9

 

Die Hochzeitsnacht verbrachten sie in Farbers Apartment, die letzte Nacht, die sie dort verbringen würden. Er ging betrunken zu Bett und wachte schwitzend und nüchtern auf, in der vollen Erkenntnis, was er getan hatte. In Panik setzte er sich auf und begann, sich aus dem Bett zu schwingen. Die Berührung seiner heißen, schwitzenden Füße mit dem kalten Kachelboden war ekelerregend; er erstarrte mitten in der Bewegung, als sei sein Fleisch geronnen, und saß wie ein schlaffer, schwitzender, gekrümmter Sack übelgelaunt auf dem Bettrand. In Gedanken spielte er seine Situation durch. Zweifel nagten an ihm, ließen ihn nach einem Ausweg suchen. Es gab keinen. Es gab keine Alternative. Es war zu spät. Die Endgültigkeit war so kalt und übel in seinem Bauch wie der saure Wein vom Abend zuvor. Er legte sich wieder hin. Er döste fiebrig vor sich hin und wurde im Verlauf der Nacht wieder und wieder wach, lag still und blinzelte in die Dunkelheit, lauschte auf die leisen Geräusche seiner Wohnung. Es waren alles kalte, künstliche Geräusche, trockenes, steriles Ticken und Summen. Die Uhr, die Laterne draußen vor dem Fenster, die Temperaturkontrolle, der Luftfilter – alles tote Dinge. Sie waren so laut, daß sie alle Geräusche von draußen fernhielten. Jedes Mal, wenn er erwachte und lauschte, schienen sie lauter und deutlicher zu sein, bis er sich in einem kalten, mechanischen Uterus eines gleichgültigen, leblosen Dings wähnte, tot schon vor der Geburt, ein Steinfötus. Er rollte herum und versuchte, sich auf Lirauns Atem zu konzentrieren, hielt das warme Schnurren und Brummen gegen das überpräzise Flüstern der Mechaniken. Nach einer Weile schlief er doch noch kurz ein.

 

Wie erwartet meldete Raymond Keane sich am nächsten Morgen. Farber fühlte sich besser, klarer und ruhig, wie ein Mann, der sich unwiderruflich entschieden hat. Nach der langen Zeitspanne von Zweifel und Unentschiedenheit war die Resignation fast eine Erleichterung. Ohne Angst beobachtete er, wie Keanes gerötetes Gesicht auf der Meldescheibe Gestalt annahm – er hatte es sich den ganzen gestrigen Tag schon genauso vorgestellt. Eigentlich war er fast belustigt. Keane sah so erregt und ernsthaft wütend aus. Farber hatte die Lautstärke fast ganz heruntergedreht, doch die Stimme des aufgeregten, puttengesichtigen Eiferers auf dem Hologramm kreischte unangenehm laut in seinen Ohren. Der Direktor war heute definitiv ungemütlich. Wieder legte Keane seine grundsätzliche Unfähigkeit an den Tag, dieses Mal, indem er Farber mit abgehackter Stimme Beleidigungen und Drohungen an den Kopf warf, voller persönlicher Aggression und Verurteilung, die ein guter Administrator sich niemals hätte anmerken lassen. Bei keiner Provokation. Seine Wut zeigte deutlich einen Mangel an Beherrschung und zerstörte das Bild teilweiser Omnipotenz, das Menschen in Keanes Position eigentlich pflegen sollten. Noch ein Dummkopf, dachte Farber. Ich frage mich, ob wir das alle sind. Einen Augenblick lang hatte er die Vision der arroganten, überdrehten Erdenmenschen, wie sie den Cian erscheinen mußten. Es war kein schmeichelhafter Gedanke. Er war sich dessen bewußt, daß Liraun irgendwo hinter ihm stand, außer Sichtweite des Hologrammwürfels. Sie gab keinen Laut von sich.

Der Kern von Keanes Tirade war der Ausschluß aus der terranischen Enklave. Farber hatte es gewagt, jene Linie zu überqueren, die Keane gezogen hatte, und man würde ihn dafür bestrafen. Beides war nicht überraschend für Farber, wenn auch »bestrafen« ein zu hartes Wort schien. Farber hatte kein terranisches Gesetz gebrochen – nur Direktiven der Co-Operative. Keane besaß in bestimmten Situationen über die Terraner gesetzliche Gewalt, doch diese waren scharf umgrenzt. Er konnte Farber nicht wegen nichts anklagen. Er konnte ihn auch nicht von der Erde ausweisen; als terranischer Bürger hatte er das Recht auf einen Transfer zur Erde, falls notwendig, wenn es ihn auch ein paar Jahre dauern konnte, die nötigen Verbindungen zu schaffen. Auch konnte Keane Farber nicht sein kleines regelmäßiges Stipendium vorenthalten, das zu seiner Unterstützung diente. Das Gesetz – von den Sozialisten durchgesetzt – bestand darauf, um so die Drohung der Entlassung durch die Co-Operative und damit das möglicherweise fatale Zurücklassen eines Menschen in einer fremden Gesellschaft als jene unberechenbare Waffe zu entschärfen, die sie sonst hätte sein können. Keane hatte aber die Macht, über die Anlagen der Co-Operative auf »Lisle« zu verfügen, und er konnte Farber jede Benutzung der Einrichtungen der Co-Op dort verbieten. Dies beinhaltete die Enklave und die meisten terranischen Einrichtungen auf dem Planeten, was Farber genug Sorge bereitete.

Im Endeffekt schnitt es ihn von sämtlichen Leuten seiner Rasse ab.

»… Verräter an unserer Rasse«, sagte Keane frömmlerisch und bigott, als ihm Farber schließlich sagte, er solle sich verpissen.

Ohne Zeremonie verließ er die Enklave.

 

Am Nachmittag zogen sie in die Altstadt.

Als Mitglied einer der Tausend Familien besaß Liraun das Privileg, in der Altstadt zu wohnen, und durch die Heirat ging es auch auf Farber über. Er hätte es vorgezogen, auf das Privileg zu verzichten und in der Neustadt zu leben, die er viel angenehmer fand, aber Liraun beharrte mit ungewöhnlicher Hartnäckigkeit auf dieser Entscheidung. Farber war emotional zu ausgepumpt und gab nach.

Sie bezogen das gleiche Haus, das Liraun verlassen hatte, als sie zu Farber gezogen war – unbewohnt und unbeansprucht hatte es all die Wochen leer gestanden, die sie in der Enklave verbracht hatte, da in Aei generell keine Überbevölkerung bestand, und in der Altstadt erst recht nicht. Das Haus lag kurz hinter und über dem Kite-Hügel und ging auf eine breite Kopfsteinpflasterstraße hinaus, welche als die Row bekannt war. Es war in einem der vorherrschenden Baustile der Altstadt errichtet, hatte ein Schieferdach, war rechteckig aus schwarzen Felsen gebaut, unten schmal, und bestand aus drei großen Räumen, die übereinander lagen und durch Treppen und Leitern miteinander verbunden waren. Den obersten Raum nutzte man überwiegend als Lagerraum. Es war bereits möbliert, von daher bedeutete der Umzug nur das Herübertragen der persönlichen Gegenstände und ihrer Kleidung und das Einräumen, worauf sie noch Farbers Apartment säuberten. Innerhalb von zwei Stunden war alles erledigt.

Am Morgen kehrte Liraun zu ihrer alten Arbeitsstelle zurück: an der Drehbank einer Präzisionsmaschinenfabrik in der Werkzeugmachergasse in der Nähe des Hügels vom Kalten Turm in der Neustadt. Sie nahm die Arbeit wieder auf, als sei sie nie fort gewesen. Natürlich nahm keiner ihre Abwesenheit zur Kenntnis, und abgesehen von ein paar höflichen Begrüßungsworten, kommentierte niemand ihre Rückkehr.

Farber blieb allein im Haus zurück.

Er hatte das unangenehme Gefühl, alles passiere zu schnell.

 

Am Nachmittag wanderte er ziellos durch die Altstadt, erforschte die Nachbarschaft in immer weiter werdenden Kreisen. Auf dem Drachenhügel sah er passenderweise eine Gruppe cianischer Kinder, die riesige, formlose, schwarze und orangene Drachen steigen ließen, die seinem auf der Erde geschulten Auge wirklich wie Drachen erschienen, oder wie ein Tintenfisch, eine Schlange, eine Qualle oder ein Dutzend anderer Tiere. Abgesehen von den schrillen Kinderstimmen, einem gelegentlichen Klatschen von Planen bei den Drachen, wenn sich unverhoffte Luftströme in ihnen fingen, und dem fernen – fast unterschwelligen – beständigen Summen des Windes, das in der Altstadt nahezu unvermeidlich war, hörte er keinen Laut. Keinen Laut, und als er die Kinder hinter sich gelassen hatte, hörte und sah er keinen Menschen, niemanden. Keine Bewegung, kein Leben: nur schwarzen Felsen, die steilen, gewundenen Straßen, die verschlossenen Häuser, das Heulen des Windes – wie ein leeres Bühnenbild, eine Geisterstadt, verlassen und schrecklich.

Unten auf der Terrasse war es weniger gespenstisch, weniger schal und klaustrophobisch; hier unten gab es auch mehr Leute und ein willkommenes Gefühl von Weite, von offener Luft bis zum Horizont, zu dem sich die Neustadt tief unten ausdehnte. Er spazierte fast eine Meile über die Esplanade, und dann, an der Kreuzung zum Winterweg – eine Treppe, so steil, daß man sie wie eine Leiter hinaufsteigen mußte, die in den felsenverborgenen Bezirken der alten Innenstadt verschwand –, fand er etwas, das wie ein Museum wirkte. Jedenfalls stand die Tür offen – die einzige offene Tür, die er an diesem Nachmittag gesehen hatte –, und er sah kleinere Gruppen von Cian, die augenscheinlich frei hinein- und hinausgingen; das Gebäude, staubig und schlecht beleuchtet, war angefüllt mit Artefakten aller Arten, einige auf Tischen aufgetürmt, andere auf niedrigen Bänken, einige auf dem Boden gestapelt oder an den Wänden entlang, andere auf regalartigen Borden oder sogar auf Treppenstufen, die von der Decke hingen. Es gab keine Wächter, keine Kartenverkäufer, keine Führungen, keine Ausstellungsvitrinen, keine erklärenden Tafeln oder Zeichen, keine Bezeichnungen an den Stücken – was das betraf, so schienen die Gegenstände nicht einmal nach irgendeinem organisatorischen oder ästhetischen Gesichtspunkt geordnet, sondern einfach aufgestellt zu sein, wie es sich gerade ergeben hatte. Offensichtlich konnte man so lange bleiben wie man wollte, ohne Behinderung hinein- und wieder hinausgehen; niemand schien verantwortlich zu sein, es gab keine Museumswächter oder Hausmeister, und Farber fragte sich, ob das Haus wohl die ganze Nacht über offenblieb, wenn es überhaupt jemals geschlossen wurde. Die Cian wanderten durch das Gebäude, nahmen die Dinge in die Hand und betrachteten sie eingehend, stellten sie vorsichtig zurück, gingen weiter, und Farber fragte sich, ob Schrein nicht eine angemessenere Bezeichnung war als Museum, wenn auch keiner der Cian den ausgestellten Gegenständen gegenüber eine ehrfürchtige Haltung einzunehmen schien.

Museum oder Schrein, es waren wunderschöne Dinge darin: alte Werkzeuge, Glocken, Pflüge, Schlüssel, bemalte Leinwand, Münzen, bronzene Küchengeräte, die mit der Zeit grün angelaufen waren, prächtige Hornkämme, lange rostige Ketten, massive Obsidianskulpturen, kleine Porzellangötter, Nägel, hölzerne Wagenräder, Vasen, Zaumzeug mit gelblichen Edelsteinen besetzt, ausgeblichene Kleidungsstücke mit prachtvoller Goldbordüre, zerbrochene Töpfe, Musikinstrumente aller Arten, Forken, Pergamente mit alten Versepen, alte Ziegelsteine und Teile von Pflastersteinen, Masken, geschnitzte Dämonen, verbogene Löffel, monströse Kopfmasken und Tausende anderer Objekte, die er nicht einmal ansatzweise identifizieren konnte. Es war ein Paradies für einen Archäologen, ein Gerümpelhaufen ohne Schmutz und Kehricht (wenn auch einiges wie Abfall aussah), und er fragte sich, ob Ferri es kannte – er hatte einen kleinen, lustigen Tagtraum über Ferri, wie er Gegenstände unter den Mantel schob und sie hinauszuschmuggeln versuchte, wie Alarmglocken ertönten, unsichtbare Wächter sich aus dem Nichts materialisierten und den kleinen Ethnologen mit Energiegewehren und Hellebarden bedrohten …

In einem Hinterzimmer, das einzig von einem staubgoldenen Schimmer Nachmittagssonne durch ein schmales Fenster beleuchtet wurde, fand Farber eine komplette Rüstung, in sonderbarer Kettentechnik gefertigt, die aufrecht gegen eine Wand lehnte. Sie hielt einen zweischneidigen Speer in der einen und eine stachelbewehrte Keule in der anderen; am Gürtel hing ein breites Schwert mit dreieckiger Klinge, zusammen mit einem Gegenstand, der wie ein überdimensionaler Nußknacker aussah; Stiefel, Handschuhe und die einteilige Ledertunika waren schwarz, der darüberliegende Kettenpanzer aus angestaubtem, angelaufenen Silber. Auf der Brust lag eine flache Metallplatte, wiederum schwarz, die in Silber mit Reihen von Kindergesichtern verziert war – ernsthaft und unheimlich melancholisch – und dazu mit einem lidlosen roten Auge. Der Helm war aus einem silbernen Metall, gekrönt von knochigem Gehörn, das sich noch einmal drei Fuß in die Höhe erstreckte. Das Visier des Helms war zurückgeschoben, und innen schimmerte Gebein – plötzlich merkte Farber, daß in der Rüstung ein Skelett steckte. Unter dem Visier blickten tote, leere Höhlen, in denen einmal Augen gesessen hatten, aus dem Schädel. Er fühlte, wie ihm das kurze Nackenhaar zu Berge stand und sein Mund trocken wurde. Es war unheimlich, diesen stolzen gerüsteten Geist zu betrachten und daran zu denken, welche Zeitalter von Kämpfen und Schlachten er repräsentierte, die sich endlos wie ein langer, blutiger Schatten bis zu diesen Tagen hinstreckten – eine unvorstellbare Zeitspanne, die er nur intuitiv erfassen konnte –, als die Cian kriegerische Barbaren gewesen waren, als die Häuptlinge von Shasine und die Herren von Aei hier mit Feuer und Schwert ein Reich errichtet hatten und vielleicht ganze Rassen eines unbekannten Volkes unter ihren Stiefeln knechteten …

Nachdenklich verließ Farber das Museum durch einen Seiteneingang, der ebenfalls offenstand. Er fand sich am Rand der Esplanade, blieb einen Moment stehen und blickte über die Brüstung hinab auf die Neustadt. Dort lag die Enklave, deren hohe Glastürme in unmäßigem Glanz den Rest der Stadt überragten, und ihm kam eindringlich zu Bewußtsein, wie fremdartig sie aussahen, wie rätselhaft und riesig diese hohen Gebäude waren mit ihren leeren schwarzen Glasfenstern und den rasiermesserscharfen Ecken, wie kalt und arrogant sie wirkten, wie unergründlich und stolz diese Rasse von Riesen sein mußte, die sie errichtet hatte.

Das hier war nun seine Heimat, wurde Farber sich bewußt, diese kalte Steinstadt um ihn her, ein fremder Ort, unzugänglich und verboten.

Als er den Drachenhügel wieder hinaufging, in das felsige Innere der Altstadt stieg, spürte er die düstere Stille seiner neuen Heimat in sich eindringen wie eine Welle, und wieder schauderte ihn.

 

Farber war jeden Tag allein im Haus, von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang. Allmählich ging es bergab mit ihm.

Sein Verfall geschah langsam und subtil, so wenig feststellbar, daß man nichts von einem Tag auf den anderen merken konnte. Gewiß war er sich dessen nicht bewußt und er hätte es abgestritten, wenn man ihn darauf hingewiesen hätte. Dennoch wurde er jeden Tag lethargischer, tat weniger. Jeden Tag – ganz allmählich – wurden seine Gedanken etwas dumpfer.

Wenn er ein anderer Mensch gewesen wäre – vielleicht Ferri, trotz dessen Fehler –, oder älter und schon gereifter, wäre es vielleicht nicht passiert. Ein anderer Mensch hätte vielleicht versucht, seine neue Umgebung in den Griff zu bekommen, sie genau zu analysieren, oder er hätte sich ihr angepaßt; ein anderer Mensch wäre vielleicht hinausgegangen und hätte sich etwas zu tun gesucht, eine Möglichkeit, sich zu beschäftigen, hätte vielleicht eine neue Leidenschaft entdeckt, neue Interessen, neue Betätigungsfelder, neue Ziele, neue Aufgaben. Aber Farber war wie er war. Er war er selbst, und so geschah es. Es ging bergab mit ihm. Er war kein dummer Mensch oder ein unsensibler, doch seine Gedanken und Methoden waren auf die starre, spezialisierte Weise seiner Zeit herangebildet, die Spontaneität ausschloß, und er konnte nicht mit einer Situation fertig werden, auf die keine der alten, erlernten Antworten mehr paßte. Außerdem hatte er gewaltige emotionale Schwierigkeiten – hatte er doch gerade eine Reihe langer, aufreibender und durchgreifender Schocks durchgestanden, von denen seine ganze Identität zu Staub zermahlen worden war.

Er war er selbst, und es ging ihm schlecht. Es gab nichts zu tun. Es hatte keinen Sinn, eine Arbeitsstelle zu suchen – Lirauns Einkommen zusammen mit seinem Co-Op-Stipendium reichten für sie beide mehr als aus. Er wanderte in düsterer Bekümmertheit durch die Stadt, bis er es satt war, Altstadt und Neustadt, hinauf und hinab, nach Osten und Westen. Also blieb er daheim, blieb immer öfter in seinen vier Wänden. Blieb eine Woche lang zu Hause und merkte es erst, als er rückblickend die Tage nachzählte. Er zuckte die Achseln und lächelte und verdrängte es.

Es ging bergab.

Nach einem derart verbrachten Monat raffte er sich auf und strengte sich an, aus seinem langweiligen, gleichförmigen Purgatorium auszubrechen. Er wollte malen. Seine Sensi-Ausrüstung stand ihm nicht mehr zur Verfügung, aber früher hatten Künstler auch mit ihren eigenen Händen gearbeitet, und das würde er auch können. So entwickelte er dann eine Zeitlang eine großartige, erzwungene Aktivität und künstlerische Energie, ging hinab in die Neustadt – das erste Mal seit wann? –, kontaktierte Ferri, ließ sich von ihm Leinwand, eine Staffelei und Farben und Pinsel bei der Co-Op besorgen, wo man sie für jene zahlreichen Hobbymaler der Enklave bereithielt, über die Farber noch vor ein paar Wochen gespottet hatte.

Er bekam seine herausgeschmuggelten Sachen und verbrachte die folgenden drei Tage damit, zu malen. Er versagte. In der Schule hatte er ein wenig Zeichenunterricht gehabt, aber es half nichts, und nachdem er mit einer Maschine gearbeitet hatte, die seine Gedanken direkt in Bilder transformierte, seine Phantasien in Filme, besaß er nicht mehr die Geduld, Tausende von Stunden damit zu verbringen, Hand und Pinsel und Auge zu koordinieren. Es war ein verzweifeltes Scheitern. Sein Mißerfolg war vernichtend. Seine Farben waren entweder ekelhaft oder aufdringlich oder banal. Die Proportionen stimmten alle nicht. Seine Menschen sahen wie Frösche aus, die Bäume wie zerrupfte Staubwedel, die Berge wie große, schleimige Massen zerbrochener Eierschalen. Er keuchte vor Wut, zerbrach die Staffelei, zerriß die Leinwand und verbrannte alles.

In jener Nacht wachte er schreiend aus Träumen auf, an die er sich nicht mehr erinnern konnte.

 

Er glitt weiter bergab.

Das Furchtbare und die Isolation seiner Lage begannen mit ungeheuerer Macht auf ihn einzustürmen. Seit dem ersten Augenblick auf diesem Planeten hatten Ängste an ihm genagt, doch nun, wo er von den anderen Menschen abgeschnitten und seine Karriere zum Teufel war, drangen diese Ängste direkt und mächtig auf ihn ein, und Lirauns Freundschaft und Liebe reichten nicht mehr, ihn zu schützen. Sie war seine Stütze gewesen, doch nun war selbst sie unter ihm fortgebrochen.

Eine Woche lang wachte er jede Nacht schreiend auf und wußte nicht, warum.

Dann – und das war noch schlimmer, es war das nackte Grauen – begann er, sich an seine Träume zu erinnern.

Er träumte oft vom Alàntene, lange, verzögerte Alpträume voller greller, kreischender, leiser Töne und toter, bedrückender, fast nicht wahrnehmbarer Zombiebilder, voller schrecklicher, schmieriger Darstellungen von ihm selbst und Liraun, unerträglich, weil der Alàntene das Zentrum der Zeit war und dort alles ewig so sein würde, wie es einmal gewesen war.

Er träumte von Treuchlingen, von den Bauernhöfen, dem Geruch frischgemähten Grases, den Bergen, der staubigen weißen Stadt, die in der Sonne schlief, den rotziegeligen Dächern, den hohen Kirchtürmen, den Leuten auf dem Marktplatz, den Kreidefelsen, der Donau, die sich bei Kelheim durch diese Felsen ergoß – und dann veränderte sich der Traum! Erdbeben! Der Boden rauchte und sank, als sei er von einem riesigen gespaltenen Huf getroffen worden: Die Erde öffnete sich, warf sich hoch, mahlte, die ordentlichen Ziegeldächer wurden zu Stäubchen zermalmt, gingen in Flammen auf – Krieg! Nur Minuten von der Grenze entfernt blitzten die schimmernden Silbernadeln auf, hinterließen nichts als Asche und Geister und geschmolzene Quarzteiche, geschmolzene Aschegeister, Quarzitknochen – Nova! Der Ausbruch grellen Lichts raffte die Luft hinweg, ließ die Meere aufbrodeln, buk das Land zu Schlacke – ein Meteor pulverisierte den Globus, die sich neigende Achse peitschte die Welt hinweg, der Mond fiel herab wie eine schwangere Porzellankuh, die Meere ergossen sich über das Land, die Eiszeit ließ den Planeten ruhig und still werden, Pilze überzogen die Erde mit einem rostbraunen Leichentuch – und das alles Nacht für Nacht. Selbst im Schlaf sagte sich sein Verstand, daß keines dieser Dinge passieren könnte, doch sein Bauch sagte ihm: Wer weiß, was mit einer Erde geschieht, die zwischen den Sternen verlorengegangen ist? Und es war der Bauch, der die Träume regierte. Er hatte eine unvernünftige, solipsistische Vorliebe, die ihn fühlen ließ, die Erde könne ohne ihn nicht weiterexistieren; nun, da er gegangen war, wäre sein Schutz nicht mehr vorhanden, und alle Katastrophen, die er durch persönliche Willenskraft von der Erde ferngehalten hatte, würden nun alle auf einmal passieren. In seinen Träumen taten sie es. Und er erwachte von seinen eigenen Schreien.

Er träumte auch, er sei wach und wollte aufstehen und zum Fuß einer Treppe gehen, die nach oben führte, und der Spiegel an der Wand dort spiegelte ihn wider – verzerrt, verdreht, schleimig, picklig, narbig, mit Hörnern, Klauen und Dämonenaugen – ein Monster.

Er träumte, Liraun gebar einen Wurm, der winselte.

Er begann zu trinken.

Farber hatte nie etwas gegen einen gelegentlichen Drink gehabt, aber nun begann er richtig zu trinken – zunächst nur in begrenztem Umfang, dann mehr und mehr. Es half. Bestimmt, es half. Es tötete die Nerven genügend ab, betäubte das Gehirn, und er machte sich keine Sorgen mehr um schlechte Träume. Er machte sich um überhaupt nichts mehr Sorgen. Er trank weiter. Er begann sich auf dem schwarzen Markt der Enklave Pillen zu besorgen, rationalisierte jeden Schritt auf bewundernswerte Weise, und von da ab begleiteten seine Drinks Tranquilizer oder umgekehrt. Er experimentierte mit einheimischen Getränken. Mit Weinen und Schnäpsen aus fremdartigen Substanzen. Er fand eine seifige einheimische Wurzel, die irgendwie wie ein Yam aussah, und die, in Wein aufgelöst, sogar noch besser als die Pillen wirkte. Es war auch billiger so.

Er war nun die meiste Zeit betrunken.

Er begann auch, dick zu werden.

Dank seiner eisernen Konstitution war er immer noch erstaunlich gesund, wenn man in Betracht zog, was er seinem Körper jeden Tag antat. Aber seine Hände, bemerkte er, begannen ein feines Zittern nicht mehr zu verlieren.

Wie lange noch, ehe er sich selbst über die Schwelle schob, hinter der er sich nicht mehr erholen würde?

Noch ein bißchen Wein.

Zumindest war er ein höflicher Trinker, fand er. Wenn er auch mürrisch wurde, sobald er betrunken war, zeigte er sich doch niemals heftig oder unhöflich gegenüber Liraun. Er schlug sie niemals oder machte ihr Vorwürfe. Er gestattete es sich nicht, sie gemein zu behandeln, hielt sich heftig zurück, wenn er spürte, daß sich Aggressivität in ihm aufbaute. Das zumindest konnte er. Sie gehörte ihm. Sie hatten etwas Besseres verdient, wenn sie von der Arbeit, die sie am Leben hielt, nach Hause kam, als von einem betrunkenen Dummkopf herumkommandiert zu werden. Das durfte nicht passieren, sagte er sich, und fühlte sich dabei, als riefe er in einen tiefen, trockenen Brunnen hinein. Liraun schien immer noch recht glücklich zu sein, wenn sie auch von ihm enttäuscht sein mußte – sie behandelte ihn immer noch so wie zuvor, tröstete ihn, wenn er schreiend aufwachte, kochte für ihn, ignorierte seinen empfindlichen Zustand. Sie wurde mit ihm fertig, die arme Frau, sagte er sich selber. Arme Frau!

Noch ein bißchen Wein.

Irgendwo tauchte in seinem Kopf der erste schüchterne, tückische Gedanke an Selbstmord auf.

 

Ein paar Tage später wurde Liraun plötzlich in sich gekehrt, nervös und ziemlich knurrig. Farber fragte sich, ob sie seiner schließlich doch überdrüssig geworden war und trank drei Tage lang deutlich weniger, in einem halb heimlichen, halb ehrlichen Versuch, ihr zu gefallen. Aber das war vergebliche Mühe, denn es war nicht sein Trinken, das sie quälte.

Am frühen Abend des dritten Tages von Farbers Halbabstinenz sagte sie ihm, was sie wirklich beschäftigte. Es war der Beginn des Weinunid, erklärte sie, eine jener Perioden alle vier Jahre, in der es einer Frau nach dem Brauch gestattet war zu empfangen. Wenn Farber es wünschte, daß bei der nächsten Welle ein Kind geboren würde, müßte er sie in den nächsten vier Tagen schwängern. Andernfalls müßte er weitere vier Jahre bis zum Beginn der nächsten Welle warten, bei der sie auf jeden Fall empfangen müßte – vier Jahre waren der äußerste Zeitraum, in dem es einem Paar gestattet war, kinderlos zu bleiben. Die meisten Paare warteten diese vier Jahre ab, ehe sie Kinder zeugten. Aber nach dem Brauch lag diese Entscheidung bei Farber – er brauchte sie nur zu schwängern, wenn er es wünschte.

All dies wurde mit zögernder, verhaltener Stimme erklärt, als würden die Worte gegen ihren Willen an einem Faden aus ihr herausgezogen. Das Tabu, persönliche Dinge zu diskutieren – selbst mit einem Ehemann (oder war das so, weil er Terraner war?) –, war stark. Die meiste Zeit wurde ihm begegnet, indem man derartige Dinge umschreibend und symbolisch andeutete. Wenn offene Worte notwendig wurden, wie jetzt, dann war der Streß so groß, daß er aus einer normalerweise gesprächigen Frau einen Stotterer machte.

Aber irgend etwas anderes lief ebenfalls falsch. Er betrachtete sie eingehend. Sie war immer noch nervös und verspannt. Sie stand steif mit überkreuzten Füßen da. Ihre Augen waren zu Schlitzen zusammengezogen, die Muskeln im Kinn angespannt. Ein paar Schweißperlen formten sich auf ihrer Stirn. Sie versuchte, weiter unbeholfen über Weinunid zu reden.

Das ist es also, dachte er. Sie will ein Kind, und sie weiß, wenn ich mich nicht dafür entscheide, wird sie vier Jahre warten müssen. Und natürlich ist es gegen die Sitte, wenn sie meine Entscheidung zu beeinflussen versucht. Das ist der Grund für diese angespannte, abwartende Stille. Sie will ein Kind.

Er starrte sie an und wartete ab, bis er sich an diese Vorstellung gewöhnt hatte.

Schließlich war seine erste Reaktion: Nun, warum nicht? Sie brauchte etwas für sich selbst. Gott wußte, sie hatte wenig genug von ihm in dieser Zeit. Wenn sie es wirklich wollte, warum sollte sie es nicht haben? Das schuldete er ihr, vielleicht auch noch mehr, weil sie mit einem so traurigen Narren wie ihm zurechtkommen mußte. Außerdem … vielleicht würde es die Dinge ins Lot bringen. Nicht nur für sie, sondern für alle. Auch für ihn. Nun, wenn es ihm besser ginge, hätten sie eine Familie, und wenn es ihm schlechter ginge, hätte sie wenigstens das Baby zum Trost.

»Hättest du gerne ein Kind, Liraun?« fragte er mit zurückhaltender Stimme.

Ihr Gesicht wurde leer.

»Mein Mann«, sagte sie nach einer beträchtlichen Pause, »erinnerst du dich bei dem Alàntene an eine Gruppe von Älteren am anderen Ende des Strandes, Twizan, die anstatt zu singen oder zu tanzen sprachen?«

»Ja.«

»Diese Twizan führten die Geschichte von der Ersgen-Frau auf. Und das ist, in anderen Worten, die Geschichte.« Sie nahm eine deklamatorische Pose ein und begann mit leicht veränderter Stimme: »In den Ersten Tagen, ehe die Welt ganz erstanden war und ehe die Harmonie sich entwickelt hatte, gab es kein Leben auf dem Land. Alle Wesen, die da lebten, weilten in der Alten See. Unter ihnen waren die Ahnen, denn zu diesem Zeitpunkt weilten die Ahnen noch im Bauch des Meeres. Nun stiegen die Ahnen auf und ab im Leib des Meeres, und sie gingen hinaus und hinein, und in ihrem Stolz nannten sie sich die Herren von Allen Dingen, denn sie waren noch unwissend und dachten, der Leib sei schon die Welt. Und sie nannten den Leib die Gegenwärtige Welt und sich selber ihre Herren. Das war eine Beleidigung gegenüber der Ungeborenen Harmonie. Daher schickte der Erste Obere, als er es merkte, den Ahnen aus dem Raum eine Strafe. Es schlug sie nieder, und der Schlag war so: Der Leib-Ozean wurde versengt und verschrumpelt, und die Ahnen wurden alle getötet, außer zweien. Die Knochen der Ahnen versenkte man an dem Ort der Strafe in der Alten See, doch die beiden Übriggebliebenen wurden nackt auf das Land geworfen, weil der Leib sie nicht mehr halten wollte. Das waren der Erste Mann und die Erste Frau. Sie standen in der kahlen Wüste, und nichts regte sich in der Welt, weil das Land kein Leben hervorbringen konnte, wenn auch die Zeit schon begonnen hatte. Als die Erste Frau dies sah, wußte sie, was sie tun mußte, und sie sagte: »Ich werde mich selber geben und der Erde durch mein Blut Leben schenken.« Und dann nahm der Erste Mann das Blut der Ersten Frau und machte daraus die klaren Flüsse, die über die Erde rinnen, und die Seen im Inland. Und er nahm die Fäkalien der Ersten Frau und machte daraus Fruchtbare Erde, die das Land bedeckt und das Haus des Lebens ist, und aus dem Haar der Ersten Frau machte er alle Pflanzen und Bäume, die auf der Welt sind und in der Fruchtbaren Erde wurzeln. Dann zerbrach der Erste Mann den Körper der Ersten Frau, und sie schrie vor Schmerzen, aber er formte ihre Körperteile wie Ton, und aus ihnen machte er alle Tiere, die es auf der Welt gibt, und alle Menschen, die auf der Fruchtbaren Erde weilen. Aber der Schrei des Schmerzes der Ersten Frau entkam, und ihre vier Seufzer wurden zu den vier Winden, die auf immer über die Welt wandern, auf der Suche nach dem Nachlassen des Schmerzes, der nicht mehr darin liegt. Und so ist es immer die Pflicht der Abkömmlinge der Ersten Frau gewesen, der Welt ihren Körper zur Verfügung zu stellen und unter Schmerzen Leben zu gebären.«

Liraun verstummte.

Das war es also.

Farber lachte fast.

Er hatte wieder ihren »umschreibenden, symbolischen« Kreislauf angeregt, und sie war voll darauf abgefahren. Er hatte nur wenig aus ihrer Rede entnommen, außer der Tatsache, daß es ihre Pflicht gegenüber Gott war, Kinder zu gebären. Er nahm an, ihre Antwort auf seine Frage laute »ja«.

Liraun beobachtete ihn eindringlich.

»Meine Frau«, sagte er mit großem Ernst und erwiderte ihren Blick. »Ich habe beschlossen, daß dies der Zeitpunkt ist, da du empfängst und Kinder bekommst.«

Ihre Augen wurden undurchdringlich.

»Ich höre dich, mein Mann«, sagte sie mechanisch. Dann folgte eine beträchtliche Pause, lange genug, daß er sich fragte, ob sie ohnmächtig geworden oder mit leeren Augen im Stehen eingeschlafen sei. Schließlich sagte sie mit einer Stimme, die wie ein Flüstern begann und wie aus weiter Ferne kam und nur langsam hörbar wurde, einer gepreßten Stimme, die vor Aufregung zitterte, brüchig, um in zwei zu zerbrechen, eine benommene Stimme wie die einer Gefolterten, die langsam gesteht, als würde jedes Wort aus ihr herausgerissen: »Mein Mann … oh, mein Mann. Ich habe Angst!«

Farber nahm sie in die Arme und hielt sie so lange, bis ihr Körper die Spannung verloren hatte und ein wenig unter seinem Griff nachgab. Dann sagte er: »Du brauchst keine Angst zu haben.« Und, sehr sanft: »Du bist eine Frau. Das wäre ohnehin auf dich zugekommen, wie lange du auch immer gewartet hättest. Du solltest keine Angst haben.«

»Ich höre dich«, antwortete Liraun rituell. Sie löste sich von ihm. »Laß mich nun eine kleine Weile allein«, sagte sie dann erschöpft. Langsam ging sie in einen anderen Teil des Hauses.

Er sah sie nicht mehr für den Rest des Abends.

 

Beim Zubettgehen schien Liraun ihre Haltung zum Teil zurückgefunden zu haben.

Sie tapste aus dem oberen Zimmer, schenkte ihm einen halb klagenden, halb herausfordernden Blick, als er sich an dem Becken wusch, zog sich wortlos das Gewand über den Kopf in einer geschmeidigen Bewegung und legte sich nackt auf das Bett vor ihn, lud ihn mit den Augen, den Lippen, den geöffneten Knien ein. Sie zitterte sogar, als er sie berührte, und als er sich über ihr niederließ, und sich über den ganzen Körper Haut an Haut legte, durchfuhr sie ein leichtes Muskelzucken, als klickten Magnete aneinander.

In dieser Nacht war ihr Liebesakt heftiger als jemals zuvor, ein verzweifelter Kampf ohne Behutsamkeit oder Zärtlichkeit – eher eine Sache lauter Schreie, aneinanderschlagender Körper und harter, verletzender Hände. Sie schien ihn auseinanderreißen zu wollen, und es bedurfte all seiner beträchtlichen Kraft, sie davon abzuhalten. Er hatte Verletzungen und blutete am Morgen aus einem Dutzend kleiner Wunden, und seine Flanken und Schenkel waren wund von ihren Knien und Fersen. Sie trug seine Fingerspuren länger als eine Woche auf dem Körper. Einmal tat sie etwas, was sie nie zuvor getan hatte – sie biß ihn in ihrer Leidenschaft heftig in die Schulter und saugte das Blut. Im nächsten Augenblick hatte sie sich über ihn gerollt und ritt wie ein Dämon auf ihm, wie eine Wahnsinnige, hatte den Kopf zurückgeworfen, und alle Muskeln bis zum Kinn angespannt.

Als er kam, spürte er, wie tief in ihr sein Samen ausströmte.

Danach versicherte sie ihm, daß sie empfangen habe.