Ekstase ist vielleicht ein zu gewaltiges Wort im Zusammenhang mit Sex oder auch Liebe, aber diese Nacht war das größte sexuelle Erlebnis, an das Farber sich erinnern konnte, süß, heiß und schön; sie waren abwechselnd zart und heftig, ausschweifend und angenehm melancholisch – und schließlich sanken sie gemeinsam in einen sanften, dunklen Schlaf, wie Zwillinge, die sich in einen Ozean aus Staub und Federn gleiten lassen.
Als Farber erwachte, war es in der kalten und bitteren Stunde kurz vor der Morgendämmerung. Liraun löste sich gerade leise von ihm, um ihn zu verlassen. Er spürte ihre Weiche und Wärme von seiner Haut fortgleiten, fühlte die kühle Luft an der leeren Stelle, so daß er plötzlich dort nackt war, wo vorher Haut ihn angenehm gekleidet hatte. Farber öffnete die Augen. Er beobachtete ihr Gesicht, leuchtend wie ein Mond in der Dunkelheit, wie es sich über ihn erhob, sich von ihm fortzog, von ihm fortzufallen schien wie ein Raumschiff von einem kreisenden Satelliten auf die bronzene Scheibe des Heimatplaneten zu, wie ein winziger phosphoreszierender Fisch, der in die lebendige Dunkelheit des Meeres fortschwimmt. In ihm schwoll etwas Schmerzhaftes, Komplexes auf, drückte ihm die Kehle zu und brannte hinter den Lidern. Unfreiwillig begann seine Stimme zu reden – sonderbar klangen die Worte durch den stillen Raum –, und er hörte, wie er Liraun bat zu bleiben, bei ihm zu bleiben, mit ihm zu leben, ihn niemals zu verlassen …
Lirauns Gesicht wurde leer, als sei etwas daraus verschwunden, davongeflogen, wie die Fasanen in die nasse deutsche Nacht geflogen waren. Sie antwortete nicht, wollte nicht. Während er sie anflehte, ihm zu sagen, was nicht in Ordnung sei, zog sie sich an, bewegte sich steif und mechanisch, und ihre sonst flinken Finger fummelten unbeholfen an den Verschlüssen. Das Gesicht blieb kalt und leer wie Wachs. Sie blickte ihn nicht an. Als sie fertig angezogen war, wanderte sie ziellos durch das Apartment, ging erst in die eine, dann in die andere Richtung wie ein gefangenes Tier. Farber war jetzt auf den Beinen, versuchte, sie zu berühren, sie zu halten, doch sie fegte an ihm vorbei, als existiere er gar nicht. Zitternd blieb sie einen Moment lang stehen, die Augen glasig und blind.
Dann lief sie aus dem Zimmer.
Die Tür schlug hinter ihr zu, als wäre es endgültig.
Farber blieb allein in der Dunkelheit stehen, lauschte dem geheimnisvollen Ticken und Summen der Haushaltsgeräte, und langsam kam durch Erstaunen und Schmerz die eisige, reumütige Erkenntnis, daß er immer noch nicht wußte, wie er sie wiederfinden konnte.
An diesem Abend kam Liraun nicht zu ihm. Er blieb die halbe Nacht auf, um auf sie zu warten, döste in seinem Stuhl, zuckte bei jedem Geräusch erwartungsvoll zusammen, durchdachte die letzte Szene noch einmal und noch einmal in dem nutzlosen Versuch herauszufinden, was geschehen war, durchlebte noch einmal einige der letzten gemeinsamen Augenblicke mit einem fast hypnotisch intensiven Erinnerungsvermögen.
Auch am nächsten Abend blieb Liraun fort.
Am dritten Abend stürmte Farber aus seinem Apartment, war wütend und verletzt, ging zur Kantine der Co-Op und trank eine unvernünftige Menge. Er hatte auch eine eingehende, tränenreiche Versöhnung mit Kathy und war innerhalb von zwei Stunden wieder in ihrem Apartment und in ihrem Bett. Kathy verbrachte den Rest der Nacht, indem sie exotische Methoden des Liebens erfand, um ihr Band zu ihm wieder enger zu knüpfen. Farber bemühte sich grimmig, und es gelang ihm, öfter als jemals zuvor in seinem Leben zu kommen. Aber es half nichts. Er dachte immer noch an Liraun, malte sie sich aus, wollte lieber sie. Trotz seines leicht betrunkenen Zustandes merkte er, daß er mit Kathy nur völlig geistesabwesend umgehen konnte. Er stellte sich vor, sie sei Liraun, und dies allein regte seine Begierde an, nicht Kathy.
Am frühen Abend des nächsten Tages erschien Liraun in Farbers Apartment, schien sich aus der Dunkelheit jenseits der Türschwelle geradezu zu materialisieren. Sie erwähnte ihre Abwesenheit mit keinem Wort, auch nicht die seine am Abend zuvor, ebensowenig wie den Streit, den sie gehabt hatten, wenn es überhaupt einer gewesen war. Nie wieder erwähnte sie ihn. Auch Farber nicht. Er entspannte sich dankbar in der vertrauten Fremdartigkeit ihrer Gesellschaft, die ihm trotzdem das Gefühl vermittelte, wieder zu Hause zu sein. Kathy läutete ungefähr um zehn und klingelte unaufhörlich weiter, bis sich Farber gezwungen sah, ihr zuzurufen, sie solle fortgehen. Auch darüber verlor Liraun kein Wort.
Sie diskutierten nicht wieder den Plan, miteinander zu leben, doch ein paar Abende später erschien sie mit einem Rucksack voller Sachen und zog ein. Sie brauchte nur fünfzehn Minuten, sich bei ihm niederzulassen. Als Farber sie beobachtete, wie sie in seiner Wohnung umherging und ihre Sachen verstaute, überwältigte ihn ein Gefühl von Erstaunen, das fast an Ehrfurcht grenzte. Eigentlich wußte er überhaupt nichts über sie, nichts über ihr Leben. Und dennoch: Hier war sie – zog zu ihm. Diese Fremde würde tagaus, tagein in seinem Haus leben. Es war unglaublich und wunderbar. Er spürte bereits, als sie das Essen aufsetzte, ungefragt, und sich ruhig niedersetzte, um die tikan zu spielen, wie ihre ordentliche, ruhige, beruhigende Gegenwart sich in der Wohnung verbreitete, in seinen Körper glitt wie abgestrahlte Hitze, seine Hoffnungen auftaute, seine Ängste löste.
Danach versuchte Farber, eine engere gefühlsmäßige Bindung an Liraun zu vermeiden, und hätte den Begriff Liebe zu jedem Zeitpunkt rasch und nachdrücklich von sich gewiesen. Allerdings war er in Wirklichkeit von ihrer Anwesenheit immer mehr abhängig geworden, besonders jetzt, da er in der terranischen Gemeinde als Außenseiter galt, der von jedem geschnitten wurde. Sie war seine Stütze; sie hielt ihn aufrecht. Sie hielt ihn in Gang. Sie war eine beruhigende Droge, die Einsamkeit und Isolierung dämpfte, das Exil auf einer fremden Welt. Sie half ihm zu vergessen, daß er hier alle Zeit zu den Sternen starren konnte und nicht ein einziges Mal eine Konstellation sehen würde, an die er sich aus Tausenden von Nächten der Kindheit erinnern konnte, als er auf einem Hügel auf der Fränkischen Alb in der Nähe von Treuchlingen geträumt hatte. Machtvoll zog es ihn zu ihrem rätselhaften und bodenlosen Wesen. Ihre Gedanken und ihr Geist waren immer noch unzugänglich für ihn, wie hinter tausend Schichten halbdurchsichtiger, verzerrender Schleier verborgen, und die körperliche Intimität war nur ein Mittel, die erste dieser Schichten aufzudecken. Auch war Farber, der an die aggressiven, selbstsicheren Frauen der Erde gewöhnt gewesen war, durch Lirauns augenscheinliche Unterordnungsbereitschaft entzückt, wenn er sich auch wie die meisten Männer seiner Generation für »emanzipiert« hielt. Dennoch gewöhnte er sich gern und rasch daran, daß sie sich seinem Willen unterordnete, ihm das Essen kochte und ihm in Hunderten von Dingen behilflich war.
Der nun folgende Monat war möglicherweise der glücklichste, den Farber in seinem bisherigen sanften, jungen Leben verbracht hatte. Sicher war es auch die Periode, in der er die besten Arbeiten produzierte. Während der Wochen des Zusammenlebens mit Liraun malte er einige Stilleben, die später auf der Erde ein bescheidenes Aufsehen erregten, darunter die »Ruhende Frau«, »Alàntene-Nacht«, »Fischer« und das recht bekannte »Esplanade – Blick auf die östliche See«. Er war so zufrieden wie nie zuvor. Er hatte das Vergnügen seiner Arbeit, die er liebte, die Befriedigung, daß die Arbeit gut war, eine vernünftige Vorstellung von künftigem Erfolg – und Liraun. Und so wie die Leute in dem Moment, wo der Wind sich ändert, gern bereit sind, die schmerzhaftesten Lektionen zu vergessen, gewann er auch seinen alten Hochmut, mit dem er von der Erde aufgebrochen war, zurück.
Natürlich konnte das nicht lange dauern.
Jahrelang haben Autoren und Gelehrte darüber gestritten, warum Farber sich entschloß, Liraun zu heiraten. In Wirklichkeit war sich Farber niemals sicher gewesen. Es war weniger eine bewußte Entscheidung als etwas – wie er rückblickend merkte –, zu dem er sich an irgendeinem Punkt verpflichtet fühlte. Wann genau dieser Punkt gekommen war, der Moment der Bindung, wußte er selbst nicht. Aber es gab sechs bestimmte Dinge, die ihn darauf zuführten, sechs lange Schritte ins tiefe Wasser.
Vielleicht tat er schon den ersten Schritt, als er merkte, daß Liraun unglücklich war.
Vielleicht nicht richtig unglücklich – denn sie hatten immer noch viel Vergnügen aneinander –, aber vielleicht besorgt und unter einem seelischen Zwiespalt leidend. Selbst in den fröhlichsten Augenblicken umgab sie etwas Melancholisches, das nun täglich stärker und schwerwiegender zu werden schien. Er merkte es, reagierte darauf besorgt, aber konnte nicht herausfinden, was da genau geschah. Wie immer war sie äußerst zögernd dabei, wenn es darum ging, ihre Gefühle zu äußern, und wechselte immer das Thema, wenn Farber sie fragte, oder zog sich zurück, wenn er nach einer Antwort drängte.
Erst als sie die monatliche Co-Op-Cocktailparty besuchten – eine aufreizende Trotzgeste von Farber, aus der er ein bittersüßes Vergnügen zog –, begann er zu begreifen, was falsch lief. Zu der Party wurden regelmäßig prominente Mitglieder der cianischen Bevölkerung geladen. Sie lief immer noch unter dem Etikett »Cocktailparty«, auch wenn Hallizogene und Amphetamine ebenso serviert wurden wie Alkohol. Es erschienen auch tatsächlich immer einige Cian. Sie nannten die Parties »Kleiner Brauch« und schienen sie mit toleranter, amüsierter Herablassung zu betrachten wie ein absurdes Spiel, aufgeführt von Kindergartenkindern.
Heute abend waren die Cian gegenüber Liraun sehr kalt, noch kälter, als es die Terraner gegenüber Farber waren. Sie schnitten sie nicht gerade, aber hinter allem, was sie sagten und taten, lag eine kaum verhüllte Feindseligkeit, die ihre Mißbilligung ihr gegenüber ausdrückte. Jacawen sur Abut war dort, dieser kühle Mensch – als Verbindungsmann mußte er auch dort sein, aber man spürte deutlich, wie er diese Verpflichtung haßte; anders als die anderen Cian, die mit aufgesetzter Fröhlichkeit und nicht ohne eine Spur Sarkasmus an dem Fest teilnahmen, beobachtete er verächtlich die Menge der lauten Partygäste und beäugte die Tanzenden zornig. (Er versuchte sich niemals selbst an einem der terranischen Tänze, wie andere Cian es manchmal taten, wobei ihre Anmut und Geschmeidigkeit die tanzenden Terraner weit in den Schatten stellten, selbst wenn sie belustigt die Schritte imitierten und gutmütig in das Lachen einstimmten, das ihre Versuche, den Skorpion oder den Staubteufel-Dreischritt zu imitieren, unvermeidlich hervorrief.) Jacawen trank nichts, verweigerte Essen und Drogen. Und ebenfalls abweichend von den anderen Cian, war er auch offen feindselig gegenüber Liraun. Seine grausamen Augen durchbohrten sie; wann immer er sie sah, schritt er abrupt aus Räumen, die sie betrat, weigerte sich, mit ihr zu reden und ihre Anwesenheit irgendwie positiv anzuerkennen.
Liraun wirkte angespannt und schwieg den ganzen Abend. Sie blieb so gut es ging für sich. Farber war bekümmert. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, daß ihre Beziehung Liraun aufzwingen würde, von ihren Leuten so geschnitten zu werden wie er von seinen; er hatte gemerkt, daß die Terraner sich ihr gegenüber distanziert verhielten, sich aber nicht vorgestellt, daß, wenn er sie zu der Party brächte, er sie auch der Feindseligkeit und dem Zorn der Cian aussetzen würde.
In dieser Nacht war sie zum erstenmal, seit er sie kannte, im Bett unkonzentriert und unsensibel. Zuerst dachte er, sie sei wütend auf ihn, weil er sie zu der Party mitgenommen hatte, aber dann merkte er, daß ihr Kummer mehr aus Schmerz und Demütigung bestand als aus Zorn. Still lagen sie zusammen in der Dunkelheit; ihr schweißnasser Schenkel lag noch über seinem Bein, der Kopf auf seiner Schulter, und drei ihrer Brustwarzen – immer noch hart – preßten sich an seine Seite. Sie fühlten, wie der Schweiß auf ihren Körpern trocknete, die Körperflüssigkeiten und Samen in ihrem Schamhaar trocken und klebrig wurden, beobachteten den sanften Lichtschimmer von der Straßenlaterne draußen über der Decke und oben an einer Wand entlang. Die Stille war zu schwer und dauerte zu lange in der moschusduftenden Dunkelheit, ihr Körper wurde ein zu lebloses Gewicht, und um diese Stille zu brechen sagte er endlich: »Wie war es, als du noch ein Kind warst?« Er sagte dies nicht so sehr, weil er mit einer Antwort rechnete, nicht einmal, weil er es so genau wissen wollte, sondern weil es die einzigen Worte waren, das einzige Bruchstück einer Konversation, die er in seinem müden, benommenen Kopf finden konnte.
Überraschenderweise antwortete sie, hob sich auf einen Ellenbogen und sagte nachdenklich, ironisch, bitter:
»Wie es war, als ich noch ein Kind war? Eigentlich erinnere ich mich nur an Leere und Wind und daran, daß niemand mit mir spielen wollte. Ich war allein. Ich ging bei Schnee und eisigem Wind über die Esplanade, blickte auf die verschlossenen Häuser. Ich wußte, daß jeder Tag, jede Minute, die vorüberging, mich dem Tag näherbrachten, an dem ich sterben würde.«
Farber starrte sie erstaunt an. »War es wirklich so schlimm?« fragte er, doch sie schüttelte nur den Kopf, was keine negative Antwort bedeuten sollte, sondern daß sie nicht weiter darüber reden wollte. Statt dessen richtete sie sich weiter auf, wobei ihr Schenkel über ihn glitt, und starrte gleichgültig, aber eindringlich auf ihn herab, was ihn schließlich mit einer sonderbaren Aufwallung von Peinlichkeit daran erinnerte, daß sie im Dunkeln besser sehen konnte als er. Sie berührte sein Gesicht mit den Fingerspitzen, fuhr sanft über seine Augenbrauen, die Wangenknochen, an der ausgeprägten Kinnlinie entlang. »So fremdartig«, sagte sie verträumt. »So fremdartig. Fast wie ein Tier. Tierisch. Wie eines von unseren huschenden Felsenbabys, die im westlichen Gebirge leben.« Farber, der ein Felsenbaby gesehen hatte, merkte, daß sie ihn mit dem auf ihrer Welt dem Affen ähnlichsten Tier verglich und nach einem anfänglich fast amüsierten Anflug von Ärger beunruhigte es ihn, daß sie ihn für affenähnlich hielt, weil er oft gedacht hatte, wie sehr sie einer Katze ähnelte, oder vielleicht einem Otter: ein schlankes, anmutiges, selbstbewußtes und schönes Tier.
Animalisch, ja. Wie eine Bestie. Wie er. Er fühlte sich sonderbar schuldig, streckte die Hand aus und berührte ihre Wange, die seidige, knisternde Haarkaskade. Unter seiner Berührung sprangen Funken auf. Mit verzweifelter Hast liebten sie sich noch einmal. Liraun drängte, als fürchtete sie, die Decke würde auf sie herabfallen oder der Boden sie verschlucken, ehe sie fertig waren.
Danach ruhten sie, sich in den Armen haltend, aus, die Katze und der Affe (was sie beide nicht waren, wenn sie auch Fremde waren) – aber Liraun schlief verkrampft, warf sich herum und stöhnte, als kämpfe sie sich durch das stürmische Land ihres Traumes, und Farber, der sie umfangen hielt und sie die ganze Nacht hindurch streichelte, schlief überhaupt nicht.