und hinab streckten die Leute die Köpfe aus den Fenstern, um zuzusehen, und die ganze Szene hatte die entspannte, festliche Formalität eines Umzuges beim Schützenfest.

Farber spürte, wie er eiskalt wurde.

Nur tief unten in seiner Kehle saß etwas, das nach geschmolzenem Eisen schmeckte.

Steifbeinig kam er heran, traute sich nicht zu laufen, weil er sich vor dem fürchtete, was geschehen würde, wenn seine Wut sich erst freie Bahn erkämpft hatte. Die letzten paar Schritte ging er schneller und brach in die dichtgedrängte Menge wie ein Hai, der nach einem blutigen Kadaver schnappt. Er drängte sich durch die Prozession, rempelte, stieß und schlug, daß die kleinen Cian zur Seite spritzten, ohne sich darum zu kümmern, ob er jemanden verletzte. Ein Talisman stürzte um und riß seinen Träger mit zu Boden. Ein anderer – eine riesige wasserköpfige Groteske – schwankte und wackelte wie ein betrunkener Clown. Eine Nasenflöte brach mit einem schrillen Quieken ab, als Farber den Spielmann von hinten anrempelte. Eine tikan fiel Farber vor die Füße, und er trampelte mit böser Freude auf dem Instrument herum. Ein Schrei, dann noch einer, und die Musik löste sich von einem Ende der Prozession bis zum anderen in grellen Mißtönen auf, als Farbers Sturmlauf den Festzug sprengte. Schließlich brach Farber ins Freie. Die Musikanten hatten ihr Spiel inzwischen ganz eingestellt.

Der Twizan vertrat Farber den Weg. »Bürger …« begann er beschwichtigend, aber Farber schob ihn brutal zur Seite, rannte zur Vordertür seines Hauses und wirbelte auf der Schwelle herum.

Keuchend starrte er die Menge an.

Die Menge starrte mit sprachloser Verblüffung zurück. Der Twizan kniete, hatte sich gerade wieder halb von seinem Sturz aufgerichtet. Die Soúbrae – es war dieselbe wie bei Lirauns Namensgebung – sah ihn mit eisigen Augen an. Genawen hatte ein erstarrtes, breites Idiotengrinsen im Gesicht. Der Festzug verharrte bewegungslos in den verschiedenen Positionen der Auflösung.

Farber zitterte, verging fast vor Wut und bemühte sich, nicht den letzten Rest von Kontrolle über sich selbst zu verlieren. Angst und Zorn drängten ihm Worte in den Mund, aber er brauchte eine Weile, bis er seine Stimme wieder richtig beherrschte.

»Verschwindet!« schrie er heiser.

Genawens fettes Gesicht verzog sich ablehnend. »Josef …«, sagte er mit brüchiger, ungläubiger Stimme.

Der Twizan war wieder auf den Beinen und wich zurück.

»Macht, daß ihr wegkommt,« brüllte Farber. »Zur Hölle mit euch!« Er hatte noch mehr zu sagen, aber er verlor seine letzte Selbstkontrolle, und seine Stimme überschlug sich zu einem unverständlichen Geschrei. Er stolperte wild vorwärts und wedelte mit den Armen.

Die Alte Frau schien sich ihm entgegenstellen zu wollen, aber der Twizan griff sie im letzten Moment am Arm und zog sie zurück. Widerstrebend ließ sie zu, daß der Twizan sie fortzerrte, und sah Farber dabei die ganze Zeit direkt in die Augen, mit versteinertem Gesicht und von Haß glitzernden Augen. Genawen zögerte, aber Farber schüttelte ihn und schrie ihm ins Gesicht. Da gab auch er auf, stolperte zurück, wäre fast gestürzt, während er Farber verletzt und völlig verstört anstarrte. Farber folgte ihnen nur wenige Schritte, dann blieb er schwer atmend stehen. Wieder schrie er sie an.

Verblüfft und entsetzt ließen sie sich von Farber verjagen.

Mit dem Rückzug ihrer drei Führer wich die ganze Prozession fast im Gleichschritt zurück. Sekunden später hatte sie sich aufgelöst, jeder rannte für sich allein die Row hinunter, verwirrt und demoralisiert, blickte über die Schultern zurück. In den Gesichtern stand jeder denkbare Grad von Entrüstung. Farber wartete, bis er sicher sein konnte, daß sie fort waren, dann ging er zurück zum Haus.

Liraun saß nahe beim Herd, bleich und müde. Neben ihr stand, Farber den Rücken zugewandt, Jacawens Sohn Mordana. Er beugte sich über sie, eine Hand auf die Lehne ihres Stuhles gestützt, und redete drängend mit gesenkter, beschwörender Stimme auf sie ein. Ihr Gesicht war verzerrt. Sie schüttelte ständig auf eine erschöpfte, verwirrte Art den Kopf, aber Mordana drängte weiter.

Zwei eiserne Daumen saßen innen hinter Farbers Augen, preßten sie aus den Höhlen.

Mit drei riesigen Schritten durchquerte Farber den Raum. Seine große, schwielige Hand packte Mordanas Schultern und begann ihn fortzuzerren.

Mordana zischte, wirbelte mit erschreckender Schnelligkeit herum und entwand sich Farbers Griff. Wie hingezaubert wuchs ein Messer aus seiner Faust.

Farber taumelte verstört zurück, fühlte sich plötzlich schwerfällig, langsam und verwundbar, ein unfertiger, lehmfüßiger Golem im Kampf gegen ein Wesen von tigerhafter Grazie und Wildheit. Er streckte unbeholfen seine offene Hand in einer Geste des Schutzes vor. Es war tölpelhaft und nutzlos, selbst in seinen eigenen Augen, und darüber stieg eine benommene, unangemessene Verwunderung in ihm auf, die ihn nur noch langsamer machte. Er dachte keinen Augenblick an die Pistole in seinem Gürtel. Statt dessen machte er noch einen weiteren Schritt rückwärts. Er fühlte sich, als schwämme er durch Sirup.

Blitzschnell ging Mordana in die Hocke, arbeitete sich mit niedrig gehaltenen, vorgestreckten Armen heran, die Messerspitze beschrieb langsame, kleiner werdende Kreise in der Luft. Sein Gesicht war angespannt und todernst. Die Augen glänzten wütend. Er bewegte sich wie eine Krabbe zur Seite, kam dabei aber mit zwei, drei seitlichen Schritten immer einen Schritt näher an Farber heran, zwang Farber, sich zur Seite zu drehen, so daß der Terraner in die Sonne starren mußte. Benommen ließ Farber sich die Bewegung aufzwingen – er fühlte sich ausgelaugt und dumm, während er weiterhin nur die nutzlose Hand mit der offenen Handfläche vorstreckte, als wolle er damit das Messer einfach sanft beiseite stoßen, wie etwas, das einem von einem lästigen Straßenhändler aufgedrängt wird. Er blinzelte, als ihm die Sonne in die Augen schien. Sofort griff Mordana an, schnell und von unten herauf, das Messer gegen Farbers Bauch führend.

»Mordana!« schrie Liraun.

Sie hatte ihre Stimme wieder gefunden, war aufgesprungen. Das Blut war ihr aus dem Gesicht gewichen. Sie schwankte.

Mordana riß das Messer mitten im Stoß zurück, als hätte es an einem zu kurzen Strick gehangen. Er warf einen schnellen Blick zu Liraun, seine Augen blieben an ihr hängen, und er starrte sie eindringlich an.

Dann richtete er sich widerstrebend auf, das Gesicht verzogen. Er schüttelte sich wie eine Katze und war wieder gefaßt und beherrscht. Das Messer verschwand – Farber konnte nicht ausmachen, wie und wohin. Mordana nickte Liraun höflich zu, spie Farber vor die Füße, wandte sich ab und ging schnell hinaus.

Farber und Liraun blieben mit sich allein zurück und starrten sich in einer ungeheueren Stille an.

»Setz dich, bevor du umfällst«, sagte Farber endlich mit weniger Autorität in der Stimme, als er sich gewünscht hätte. Er zitterte und war in kalten Schweiß gebadet; davon war in seiner Stimme etwas zu spüren.

Liraun ignorierte ihn. Sie stützte sich auf die Rücklehne ihres Stuhls und sah durch Farber hindurch, sah ihn nicht an. Etwas sehr Komplexes geschah in ihrem Gesicht. Es veränderte sich, bekam neue, harte Züge, nahm eine fremde Entschlossenheit und Erwartung an, während Farber zusah. Zuletzt veränderte sich der Blick ihrer Augen, und sie nahm ihn wirklich wahr. Ihr Blick war ruhig und klar, und sie machte ihm damit beinahe Angst. Sie ließ den Stuhl los und stand frei im Raum, wobei sie Farber fest im Auge behielt. »Hör mir zu, Josef«, sagte sie leise. »Ich werde jetzt zu denen dort draußen gehen.«

»Den Teufel wirst du«, knurrte Farber.

»Du kannst nicht versuchen, mich hier zu behalten, Josef. Das ist ganz falsch.«

»Ich will nicht darüber sprechen«, sagte er blind. »Setz dich nur hin. Setz dich und sei ruhig, um Gottes willen.« Er rieb sich den Nasenrücken. »Ich muß nachdenken. O Gott.« Dann müde: »Willst da dich nicht endlich setzen?«

»Du verstehst nicht …«

»Nein, verdammt richtig, ich verstehe nicht! Ganz verdammt richtig!« Er war über die Härte seiner Stimme selbst erstaunt. In seiner Aufregung tat er zwei schnelle Schritte auf sie zu, aber dann brach seine innere Anspannung zusammen. Er hielt inne, seine Schultern sanken herab. Liraun sah ihn scharf an. Ihre Augen bohrten sich hart wie Nägel in sein Gesicht, trotz der deutlichen sanften Rundung ihres Bauches. In den letzten Tagen schien die Schwangerschaft ihr eine seltsame, mächtige Unverwundbarkeit verliehen zu haben, etwas Endgültiges und Unwiderstehliches. Er fragte sich angesichts ihres Blickes mit einem unguten Gefühl, ob er sie überhaupt aufhalten konnte. »Zum Teufel«, sagte er. »Schau, wir reden darüber, ja? Aber du gehst nirgendwo hin, verstanden?«

»Das ist ganz falsch so«, sagte sie flach. »Es wird alle Harmonie zerstören.«

»Aber daß sie dich wie Abfall wegwerfen werden, das ist ganz in Ordnung, was?« rief er plötzlich. »Dich in eine Kiste zu packen wie Müll, ein Loch in den Hügel zu scharren und Dreck über dich zu werfen, das findest du gut. Das ist alles in Ordnung so.«

»Was von mir übrigbleibt, wenn ich tot bin, ist auch nicht mehr wert als Abfall«, erwiderte sie gleichmütig. »Das Fleisch wird vorher abgezogen; es wird weiterverwendet: genetisches Material für die Schneider, Düngemittel, andere wichtige Dinge. Die Knochen werden vergraben, mit Respekt, aber ohne jedes Zeremoniell. Dafür besteht keine Notwendigkeit, denn alle heiligen Teile sind ja längst fort, verstehst du?«

Farber wandte sich von ihr ab. Sein Gesicht verfiel regelrecht, seine Hände zitterten. »Du redest, daß einem übel werden kann«, murmelte er. »Jesus! Ich kann nicht … Du bist verrückt. Warum? Wie kannst du …«

»Josef!« schrie sie, zum ersten Mal offenen Schmerz in der Stimme. »Ich kann nicht weiter darüber sprechen. Es ist die intimste Sache meines ganzen Lebens. Es ist nur zwischen mir und dem Volk der Macht, und es ist so furchtbar falsch, mit irgend jemandem darüber zu reden, selbst mit dir! Kannst du das nicht verstehen?«

»Tabu«, bestätigte er düster.

Das Wort verstand sie nicht. »Josef, ich muß jetzt gehen.« Ihre Stimme war angestrengt und brüchig geworden. »Bitte – laß mich jetzt mit deinem Segen und deiner Liebe gehen. Das würde sehr viel für mich bedeuten.«

»Setz dich hin«, sagte Farber.

Lirauns Lippen verzogen sich ergrimmt. Sie ging auf die Tür zu.

»Du bist meine Frau!« schrie Farber.

»Und du bist mein Mann«, sagte Liraun mit ihrer neuen, harten Stimme, während sie langsam, geduldig und unter Schmerzen ihren Weg durch den Raum fortsetzte. »Aber meine Kinder gehören meinem Volk, werden ihm immer gehören. Nichts kann sie ihm wegnehmen. Auch du nicht.«

Farber vertrat ihr den Weg, aber sie ging weiter. Er fühlte sich müde, mutlos und bitter, und für einen Augenblick, als er an den emotionalen Kampf dachte, den es bedeuten würde, sie hierzubehalten, war er versucht aufzugeben, einfach zur Seite zu treten und sie gehen zu lassen, sie tun zu lassen, was sie glaubte, tun zu müssen. In gewisser Weise wäre das eine Befreiung gewesen. Er hätte sich damit rechtfertigen können, daß die ganze Sache schließlich irgendwie zu Ende gebracht werden mußte, auf eine Art, die für sie beide erträglich war. Er hätte fast froh darüber sein können. Aber aus dieser Überlegung, in ihrem Schlepptau und von ihr selbst hervorgebracht, stieg etwas anderes in ihm auf – beißende, quälende, unerträgliche Schuld. Nicht in der Lage, diese Schuld auf sich zu nehmen, suchte er nach dem letzten Rest Wut und entfachte ihn zu neuem Feuer. All dies geschah in Sekunden, so daß in dem Augenblick, als Liraun ihn erreichte, seine Muskeln wieder gespannt waren und sein Gesicht zornrot funkelte. Er packte sie bei den Armen. In ihren Augen flackerte etwas Wildes auf. Stumm begannen sie miteinander zu ringen, zerrten jeder mit dem ganzen Körper in entgegengesetzten Richtungen, wobei sich die Füße kaum von der Stelle bewegten. Sie war erstaunlich stark, aber nicht stark genug, um sich von ihm loszureißen. Offensichtlich erkannte sie das bald – ihr Gesicht wurde spitz, Verzweiflung trat in ihre Augen. Ihre Lippen zogen sich bis über ihre Eckzähne zurück, und Farber fragte sich – mit einer Anwandlung echter Angst –, ob sie versuchen wollte, ihn zu beißen. Statt dessen warf sie sich jetzt in seinem Griff vor und zurück, keuchend, zappelte und strampelte wie ein gefangenes Tier in einem Netz, so wild, daß Farber schon fürchtete, sie würde sich selbst dabei ernsthaft verletzen. Teilnahmslos, fast mechanisch, schlug er ihr ins Gesicht.

Sofort hing sie schlaff in seinen Armen. Er stand da und hielt sie aufrecht, zu ausgebrannt, um noch viel Trauer über den Schlag zu empfinden. Er hatte sogar ein wenig Spaß daran gehabt. Liraun wurde schwer. Er versuchte, sie hochzuhalten, und bemerkte dabei, daß sie sich einfach von ihm bewegen ließ wie eine Puppe. Ihre Muskeln konnte man unter Druck formen wie Ton. Sie war nicht mehr bei Bewußtsein. Ihre Augen standen offen, aber sie waren leer – ausgebrannt und erloschen. Aus einem Mundwinkel rann ihr ein dicker Blutstreifen, der wie Teer schimmerte.

Wie eine Marionette ließ sie sich von ihm zu ihrem Stuhl dirigieren.

Sie sagte nichts. Er redete lange sanft auf sie ein, zärtlich, erklärend, bittend, entschuldigend. Schließlich platzte es aus ihm heraus, und er schrie sie wieder an. Nichts hatte irgendeine Wirkung – sie wollte nicht antworten. Sie zeigte keinerlei Anzeichen, daß sie ihn überhaupt hörte oder daß sie sich ihrer Umgebung bewußt war. Sie saß einfach da, wo er sie hingesetzt hatte, rührte sich nicht, die Hände in den Schoß gelegt.

Schließlich gab er auf. Eine Weile ging er im Zimmer auf und ab, dann kam er zurück und setzte sich auf den Stuhl neben Liraun. Er überlegte, ob es etwas zu tun gab, was er vergessen hatte. Der Diagnostikator. Er baute ihn auf und rief Ferri über die eingebaute Kommunikationsanlage an, um zu überprüfen, ob die Fernsteuerung funktionsbereit war. Auf dem Rückweg heute morgen hatte er noch eine Ziehmutter angeheuert, einen mürrischen Mann mittleren Alters, der seine Brüste durch Injektionen mit künstlichen Hormonen ständig stillfähig hielt. Die Pistole. Sie steckte in seinem Gürtel. Er zog sie heraus und überprüfte sie. Ein Vorteil für ihn: Die Stadt schien keine Polizei zu haben, jedenfalls keine Einrichtung, die mit einer terranischen Polizeimacht zu vergleichen war. Die Cian schienen sich, was den Schutz der öffentlichen Sicherheit betraf, in erster Linie auf ihre Traditionen und Tabus und auf den Druck der sozialen Umgebung zu verlassen: die furchtbare Drohung öffentlicher Achtung. Aber dieses System war nicht geeignet, mit jemandem fertig zu werden, der sich wie Farber völlig außerhalb von allem stellte. Es gab eine Gruppe ärztlicher Überwacher, die sich um Geisteskranke kümmerte, auch um Amokläufer oder randalierende Betrunkene, aber anders als die Terraner wären die Cian nie so scheinheilig gewesen, ihn einfach für verrückt zu erklären, weil er darauf bestand, etwas zu tun, was ihnen nicht gefiel. Bis jetzt jedenfalls nicht. Die Zwielichtmenschen handelten als Schiedsrichter in ethischen Streitfragen und manchmal auch als Überwacher der eher formalen Duelle, aber sie hatten keine Vollmacht, irgendwelche Strafen zu verhängen. Was blieb also übrig? Ein lynchwütiger Mob? Möglich – aber sie würden eine ganze Weile brauchen, sich in diese Rolle hineinzusteigern. Religion? Würden sie versuchen, ihn moralisch zu überzeugen? Würde er auf sie schießen müssen?

Er sicherte die Pistole wieder und schob sie zurück in den Gürtel. Er hoffte, daß er auf niemanden schießen mußte. Erschöpft stützte er den Kopf mit den Händen. Seine ganze Wut hatte sich gelegt und ihn leer und krank zurückgelassen. Wenn er eine Idee gehabt hätte, wie er aus dieser Lage wieder herauskommen könnte, er hätte jede Rückzugsmöglichkeit genutzt. Aber es gab keine.

Er wartete still, während das Tageslicht im Zimmer langsam starb.

Als er mit seiner katatonischen Frau dort in der sich sammelnden Dunkelheit saß, schien es ihm, daß Ferri recht hatte, was die Erdenmenschen anging. Das waren die falschen Leute hier draußen. Sie waren aus den falschen Gründen hierhergekommen, und sie suchten nach den falschen Dingen an falschen Orten zu einer falschen Zeit. Sie hatten ihre Fehler mit sich gebracht – hatten sie zu enormen Kosten über Hunderte von Lichtjahren hinweg transportiert, denn sicher hatten sie zu Hause die gleiche Litanei von Fehlern gemacht, auf die gleiche falsche Art gelebt: Man brauchte sich nur anzusehen, wie sie die Erde zugerichtet hatten, bevor die Enye kamen, um ihnen das zwiespältige Geschenk der Sterne zu überreichen. Es kam ihm vor, als hätten die Regierungen zu Hause einen grundlegenden, ja möglicherweise fatalen Fehler in rassischer Hinsicht begangen, indem sie Menschen wie die in der Enklave ausschickten, die Erde in der Galaxis zu repräsentieren. Die schlimmsten von ihnen, diese Gesandten, waren hohlköpfige, selbstgerechte, neurotisch verklemmte Knopfdruck-Täter auf der Suche nach der großen Chance, stolz auf ihr reibungsloses Funktionieren, auch wenn es zu nichts führte. Sicher hatte die Erde bessere Männer anzubieten. Doch selbst die besten von ihnen – Ferri zum Beispiel – hatten wiederholt demonstriert, daß sie nicht dazu in der Lage waren, die Cian als »Mitmenschen« zu betrachten, und diese falsche Objektivität hinderte sie gerade an jenen Beobachtungen, die sie damit schützen wollten. Letzten Endes hatte Ferri Farber auch nicht aus ehrlichem Mitgefühl oder aus Sympathie geholfen, sondern weil er Angst hatte, Farber könne ihm Gewalt antun. Und auch Farber selbst – er war so stolz darauf, sich einen »Künstler« zu nennen. Wie harmlos mußte sein Werk auf andere wirken, wenn die Co-Op keine Angst hatte, ihn hierherzusenden, um über die Aktivitäten der Co-Op auf Weinunnach zu berichten. Wie mußte man einen von der Regierung besoldeten Künstler nennen? Einen Minderbegabten? Unfähig zu unabhängiger Kunst? Eine Hure des Staates?

Dann hörte er sie. Sie kamen zurück. Die Cian.

Unsicher stand er auf und blinzelte schwankend in die Runde. »Liraun?« fragte er und merkte, wie flach und lahm seine Stimme durch die staubige Stille klang. Sie rührte sich nicht und antwortete nicht – sie saß leblos da, ihre Haut schimmerte schwach durch den sich verdunkelnden Raum wie eine Statue, aus altem schwarzem Holz geschnitzt. Draußen: der Lärm einer sich nähernden Menge, Gemurmel, Fußschritte, immer näher. Er lehnte sich gegen die Wand und bemühte sich, seine alte Wut zu neuem Leben zu erwecken, denn er wußte, daß er diese Wut jetzt zum Überleben brauchte. Aber er konnte nichts mehr davon finden. Als er sich bis zur Erschöpfung darum bemühte, fand er etwas anderes. Ein Gebräu aus Angst, Schuld und dumpfem, verletztem Stolz stieg in ihm auf. Das mochte als Ersatz genügen.

Farber ging hinaus. Die Dämmerung war fast angebrochen. Vom Ende der Row, eingerahmt von schwarzen Steinwänden und scheinbar auf dem Pflaster hockend, starrte Feuerfrau ihn mit ihren letzten Strahlen durch den langen Häusertunnel an – ein lidloses rotes Auge, das desinteressiert durch ein Mikroskop auf die kleine Welt darin blickte. Zum ersten Mal seit Monaten war die Luft warm genug für Regen. Ein feines Nieseln hing in der Straße, beschlug die Fenster und schwitzte aus den alten Steinwänden. Der Wind, der es mit sich trug, roch nach Frühling, nach feuchter, fruchtbarer Erde. Noch war der Frühling ein gutes Stück weit weg, aber er kam schnell näher, schnell genug, um das Kalte Volk unruhig auf seinen Thronen aus Felsen und Eis umherrutschen zu lassen, es aus seinen frostigen Träumen aufzuschrecken, so daß es sich sammelte, den Menschen einen letzten mörderischen Frost zu schicken. Farber sah die Row hinab. Es war Lirauns Prozession, die zurückkam, um es noch einmal zu versuchen. Die anderen Instrumente schwiegen, nur die Trommeln schlugen einen gedämpften Marsch. Als die Teilnehmer der Prozession nun den Platz vor Farbers Haus füllten, verstummten auch sie. Sonst war niemand zu sehen. Die Row hinauf und hinab waren die Türen geschlossen, die Fenster verhangen und blind. Farber trat vor und blieb mit gespreizten Beinen stehen.

Dutzende von Augenpaaren richteten sich auf ihn und schimmerten wie nasse gelbe Steine.

Der Twizan trat vor die Menge. Er sah nervös, aber entschlossen aus. »Bürger«, sagte er, »wir sind gekommen, unsere Tochter zu holen. Schicke sie zu uns.«

Farber zog seine Pistole.

»Bürger«, sagte der Twizan, »du darfst nicht versuchen, uns daran zu hindern. Es gibt keine andere Form für die Dinge, sich zu gestalten. Seit der Zeit des Ersten Ahnen …«

»Hört mir jetzt zu«, sagte Farber mit flacher, ruhiger Stimme und senkte die Pistole. »Liraun wird nicht zu euch herauskommen. Es wird keine Prozession für sie geben, jetzt nicht und auch sonst nicht. Versteht ihr das? Und nun verschwindet hier vor meinem Haus. Geht weiter – alle! Geht hier weg!«

Der Twizan zögerte, sah zu der Soúbrae, deren Gesicht kalt und unbeweglich war, dann sah er zu Farber. Der Twizan faßte sich und machte einen Schritt nach vorn. Noch einen Schritt. Die Prozession folgte ihm auf dem Fuße, die Talismane hochgereckt – Feuerfrau warf ihre unheimlichen, verzerrten Schatten über Farber, streifte sein Gesicht mit Dunkelheit.

Farber hob die Pistole. Einer der Talismane, weiter entfernt zur Linken, war größer als alle anderen, ein riesiger, rotgesichtiger, pausbäckiger Kopf, der die Person des Windes verkörperte – es handelte sich dabei um einen gasgefüllten Lederballon, der nur bei den teuersten Prozessionen mitgeführt wurde und für den man zwei Männer brauchte, um ihn an der Kette zu halten. Farber feuerte darauf. Der Donner der großkalibrigen Waffe hallte furchtbar durch die enge, hohe Gasse und ließ jeden, auch Farber, erstarren. Nur der Kopf der Person des Windes bewegte sich: Er blähte sich, eine Falte lief von einer Wange zur anderen, er schien für einen Augenblick auf monströse Art anzuschwellen, und dann fiel er mit einem entrüsteten Zischen in sich zusammen, die Pausbacken fielen ein wie bei einem Verhungernden, die feurigen Augen legten sich über die Nase, die sich wiederum über den Mund legte, während die Unterlippe unnatürlich anschwoll, als der obere Teil des Kopfes sein Gas hineindrängte. Das ganze Ding sackte über den beiden Trägern wie ein zusammenfallendes Zelt zusammen und zwang sie mit gleichgültiger Schwere in die Knie. Die Menge – nach diesem Anblick keine Prozession mehr – war vor Entsetzen wie versteinert. Aber hier und da rückte doch wieder einer einen Schritt auf Farber vor.

Wenn Farber mehr über Pistolen gewußt hätte, hätte er das, was er dann tat, nie gemacht. Er senkte die Waffe und feuerte schnell hintereinander zwei Schüsse auf das Kopfsteinpflaster vor den Füßen der Menge ab. Sofort spürte er, wie etwas Heißes an seinem Ohr vorbeizischte; ein Fenster klirrte; eine tikan zersplitterte einem Musiker in der Hand; ein anderer Musiker griff sich an die Schulter und wäre fast gestürzt; ein Juwelenauge splitterte aus einem Talisman – alles gleichzeitig, so schien es. Es gab dabei ein Geräusch, wie es eine sehr schnell tickende Uhr aus Steinen und Eisen verursacht hätte, durchsetzt mit winzigen, klingelnden Echos. In der engen Straße waren die Kugeln in Sekundenbruchteilen dreißig- oder vierzigmal als Querschläger zwischen den Steinwänden umhergesaust.

Alle waren davon völlig überrascht – auch Farber, aber er erholte sich als erster. Er machte drei schnelle Schritte vorwärts, schrie und feuerte wieder die Pistole ab, diesmal in die Luft.

Die Menge wich zurück.

Farber drängte schnell weiter vor; die Menge teilte sich und wich nach beiden Seiten von ihm fort wie das Rote Meer vor Moses, und da tauchte Jacawen vor Farber auf – wieder so ein Zaubertrick. Und während die Menge an ihm vorbei den Rückzug antrat, blieb er ruhig dort stehen, ein kleiner, düsterer, unbeugsamer Mann, der einzige auf der Straße, der sich nicht in Bewegung befand.

Jacawen wich nicht zurück.

Farber blieb stehen. Er hatte bemerkt, daß die anderen Cian ihren Rückzug fortsetzten und Jacawen mit ihm allein ließen, aber das nahm er nur ganz am Rande seines Bewußtseins wahr – seine ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf Jacawen, so sehr, daß er an der Peripherie seines Gesichtsfeldes keine Farben und keine Einzelheiten mehr erkannte.

»Unsere Wege sind nicht die Ihren, Farber«, sagte Jacawen und benutzte wieder die förmliche Anrede.

Farbers Finger wurden weiß, als sie sich um den Pistolengriff verkrampften. »Verschwinden Sie von hier«, antwortete er mit so angestrengter Stimme, daß jede Silbe seiner Worte den gleichen flachen, tonlosen Klang hatte.

Jacawen erwiderte etwas darauf, aber zu schnell und undeutlich, als daß Farber dem Dialekt hätte folgen können – das einzige Anzeichen, das Jacawen von jener emotionalen Anspannung erkennen ließ, unter der auch er stand. Als seine Worte wieder etwas verständlicher wurden, hörte Farber: »… bekannt. Ich warne Sie, wenn sie diese …« (Sünde? Fehler? – zu undeutlich) »… fortsetzen, verdammen Sie sie zu …« (zur Hölle?) – »Sie werden ihre eigene Frau dazu verdammen.«

»Ihre verdammte Religion ist mir egal!« fuhr Farber ihn an.

Wieder eine undeutliche Antwort, dann »(?) … Tod. Sie leiden nicht. Im Gebärhaus gibt man ihr eine Droge, die das Bewußtsein ohne Schmerz vergehen läßt.«

»Ich will auch nicht mit anhören, wie ihr eure verdammten kleinen Morde rationalisiert«, sagte Farber und wunderte sich mit einem unbeteiligten Teil seines Verstandes, daß seine Stimme so klingen konnte, wie sie jetzt klang. »Und jetzt verschwinden Sie hier!«

»Sie verurteilen Ihre Frau zu Todesqualen!«

»Ich werde mich schon um ihre Seele kümmern, verdammt!« schrie Farber.

»Farber …«

Farber richtete die Pistole auf Jacawens Bauch.

Stille. Dann sagte Jacawen: »Unsere Wege sind nicht die Ihren, Farber.«

Farber spannte den Hahn.

Einen langen Augenblick starrte Jacawen Farber mit einem seltsam vertrauten Gesichtsausdruck an. Dann schüttelte er den Kopf und wandte sich ab. Er ging die Row hinab, nicht sehr eilig, eine steife, kleine Gestalt, die in dem schlitzäugigen roten Splitter zwischen schwarzen Lidern, der vom Sonnenuntergang noch übriggeblieben war, verschwand.

Farber stand allein auf der Straße.

Als das Auge am Rande der Welt sich ganz geschlossen hatte und die Nacht herabgesunken war, ging er zurück ins Haus. Drinnen war es dunkel.

Für einen Augenblick schien es ihm, als könne er Lirauns Atem nicht mehr hören, doch dann vernahm er ihn: sehr langsam und dünn. Er tastete sich zur Heizkugel und schaltete sie ein. Der Raum wurde in goldenes Licht getaucht.

Liraun saß in ihrem Stuhl, bewegungslos, genauso wie er sie verlassen hatte.

Farber starrte sie eine Weile an. Sie starrte mit leeren Augen zurück, und als er sich aus ihrem Blickfeld bewegte, folgten ihre Augen ihm nicht. Er gab ein ungeduldiges Räuspern von sich. »Du brauchst jetzt nie wieder Angst zu haben«, sagte er. »Du bist jetzt in Sicherheit – ich habe dich gerettet. Ich habe sie verjagt. Sie werden nicht noch einmal zurückkommen. Du wirst nicht sterben. Verstehst du?«

Sie antwortete nicht.

Seufzend setzte er sich. Er lehnte sich vom Stuhl mit dem Rücken gegen die Wand.

Die Zeit schien stillzustehen. Er verfiel beinahe selbst in einen tranceähnlichen Zustand, nickte ein und fuhr wieder hoch. Das sanfte Summen der Heizkugel, das Schlagen seines eigenen Herzens, Lirauns Herz, ihren langsamen Atem, wanderte mit seiner Aufmerksamkeit von einem Geräusch zum anderen, bis er, auch diesmal erst im Nachhinein, bemerkte, daß er eine sich steigernde Serie kleiner keuchender Seufzer von Liraun vernahm, jeder ein klein wenig gepreßter als der vorausgegangene. Dann – überraschend – Stille.

»Huuuuunnn«, sagte Liraun in die Stille.

Er schüttelte den Schlaf ab und sah zu ihr hinüber.

Ihre Schenkel waren tropfnaß, ihr Gesicht war aschfahl vor Schmerz.

Der Diagnostikator, dachte er sofort. Aber obwohl dieser Gedanke so dringend war, stellte er fest, daß er nicht aufstand, um das Gerät zu holen.

Statt dessen blieb er verwundert sitzen und beobachtete Liraun weiter.

Sie hatte den Kopf gedreht und erwiderte seinen Blick. Sie studierte ihn eine Weile schweigend, und dann begann sie mit einer gleichmäßigen, leidenschaftslosen Stimme ohne jede Einleitung zu sprechen, als fahre sie mit einer bereits begonnenen Unterhaltung fort.

»Als du am Alàntene in das Meer-Haus kamst und ich dich sah«, sagte sie, »da wußte ich, daß es unseren Seelen bestimmt worden war, einander zu finden – von dem Volk Unter Dem Meer, das Menschen wachsen läßt, wie die Menschen Blumen und Früchte und Reben wachsen lassen.

Ich wußte in diesem Moment, daß unsere Leben zusammengewunden worden waren wie Reben an einem Stock, so dicht, daß man nicht sagen kann, wo die eine beginnt und die andere endet. Das sagte mir ein Flüstern von Unter Dem Meer, während ich dich beobachtete; lange bevor du mich sahst, habe ich dich beobachtet. Und ich dachte – ich dachte vieles. Du warst allein. Ich wußte, daß du einer von den Fernen Menschen warst, nicht von dieser Welt, aber ich wußte auch, daß du selbst unter ihnen, den anderen deiner Rasse, immer allein sein würdest. Im Herzen des Alàntene gingst du allein, und niemand berührte dich, und nur ich sah das, nur ich. Weil auch ich immer allein gewesen bin unter meinem eigenen Volk. Und ich dachte: Wie du, so hat auch er nur eint halbe Seele. Und ich dachte: Setze sie zusammen, die beiden Hälften.«

Sie hielt inne, um sich wiederum den Schmerz herum zusammenzukrümmen, ihre Augen rollten nach innen. Zähl die Wehen mit, beobachte den Abstand, raunte Farbers subzerebrales Hebammentraining ihm zu, aber er kam nicht dazu: Wie Colderidges Hochzeitsgast stand er unter einem Zauber.

Als sie wieder dazu in der Lage war, ihren Atem zum Sprechen zu benutzen, fuhr sie fort: »Und so nahmst du mich mit. Und ich ließ dich mich mitnehmen. Und weil du mich wolltest, wußte ich, daß das Volk Unter Dem Meer zu dir genauso gesprochen hatte wie zu mir und daß diese Nacht für uns vorausbestimmt war. Ich erwartete nicht mehr als diese eine Nacht, die uns gegeben worden war, die Alàntene-Nacht. Aber du batest mich, wiederzukommen, und das tat ich, und es wurde noch eine Nacht daraus und noch eine. Du batest mich, deinen Herd mit dir zu teilen, und ich tat auch dies, obwohl es gegen unsere Sitten verstieß und Disharmonie mit meinem Volk brachte. Und während all dieser Zeit wagte ich nicht zu hoffen, aus Angst, diese Hoffnung könnte mir genommen werden. Aber dann sagtest du zu mir, daß du mich heiraten würdest, und ich dachte: Hier hast du endlich etwas, das dir gehört, das du behalten kannst.« Wieder eine Wehe – diesmal dauerte es länger, bis es vorbei war, und als sie weitersprach, klang ihre Stimme tief und heiser, als könne sie ihre Stimmbänder nur noch mit äußerster Willensanstrengung kontrollieren: »Und ich war glücklich als deine Frau. Aber als Weinunid kam und du sagtest, daß ich empfangen müßte, war ich verletzt, verletzt davon, daß du nicht die vollen vier Jahre nehmen wolltest, die uns erlaubt waren, die gemeinsam zu leben die Bräuche gestatteten, bevor ich gezwungen war zu empfangen. Ich dachte: Er will dich nicht länger. Er ist deiner müde und wünscht, dich loszuwerden. Aber das waren Gedanken, nicht würdig einer Tochter der Ersten Frau, einer, die die Heiligen Pflichten auf sich nehmen mußte. So rang ich mit meinem Kummer, und schließlich sagte ich mir, daß du mich damit ehrtest, indem du unsere Gnadenjahre ausschlugst. Er wünscht, daß unsere Kinder sofort auf die Welt kommen, dachte ich mir, denn es werden besondere Kinder sein, schön und voller Anmut. Ich sagte mir auch, daß dies alles der Wille des Volkes Unter Dem Meer sein mußte, denn Ihr Wille ist der Wille hinter unseren Taten, und daß unsere Kinder Gefäße der Macht sein würden, Solche-die-den-Glanz-auf-die-Erde-bringen. Und so befand ich mich mit Ausnahme einiger Momente des fehlenden Gleichklanges und der Dunkelheit, wieder im Frieden mit mir selbst. Aber nun …« Sie hielt inne. »Aber nun tust du mir dies an. Nun verdammst du mich und zerstörst mich, und ich verstehe nicht, warum.« Ihre Stimme zerbrach und wurde dann wieder hart. »Lieben wir immer die, die uns vernichten werden? Lieben wir sie, weil sie uns vernichten werden? Weil nur sie genug für uns empfinden, um die Last unserer Vernichtung auf sich zu nehmen, fort von unseren eigenen Schultern? Glaubst du, daß das die Wahrheit ist? Denn was ich nicht verstehen kann, ist, daß ich dich obwohl du mich vernichtest, noch immer liebe …« Und dort angelangt, lachte sie, weil es so komisch war, lachte mit der Ironie eines Geistes, der auf den Ameisenhügel seines früheren, nun vergangenen Lebens zurücksieht.

Sie hörte plötzlich zu lachen auf und sah ihn mit einem seltsamen Ausdruck an, fest, eindringlich und mitfühlend, sehr ähnlich dem Ausdruck auf Jacawens Gesicht am Ende seines letzten Zusammentreffens mit Farber.

Sie sah ihn so lange auf diese Art an, bis der Schmerz sie traf und ihr Gesicht zertrümmerte und alles Menschliche darin auslöschte, wie der Wind eine Kerzenflamme ausbläst.

Dann begann sie zu schreien.