Später konnte sich Farber kaum an den Rückweg nach Aei erinnern. Kälte, krampfhafte Bewegungen, Dunkelheit, die Sterne in einem eisigen, prachtvollen Tanz um seinen Kopf, der rasselnde Ton seines Atems, laut und häßlich in seinen Ohren. Er rannte oder trabte fast die ganze Strecke, wurde nur gelegentlich etwas langsamer, wenn er erschöpft war, rannte aber stets weiter, wenn er wieder Luft bekam. Er sah sich nicht um. Manchmal stolperte er im Dunkeln und fiel – rollte sich ab, wenn er Glück hatte, knirschte mit den Zähnen und schnitt sich auf Steinchen und Kies –, aber immer erhob er sich unmittelbar danach wieder. Er rannte, weil es praktisch war, ein Mittel gegen die erstaunliche Kälte, aber er rannte auch, um dem Grauen zu entkommen, das ihm wie ein riesiger schwarzer Schatten nachgeisterte, stehenblieb, wenn er stehenblieb, ihn ohne Augen beobachtete, ihm folgte, wenn er wieder losrannte, geduldig und unermüdlich.
Irgendwo kurz vor Aei fing es ihn ein, verschluckte ihn mit einem einzigen samtigen Biß, und er konnte wieder denken. Unhaltbar krabbelten die Gedanken über die blanken Flächen in seinem Kopf. Mein Gott, wie sollte er das Liraun beibringen? Sie würde ihm nicht glauben! Wie konnte sie ihm das glauben? Wie konnte er sie überzeugen, wie konnte er sie dazu bringen, diese monströse Täuschung zu durchschauen, die man den Frauen ihrer Rasse vorspielte – seit wieviel Jahrhunderten schon? Jahrtausenden? Wie viele Opfer in all der Zeit? Das Entsetzen und Mitleid drückte ihm das Herz zusammen. Stell dir vor, unzählige Millionen von Frauen, die leichtgläubig zum Schlachthaus gingen, fröhlich den Ritualen zustimmten, ohne zu merken, wo es sie hinführte, glaubten die frommen Lügen der Schlächter. Und dann das Gebärhaus. Die Tür schloß sich hinter ihnen, der plötzliche Schrecken und der Schock, die Messer. Mord. Das unwürdige heimliche Begräbnis in den Bergen. Und das alles wegen eines dunklen Aberglaubens, einer gottverfluchten Paranoia, einer mörderischen religiösen Irreführung! Die Pastellfarben der Neustadt winkten ihm träge von weitem, und wahnsinnig rannte er fiebernd und zitternd auf sie zu.
An der Kreuzung der Nordstraße mit dem Flußweg fiel er zum letzten Mal und am heftigsten, glitt die Böschung auf dem Bauch etwa dreißig Meter weit hinab, grub sich den Kies tief in Gesicht und Hände. Der Schock ließ ihn einen Moment reglos liegen bleiben, friedlich auf die Ellbogen gestützt in der Dunkelheit, unter gehetzten Atemstößen. Als er den Kopf hob, wurde sein Blick unwiderstehlich von den niedrigen Dächern von Aeis Neustadt angezogen, dann von dem drohenden Obsidianfelsen darüber – ein so eindrucksvoller Berg, daß er jeden Blick auf sich zog, von welcher Richtung aus man auch immer hinsah – und schließlich, als er den Kopf zurücklehnte, um das Bild in sich aufzunehmen, von der Säule aus schwarzem Fels bis zu dem kalten Stein an der Spitze. Altstadt von Aei. Als er sie anstarrte, spürte er eine Welle so durchdringender komplexer Gefühle, daß seine Sicht verschwamm und die Altstadt auf ihrer Klippe tanzte und schimmerte.
Dann ging er durch die schmalen, geheimnisvollen Straßen.
Schwarzer Felsen. Hohe Mauern. Verrammelte Türen. Entlang der Esplanade, den Drachenhügel hinauf.
Die Row. Sein Haus. Orangenes Licht strömte aus den Fenstern. Als er hinaufging, öffnete sich die Tür und Jacawen kam heraus.
Die beiden Männer blieben stehen und sahen einander an. Dann schloß Jacawen die Tür hinter sich und kam langsam auf ihn zu. Bisher hatte Farber Panik, Terror und Entsetzen verspürt. Er hatte noch nicht die Zeit gehabt, wütend zu sein. Doch jetzt überrollte ihn eine riesige Welle von Verachtung und Zorn, als er die kleine, nüchterne Gestalt langsam auf sich zugeistern sah. Es lag einzig und allein an Leuten wie Jacawen, den Schattenmenschen, mit der widerwärtigen Dunkelheit ihres Geistes und ihren harten, gnadenlosen eisigen Gedanken. Sie waren es, die ihm Liraun nehmen und sie vernichten wollten. Jacawen blieb stehen – sie stießen fast die Nasen aneinander. Schnaubend vertieften sich ihre Blicke ineinander, jeder trat instinktiv einen Schritt nach links. Jacawens Augen waren eindringlich, sachlich, bohrend. Farber mußte die Faust zusammenballen, sonst hätte er zugeschlagen. Aber dem glitzernden, diamantharten Blick konnte er nicht lange standhalten. Gegen seinen Willen flackerten seine Augen unsicher beiseite. Da sagte Jacawen ruhig: »Hatatha, gegrüßt seist du.« Farber entgegnete dumpf irgend etwas. Jacawen nickte höflich und begann weiterzugehen. Farber schob sich gegen die Wand, um ihn vorbeizulassen. Der Gedanke, ihn zu berühren, war ihm plötzlich widerwärtig. Er drehte sich um und jagte ins Haus.
Liraun blickte von ihrem Stuhl auf und sagte: »Josef …?« Dann hielt sie inne. Farbers Kleider waren verschmutzt und zerrissen. Überall war er zerkratzt, und in seinem Gesicht klebte getrocknetes Blut. Er sah schaurig aus. Liraun starrte ihn entgeistert an.
»Was wollte er hier?« fragte Farber.
»Mein Mann …«
»Was wollte er hier?«
»Ich verstehe nicht«, antwortete Liraun. Unter Schmerzen stand sie auf. »Du meinst Jacawen?«
»Ja. Ich will ihn hier nicht sehen, und ich will wissen, warum er in meiner Abwesenheit hier herumgeschnüffelt hat. Verstehst du?«
»Aber …« Sie machte eine erstaunte, vorsichtige Handbewegung, ergriff fast seinen Arm, ließ aber die Hand kurz vor der Berührung wieder sinken. »Er war hier«, sagte sie mit festerer Stimme, »um Vorbereitungen für meine Prozession zu treffen. Ich werde morgen ins Gebärhaus gehen.«
»Oh«, sagte Farber.
»Daher war ich so beunruhigt, als du nicht kamst«, sagte sie in die plötzliche Stille. »Siehst du? Meine Zeit steht kurz bevor. Noch ein paar Tage vielleicht, we? Sie werden mich nicht länger warten lassen. Aber Jacawen wird sich um alles kümmern und als Geburtstagsgeschenk alles bezahlen. Wir brauchen uns keine Sorgen darum zu machen, und wir haben noch Zeit bis morgen. Josef …« Sie hielt inne und sah ihn angstvoll und flehend an, weil sie ihn nicht begriff. »Du bist mein Mann. Ich wollte, daß wir zusammen sind. Josef …«
Farber griff hinter sich nach einem Stuhl und brach darauf zusammen. Wut und Aufgeregtheit waren verschwunden. Er sah krank aus. »Liraun«, sagte er langsam.
»Was ist los?« rief sie und wurde noch beunruhigter.
»Mein Gott, Liraun«, sagte er. Seine Stimme klang tonlos und dumpf. Er saß da wie ein Stein, wurde von Sekunde zu Sekunde stumpfer und hilfloser, während Liraun furchtsam über ihm schwebte. Er hob eine schwere, tote Hand, sie fernzuhalten, grub sie dann unbeholfen in seine Haare und sagte: »Jesus, wie kann ich es dir beibringen?« Liraun wiederholte eindringlich: »Was ist denn los?« Und Farber hörte sie nicht, weil er sie durch seine gleichzeitig ausgesprochenen Worte übertönte: »Aber ich muß. Wir müssen damit fertig werden.«
Nach den gestotterten Worten herrschte eine Weile Schweigen. Er sah sie an, als sähe er sie an diesem Abend zum ersten Mal. »Setz dich«, sagte er. Sie starrte ihn unsicher an, zuckte die Achseln und ging zurück zu ihrem Stuhl. Sie setzte sich nieder. Noch eine Weile Schweigen, mit einem Gefühl, daß sein Geist aus irgendeinem dunklen, feuchten Ort zurückschwamm. Er richtete sich auf, grimmig, mit fast sichtbarer Anstrengung. »Liraun«, sagte er. »Ich möchte, daß du dies zu verstehen suchst und auch versuchst, mir zu glauben. Ja? Ich weiß, es wird für dich nicht leicht. Aber ich werde dafür sorgen, daß es mit dir nicht geschieht.« Liraun entgegnete ungeduldig: »Josef, was …« Aber er schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab und sagte: »Hör zu, verdammt!« Nervöse Stille. Dann sprang er hinein, um es hinter sich zu bringen. »Liraun, versuche zu begreifen. Wenn du dich von ihnen ins Gebärhaus bringen läßt, wirst du niemals zurückkommen. Sie werden dich umbringen.«
»Ich weiß«, sagte Liraun.
Leere. Dann wiederholte er noch einmal sein Programm. »Nein, Liebling. Hör mir zu. Du wirst sterben … Du wirst tot sein.«
»Ja, ich weiß.«
»Oh«, sagte Farber dümmlich. Sein Gesicht wurde wieder leer.
»Josef«, flüsterte sie mit leichter Unruhe. »Müssen wir jetzt darüber reden? Warum …«
»Warte eine Minute.« Langsam, erstaunt, zögernd, sagte er das. »Du meinst, du weißt es?« Er starrte sie hilflos an. Dann stieg etwas anderes in seiner Miene auf. »Mein Gott! Oh, mein Gott! Du hast es die ganze Zeit über gewußt!«
Sie sagte: »Josef, bitte.« Und er sagte gleichzeitig: »Du hast es mir nicht gesagt!«
Sie starrten einander wild an, wie bei einem Streit.
»Josef …«
»Warum hast du es mir nicht gesagt?«
Absolut erstaunt, unter aufsteigenden Tränen, meinte sie: »Aber das habe ich doch. Ich habe …«
Und das ließ ihn erstarren. Vielleicht hatte sie es ihm gesagt. Wenn sie philosophisch sprach, verstand er nur selten etwas. Es war so leicht, sich in dem Gewirr von Allegorien und Indirektheiten zu verlieren, zu vieles war vage und wurde nur vorsichtig angedeutet. Vielleicht hatte sie es gesagt. Aber … In seiner Aufregung war er wieder aufgestanden. Jetzt verließ ihn die Kraft, und er griff blindlings nach einem Stuhl. Er konnte ihn nicht finden. Er stand benommen da, machte pathetische, suchende Handbewegungen. Sein Mund bewegte sich schwach, ohne einen Laut.
Zum ersten Mal weinte Liraun offen.
»Aber …« sagte er und sah sie verdutzt an, als sei er ein Schuljunge und sie das Problem, das zu lösen war. »Wenn du es wußtest … wie wirst du damit fertig … du läßt sie … Aber du mußt wahnsinnig sein.« Er zitterte, und all seine Abwehr wurde durch Entsetzen hinweggespült. »Du mußt wahnsinnig sein! Lieber Gott. Jesus!«
Verzweifelt: »Nein, es ist nicht so, daß ich sie ›lasse‹. Nicht so, Josef!«
Aber er hörte nicht hin. Er starrte sie vollständig fasziniert an. Er hatte sie seit Monaten jeden Tag und jede Nacht gesehen, aber niemals wirklich. Niemals. Sie war für ihn eine Fremde. Er hatte sie niemals gekannt.
»Heute nacht müssen wir uns an die gemeinsame Zeit erinnern, die wir hatten, und uns darüber freuen«, sagte die Fremde.
Er wich vor ihr zurück.
»Bitte, es ist die letzte Nacht, die wir haben«, meinte die Fremde.
Er wandte sich ab.
»Josef!« rief die Fremde.
Blind und taub rannte er fort.
Stolpern, Kriechen, nasser Wind, kalter Felsen, dunkler Boden. Er taumelte hinab in die Neustadt.