1

 

Josef Farber traf Liraun Je Genawen zum ersten Mal während der Zeremonie des Alàntene, dem Fest der Wintersonnenwende, dem Öffnen-der-Tore-von-Dûn, das man jedes Jahr in der alten Stadt Aei am Nordstrand von Shasine auf der Welt Lisle feierte. »Lisle« war natürlich der terranische Name, so gewählt nach Senator Lisle Harris, dem ersten Menschen, der den Planeten besucht hatte. Der Name hatte sich unter der kleinen terranischen Emigrantenkolonie von Aei allgemein durchgesetzt, weil es der menschlichen Zunge schwerfiel, das einheimische Weinunnach, »Fruchtbare Heimstatt«, auszusprechen.

Farber hielt sich noch keine Woche auf Weinunnach – oder »Lisle« – auf und hatte nur bei wenigen Gelegenheiten die Enklave verlassen. Die Enklave, das war das exklusive terranische Stadtviertel oder Getto, je nachdem, wie man es betrachten wollte. An diesem Abend jedenfalls hatten Langeweile und Frustration sich zusammengetan, um Farber schließlich hinauszutreiben. Er hatte sich einer Gruppe Emigranten angeschlossen, die hinunterging, sich den Alàntene anzusehen, teils weil Brody ihm versicherte, daß »die Cian immer eine gute Show abziehen«, teils weil er fürchtete, sich ohne Führer hoffnungslos zu verlaufen. Als er dann jedoch durch die breiten, gekachelten Straßen der Neustadt von Aei spazierte, fühlte er sich melancholisch und schlechtgelaunt trotz des begeisterten, überlauten Geschnatters der anderen Terraner – oder vielleicht gerade deshalb – und begann sich schon zu wünschen, er wäre in der Enklave zurückgeblieben.

Es war eine feuchte, kühle Nacht, in der man jeden Augenblick erwartete, daß es anfing zu regnen. Graue Nebel wanden sich vom Fluß herauf durch die hoch ummauerten Straßen wie träge Schlangen oder trieben in wogenden, schimmernden Vorhängen über die weiten, mit Porzellan ausgelegten Plätze. In der feuchten Luft hing der Geruch von Gewürzen, Samen, Räucherwerk und Moschus. Scharf, sauer, süß, schwer und tranig – die Gerüche schwammen in der nassen Nacht wie Öl auf Wasser, die meisten undefinierbar, alle bedrückend. Hin und wieder kam Wind auf, schob wie eine unsichtbare Hand die Nebelschwaden und die Wolkenschleier zur Seite und enthüllte die Millionen eisigen Sterne von Aeis Nachthimmel, dichtgedrängt schimmernd auf samtenem Schwarz. Von den Monden war noch keiner aufgegangen, und das Sternbild des Wintermannes hob gerade sein eisiges, von Sternennebeln umwalltes Haupt über den nahen nördlichen Horizont. Dort im Norden erhob sich die Altstadt auf ihren dreihundert Fuß hohen, senkrecht abfallenden Obsidianklippen, warf ihre Silhouette gegen den Glanz der Brust des Wintermannes, dessen Haupt furchtbar über ihre höchsten Türme ragte. Ihre Lichter leuchteten silbern, gelblich und in einem tiefen, geheimnisvollen Orange, ein kaltes Leuchten von kalten Mauern hoch in den Lüften. Farber schien es, als beobachtete die alte Stadt ihn; nicht unbedingt mit Mißfallen oder auch nur mit Interesse, ein einfaches Beobachten, ein unergründliches Starren, als ginge es darum, ihm wieder die Tatsache bewußtzumachen, daß dies nicht die Erde war.

Die Neustadt gab sich freundlicher mit ihren runden Porzellanhäusern, ihren Kacheln und Mosaiken, ihren glänzenden Mauern aus Ton und Steingut. Ihre Lichter waren von weichen Pastelltönen geprägt und ergaben ein diffuses Blinken in den träge wallenden Nebeln. Und doch war auch dort das Ambiente beunruhigend und fremd. Seit einer Stunde liefen sie jetzt durch die Neustadt – eine kleine Gruppe von Menschen, nervös um Heiterkeit bemüht, zu laut für die fremdartige Stille. Die Stunde kam ihnen inzwischen wie ein Jahr vor, und sie hatten niemanden gesehen, keine Eingeborenen, kein einziges lebendiges Wesen. Farber begann sich schon zu fragen, ob die Straßen immer so leer waren, nur von Echos in der Stille belebt, und wenn dem so wäre, wie jemand es dort als Fremder aushalten könne, doch dann entdeckten sie vor sich eine Gruppe von Cian, die in die gleiche Richtung ging. Und gleichzeitig vernahmen sie zum ersten Mal das schwache, ferne Murmeln des Alàntene. Sie hatten die östlichen Ausläufer der Neustadt erreicht, und die Straßen fielen nun steil ab zum Aome-Fluß. Die Eingeborenen vor ihnen verlangsamten ihre Schritte. Sie hatten Anschluß an eine andere Gruppe Cian gefunden, und vor dieser Gruppe ging eine andere, und davor noch eine und so fort, und Farber sah, warum die Neustadt völlig verlassen war. Die ganze Einwohnerschaft von Aei war unterwegs zu den Ufern des Aome, zum Alàntene, und die Erdenmenschen hatten gerade die Nachhut der ungeheuren Menge eingeholt.

Vor ihnen waren die Straßen, so weit das Auge reichte, mit dahinschlurfenden Reihen von Cian vollgepackt. Die meisten von ihnen gingen zu Fuß und trugen Kinder auf den Schultern, hielten Körbe mit Früchten oder fremdartig gewundene Blumengirlanden oder Gerätschaften aus poliertem Holz, Metall und Obsidian, deren Funktion zu erraten ein Mensch nicht in der Lage war. Dazwischen gab es Objekte, die überhaupt jede Definition unmöglich machten. Einige der Cian fuhren auch in sechsräderigen Karren, gezogen von großen, scheckigen Tieren, die irgendwie an riesenhafte Wildschweine erinnerten. Die Zügel hingen voll von sternförmigen schwarzen Blumen und Kristallglöckchen, so daß die Luft von einer klingelnden, melancholischen Musik erfüllt wurde, wenn die Wildschweine ihre Köpfe hoben, deren weiße spiralförmige Hauer im Licht der Sterne blitzten. Farber blinzelte erstaunt, als er einige Cian bemerkte, die ohne Sattel auf großen, geschmeidigen Wesen ritten, vielfüßige Schlangen oder reptilienhaften Tausendfüßlern ähnlich. Die Menge schien die Kreaturen unruhig zu machen; von Zeit zu Zeit stießen sie ein langes, qualvolles Blöken aus und beäugten die Versammlung mit traurigen, intelligenten Augen. Die Cian selbst – kleinwüchsige, schlanke Humanoide mit einer beunruhigend graziösen Art, sich zu bewegen – trugen zumeist dunkle Farben, aber ihre Kostüme waren reich geschmückt, phantasievoll, von feinstem Stoff und bestem Schneiderhandwerk. Schmuck aus Silber, Bernstein und Obsidian glitzerte hier und dort in der Menge, und über der ganzen, langsam daherziehenden Prozession lag eine eigenartige Stimmung düsterer Festlichkeit.

Es dauerte noch eine weitere halbe Stunde, bis die Masse der Nachzügler in die bereits auf dem Festplatz versammelte Menge eingesickert war. Während dieser Zeit wuchs das Murmeln des Alàntene von einem Wispern zu einer mächtigen, rhythmischen Meeresbrandung, die alles erfüllte, die Nacht, das Blut, das Hirn, das Mark, bis Farber merkte, daß er im Takt des mächtigen, langsamen Dröhnen der Trommeln und dem kehligen An- und Abschwellen des Gesanges atmete, und er vermutete, daß selbst sein Herz in diesem Rhythmus schlug. Janet LaCorte erklärte, sie bekomme Kopfschmerzen davon. Manchmal trug der Wind Bruchstücke einer schnelleren Musik zu ihnen herüber – kristallin, klingelnd und staccato, als Kontrapunkt zum gigantischen Puls des Weltherzens gespielt. Andere Geräusche gab es nicht, nur noch das Scharren von Millionen Füßen auf Kacheln, das Knarren von Wagenrädern und hin und wieder ein jammervolles Blöken der Schlangenwesen. Kein Cian sagte ein Wort. Brody war auf einem Trip – wie viele Terraner meinte er, die Feste, die Zeremonien der Eingeborenen, wären besser zu genießen, wenn man stoned hinging. Und nun kicherte er dauernd, seine Augen rollten, wanderten hin und her, er konnte sie auf nichts mehr fokussieren. Farber hatte sich die letzten fünfzehn Minuten erbittert mit Kathy Gibbs über irgendeine triviale Sache gestritten, wobei sie immer lauter und erregter wurden, bis Farber sich, als sie unten auf dem Festplatz ankamen, unter dem Stich einer von Kathys letzten Schmähungen losriß und wütend zu ihr herumwirbelte.

»Du miese Nutte«, schrie er. Er war blaß geworden und sah aus, als wolle er sie schlagen.

Kathy lachte ihm ins Gesicht. Die Beschimpfung hatte ihr die Röte ins Gesicht getrieben, und ihre Augen funkelten, aber sein Zorn schien sie sonst in keiner Weise zu beeindrucken. »Du bist heute abend nicht sehr amüsant«, stellte sie fest. Ein paar Haarsträhnen hingen ihr schweißverklebt ins Gesicht, und Farber konnte ihre Brüste deutlich durch den transparenten Stoff der Bluse sehen; ihre Brustwarzen zeichneten sich hart unter dem Stoff ab. Eine plötzliche Anwandlung von Begierde mischte sich unter seine Wut und verwirrte ihn. Sein Mund mühte sich, Worte zu finden, aber sie lachte ihn wieder aus, und die Worte erstarben ihm auf den Lippen. Sie hatte ihn nur zu gut durchschaut. »Bis nachher, Herzchen«, sagte sie, strich sich die Haare aus der Stirn und schenkte ihm ein verletzendes, wissendes Lächeln.

»Du wartest hier gegen Mitternacht, in Ordnung?« Er erwiderte nichts. Sie musterte ihn mit ihren harten, spöttischen Augen, lächelte noch einmal und ging dann schnell fort. Sekunden später war sie in der Menge verschwunden. Farber starrte ihr nach.

Brody kicherte. Er hatte sich den Wortwechsel mit offenem Interesse und keineswegs verlegen angehört. Die Sache schien ihn ganz offensichtlich anzuturnen. Jetzt schlug er Farber auf die Schulter. »Scheiß drauf«, verkündete er mit einer Stimme, die nach der bekifften Parodie eines herzhaften Von-Mann-zu-Mann klang. »Scheiß drauf, auf alle, sage ich immer. Es gibt Millionen Fotzen auf der Welt. In der nächsten Minute kommt immer schon die nächste vorbei.«

»Warum kümmerst du dich nicht um deinen eigenen Scheiß«, fuhr Farber ihn an.

»Auf dich scheiß ich auch, Jack«, erklärte ihm Brody freundlich und ohne jeden Groll. Er schien richtig vergnügt darüber zu sein. Abrupt kicherte er wieder los, als habe er bei einem Witz die Pointe nicht mehr abwarten können. Er feixte Farber zu und meinte mit wohlmeinender, langmütiger Weisheit: »Du wirst schon noch dahinterkommen.« Er ließ noch ein wehmütiges »Oh, Mann« folgen, dann schlug er eine neue Richtung ein und wanderte Richtung Strand davon. Und er lächelte und lächelte und lächelte.

Die anderen Terraner waren während des Streites zurückgeblieben und schlossen nun wieder auf. Fred Lloyd gab Brody einen Schubs, damit er wieder die richtige Richtung fand. Ed Lacey ging mit zwei Freunden vorbei, alle drei eifrig Narkotika aus ihren Zerstäubern schnüffelnd. Dann kam Janet LaCorte, die Farber im Vorbeigehen einen tadelnden Blick zuwarf; sie war Kathys Freundin. Lloyd trug einen umfassenden Ausdruck herablassender Langeweile zur Schau, den zu perfektionieren es nach Farbers Ansicht Jahre hingebungsvoller Übung bedurft haben mußte. »Kommst du?« fragte Lloyd. Farber schüttelte den Kopf. Lloyd zuckte die Achseln, und die Terraner zogen weiter. Farber war froh, sie loszuwerden. Von der Vergeblichkeit jeder irdischen Mission zermürbt, gaben sie sich auf eine Selbsterkenntnis vortäuschende Art zynisch und bitter. Sie stellten sich gerne vor, von einem Flair Fin-de-siécle-Dekadenz umgeben zu sein. In Wirklichkeit war es nur Langeweile.

Farber warf sich schließlich auch ins Gewühl und begann, sich einen Weg durch die dichte Masse der Leiber zu bahnen. Ekel und Selbstmitleid erfüllten ihn. Kathy ging erst seit ein paar Tagen mit ihm, und schon konnte sie seiner so sicher sein, daß sie ihn auslachte und dann in einer feiernden Menge verschwand, genau wissend, er würde auf sie warten, wenn sie sich entschloß, zu ihm zurückzukehren. Und genau das würde er tun. Nachdem er das erst einmal geschluckt hatte, wich seine Wut bald dumpfer Resignation. Lichtjahre von zu Hause und seiner Rasse entfernt, war er gezwungen, sich an etwas zu klammern – und sie war dieses Etwas. Gedankenverloren schob er sich weiter. Er war von der Straße abgekommen und lief jetzt über Sand, der sich unter seinen Füßen bewegte und wisperte. Eine Kette von Sanddünen erhob sich vor ihm. Hartes Seegras und Eisenholzbüsche wuchsen darauf.

Als er eine der Dünen erklommen hatte, sah er den Alàntene unter sich ausgebreitet. Er blieb stehen, schwankte, ein wenig betrunken, allein in der fremden Nacht. Er war ein großer Mann mit langsamen Bewegungen, kugelköpfig und stiernackig, dunkle Augen unter einer zottigen Mähne blonden Haars. Er hatte ein grobes, starkknochiges Gesicht, das von dicken, glatten Backen und einem massigen, herausfordernden Kinn beherrscht wurde – breit, vorstehend und streitsüchtig. Es war ein arrogantes Gesicht, über dem jetzt jedoch ständig der Schatten nachdenklicher Verwunderung lag. Seine Augen wirkten auf unpassende Art verloren und verletzlich, hoben sich von dem grob geschnittenen, brutalen Gesicht ab – als säße innen ein furchtsames Kind, das herausspähte, während es den massigen Körper mit Pedalen und Riemen bewegte. Das langgezogene, bis ins Mark gehende Brausen des Gesanges brandete zu ihm auf die Düne hinauf und traf sein Gesicht, und das geduldige, elementare Dröhnen der Trommeln erschütterte den Sand unter seinen Füßen. Während er zuhörte und seine Wut sich endgültig legte, wurde er wieder von dem endlosen Meeresgesang überwältigt, ertränkt, aufgelöst, fortgeschwemmt wie ein Sandkorn von den Gezeiten, um über die geheimen Plätze auf dem Meeresgrund gerollt und dann nach einem Jahrzehnt oder tausend Jahren wieder irgendwo an den Strand gespült zu werden. Vorsichtig begann er die Düne hinabzusteigen und grub dazu die Fersen tief in den Sand. Er fühlte, daß das Lied des Alàntene ihn packen würde, wenn er fiel oder stolperte, packen und davontragen, und er könnte darauf reiten wie eine Möwe im Wind …

Hier vereinigte sich der Aome-Fluß, der aus dem Westen heranrollte mit dem Meer, dem Alten Meer, dem großen Nordozean, dem Welt-Ozean. Der Aome war eine brausende, graue Turbulenz zur Rechten, ein Streifen hellerer Dunkelheit gegen die stockfinstere Nacht, mehr zu hören und zu fühlen, als zu sehen. Zur Linken erstreckten sich die Dünen im rechten Winkel zu Farbers Weg in einer ununterbrochenen Kette nach Norden; mehr als dreihundert Meilen zogen sie sich mit dem Strandstreifen zu ihren Füßen schnurgerade dahin: der Nordstrand von Shasine. Im Süden, jenseits des Aome und zur Zeit unsichtbar, lagen die endlose Meilen weiten Salzmarschen. Geradeaus, gen Osten, öffnete sich die Nacht zu einem Gefühl widerhallenden, endlosen Raumes. Das Meer wartete dort hinter den Nebeln – der Geruch seines Salzes hing in dem nassen Wind, der Farbers Wangen peitschte, hinter dem Gesang hörte man das Rollen seiner Brandung, und jenseits des Festplatzes schimmerten seine Brecher im Fackelschein, während sie gegen den Strand gischteten.

Farber kam an dem L-förmigen Umriß des Meer-Fluß-Hauses vorbei und ging so nah wie möglich zum Wasser. Dort standen Cian Schulter an Schulter gedrängt, Tausende und Tausende. Rauchiges, rotes Fackellicht glitzerte auf Zähnen und Augen – riesige Pupillen mit einer riesigen Iris darin und nadelspitze Fangzähne. Sie schwankten alle in einem langsamen, mächtigen Rhythmus von einer Seite zur anderen. Es wirkte wie eine Art schlurfender Tanzschritt – einer vorwärts, einer zurück, ein Schritt zur Seite, wieder ein Schritt vorwärts, stampfen, stampfen, stampfen, stampf! Nichts daran wirkte bewußt; die Bewegung war eine unbewußte, instinktive Antwort auf die Musik, fast ein Tropismus. Die Cian waren völlig von der Zeremonie gefangen, ihre ganze Aufmerksamkeit richtete sich darauf, und vielleicht merkten sie nicht einmal, daß ihre Körper in der nassen, raucherfüllten Dunkelheit schwankten und stampften. Nach einiger Zeit entdeckte Farber, wie er selbst die Bewegungen mitmachte – ohne sich anzustrengen und perfekt zum Rhythmus passend, als hätte er schon sein ganzes Leben Erfahrung darin. Im ersten Augenblick fand er es erschreckend, dann seltsam aufregend, und schließlich erstarben beide Gefühle, und es gab nichts anderes mehr als den Gesang, die ständige mesmerisierende Bewegung der Menge, die überwältigende Hitze Hunderttausender, dicht gedrängter Körper, den beißenden Gestank nichtmenschlichen Schweißes.

Auf der anderen Seite der Menge fand die Zeremonie statt, der eigentliche Alàntene. Die Musiker mit ihren Trommeln, Flöten und an Zithern oder Mandolinen erinnernden Saiteninstrumenten saßen mit übereinandergeschlagenen Beinen in einem riesigen Halbkreis vor der ersten Zuschauerreihe. Ihre Hände schlugen, tasteten und zupften mit unveränderlicher, gleichmäßig wiederholter, unmenschlicher Präzision, als seien sie unter weiten Roben verborgene Roboter. Dabei warfen sie sich im Takt ihrer Musik schnell vor und zurück. Ganz links von Farber, zwischen die Musikanten und das Meer gedrängt, befanden sich die Sänger – mehr als hundert hellgekleidete Cian, alles Männer und alle alt: schneeweißes Haar, glitzernde Silberaugen, die Gesichter von vielfach verwobenen Linien und Falten gezeichnet, ausdruckslos wie in Stein gehauen. Sie vollführten eine kompliziertere, einstudierte Version des Tanzes der Menge. Einige beschrieben ritualisierte Gesten und schwungvolle Bewegungen mit Händen und Armen, andere warfen in regelmäßigen Abständen Hände voll Pulver in die Fackeln, so daß sie silbern, ambergrün und Scharlach aufloderten. Ein Teil der Sänger stand inzwischen durch das Einlaufen der Flut bis zur Hüfte im Wasser; sie setzten jedoch unbeeindruckt ihren Gesang fort. Weiter weg zur Rechten war eine andere Gruppe alter Männer mit etwas beschäftigt, das nach einer dramatischen Aufführung aussah, vergleichbar mit einem irdischen No-Spiel – ihre Stimmen, die sprachen und nicht intonierten oder sangen, schnitten von Zeit zu Zeit durch die anderen Geräusche.

Aber den Mittelpunkt der Zeremonie, das Herz des Alàntene, bildeten die Tänzer. Sie nahmen den größten Teil des von Fackeln erleuchteten Strandstückes ein und tanzten am Rand des Alten Meeres auf dem feuchten, festen Sand. Es gab etwa zwei- bis dreihundert Tänzer jeden Alters, Männer, Frauen und Kinder. Einige von ihnen waren nackt, und die flackernden Fackeln warfen ein seltsames Spiel von Licht und Schatten auf die schimmernde Haut und die zuckenden Bewegungen der Glieder. Andere trugen phantastische Kostüme; hochragende, wippende Federbüsche, dazwischen juwelengeschmückte Federkleider und groteske, großköpfige Masken. Götter und Dämonen tanzten auf dem Strand, und ihre Schatten tanzten mit ihnen. In das Meer hinaus hatte man Plattformen errichtet, die nur wenige Zentimeter über die Wasseroberfläche ragten. Auch darauf tanzten die glitzernden Gestalten, halb im Wasser, manchmal nach einem Sprung in die Luft sich direkt in die Fluten stürzend. Sie tauchten auf und nieder wie betrunkene, torkelnde Tümmler, als wären sie im Meer genauso zu Hause wie auf dem Land. Die Tänzer wirkten dabei trotzdem immer sicher, leichtfüßig und unglaublich beweglich. Sie drehten sich, hüpften, standen zitternd für einen langen Augenblick auf der Stelle, krümmten sich, sprangen einen Salto hoch durch die Luft. Seit Stunden, seit Sonnenuntergang, taten sie nichts anderes, und sie würden ohne Pause bis zum Sonnenaufgang weitertanzen. Farber sah ihnen lange Zeit zu. Erst nachher, als er sich vom Strand zurückgezogen hatte, stellte er fest, daß es mehr als drei Stunden gewesen sein mußten. Aber jetzt gab es keine Zeit, keine Dauer. Hin und wieder seufzte oder stöhnte die Zuschauermenge um Farber wie aus einem Mund, ein gewaltiges, artikuliertes Ahhh erhob sich zu den kalten, gleichgültigen Sternen, sank zurück unter den Gesang und brandete dann unwiderstehlich erneut auf. Ahhh. Genau wie die schwankenden Tanzbewegungen war es kein beabsichtigter Laut, der dem Willen unterlag wie die vorgeschriebene Antwort der Gemeinde in einer irdischen religiösen Zeremonie. Es war mehr eine unbewußte Reaktion, ein wortloses, widerstrebend geäußertes Zeichen der Ergriffenheit, das den Zuschauern fast gegen ihren Willen von der Macht des Alàntene entrissen wurde. Farber konnte sich dem nicht entziehen, seine Lippen öffneten sich wie an Angelhaken, und der Laut kam dumpf und abgehackt aus seiner Kehle. Ahhh, Ahhh. Und während er zusah, schien alles ineinanderzufließen – die Bewegungen der Tänzer, das Singen, die brausenden Flammenbanner der Fackeln, das schmerzvoll ekstatische Schreien der Instrumente, die Schatten auf dem feuchten Sand, die Hitze und der Schweiß der Körper neben ihm – und das Universum faltete sich über ihm zusammen, eine Ecke der Welt, die sich in sich selbst geschlossen hatte, und Erde, Himmel, Wasser wurden eins, ununterscheidbar.

Und Farber riß sich erschrocken los. Er drängte sich fort vom Strand, rempelte an und stieß um sich, bis die Geräuschkulisse der Zeremonie weniger überwältigend war und seine Panik sich etwas gelegt hatte. Er hatte sich zu weit mittreiben lassen, war zu nahe an etwas völlig Fremdes geraten, dem intuitiven Begreifen einer Sache, für deren Verständnis sein Geist nicht ausgerüstet war. Er war tief erschüttert, schwindlig von den Gerüchen, dem Fackellicht und dem Fremden, und seine Beine fühlten sich an wie Gelatine. Langsam wankte er über den Strand in Richtung des Meer-Hauses. Der Alàntene hatte etwas Wildes und Trauriges und Verzweifeltes in Farbers Blut angesprochen, Sehnsüchte geweckt, die Farber weder benennen noch erfüllen konnte. Durch seinen Schädel tobte eine Gespensterhorde von chaotischen, unidentifizierbaren Gefühlen, grinste drängend und spöttisch am Rand seines Bewußtseins. Ihre Stimmen waren ein wenig verebbt, als er schließlich das Portal des Meer-Hauses erreicht hatte, aber er fühlte sich noch immer benommen und unsicher, und er war hilfloser verwirrt als jemals zuvor in seinem Leben. Eine Gruppe Terraner stand vor dem Haus, einheimische Drinks und Zerstäuber in den Händen, und beobachtete von hier aus die Zeremonie am Strand unten mit amüsierter Toleranz wie das Feuerwerk bei einer Party. Farber wich ihnen aus und ging hinein.

Es war ein riesiges L-förmiges Gebäude, das etwas nördlich der Vereinigung zwischen dem Aome und dem Alten Meer lag. Der südliche Teil, der auf den Aome blickte, hieß Fluß-Haus; der östliche Flügel, der See zugewandt, war das Meer-Haus. Beide Flügel waren vom Boden bis zum Dach verglast, so daß ihre Fassaden zwei riesige Fenster darstellten, die nur vom Boden des Obergeschosses unterbrochen wurden. Das Ganze war eine völlig profane Angelegenheit, die in keiner echten Beziehung zum Alàntene oder irgendeinem anderen Fest der Cian stand, obwohl die Cian es wegen dieser Feste gebaut hatten. Hier fand man Zuflucht vor dem Wetter – und es gab Feste, die inmitten eines Blizzards oder in der kochenden, fast tödlichen Hitze des Hochsommers abgehalten wurden. Von hier aus konnte man den Zeremonien für eine Weile durch schützendes Glas zusehen; hier konnte man sich entspannen und mit den verschiedenen Essenzen, Anregungsmitteln und Speisen erfrischen, die verkauft wurden. Schon lange wurden hier Feste gefeiert, und die Cian waren sich durchaus des Unterhaltungswertes dieser Zeremonien und des kommerziellen Profits bewußt, der sich daraus ziehen ließ. Eine Verdienstmöglichkeit, die sie schon Hunderte von Jahren nutzten, lange bevor die ersten Fremdweltler eintrafen. Es waren keine über den Dingen stehende Fremden, die an der Eingeborenen-Folklore verdienen wollten; die Cian selbst machten vergnügt ihr Geschäft damit, und niemand regte sich darüber auf. Und doch begegnete man bei den Zeremonien der Tiefe stillen Glaubens, einem Gefühl religiöser Reinheit, das auf Terra schon vor Generationen ausgestorben war. Unter den Terranern wurde ständig darüber diskutiert, ob die Feste wirklich religiös waren oder die städtischen Cian darin nur eine liebgewonnene, erhaltenswerte Tradition sahen.

Welche Meinung man dazu hatte, stellte Farber jetzt fest, hing sehr davon ab, wo man während eines Festes stand. Hier im Meer-Haus, in der Umgebung von Cian, die sich entspannt die Show durch die Fensterwände ansahen, sich mit ihren Freunden unterhielten, Erfrischungen oder gebratenen Fisch verzehrten oder einfach durch die Säulenhallen schlenderten, würde man sich mit Sicherheit für die Tradition entscheiden. Unten am Strand, in der Menge der tanzenden, stampfenden, stöhnenden Gläubigen, sah die Sache ganz anders aus. Aber es gab keine zwei verschiedene Gruppen von Cian; sie mischten sich ständig aufs Geratewohl – oft gingen die Aufwachter und Konzessionäre des Meer-Fluß-Hauses nach Beendigung ihrer Arbeitsschicht direkt zum Strand hinunter, und ständig fanden sich einige der schwitzenden, hingebungsvollen Zuschauer in dem großen Gebäude zum Ausruhen und Erfrischen ein. Es lag eine Dichotomie darin, die kein Terraner verstand, und in Farber stieg nun intuitiv die blasse Ahnung auf, daß es sich dabei nur um die Spitze eines Eisberges handelte.

Er kaufte sich ein fuge – ein gelatiniertes Etwas, das man für eine Mischung aus Schokoladenpudding und rohen Quallen halten konnte – von einem der Stände und schlenderte langsam durch die Gänge des Meer-Hauses. Seine Erschrockenheit hatte sich inzwischen weitgehend gelegt und ihn traurig und nachdenklich zurückgelassen. Er fand einen Weg ins Obergeschoß, von wo man einen besseren Überblick über den Strand hatte. Die Beleuchtung war hier trübe und diffus, so daß Farber den Eindruck gewann, durch einen Glastunnel auf dem Meeresgrund zu schreiten. Er stellte sich vor die Fensterwand. Der Alàntene glitzerte weit unten, die winzigen Gestalten schwankten und wirbelten durcheinander, ein Spiel der Masken, aufgeführt von winzigen, belebten Puppen. Sein flackerndes Licht wallte seltsam über die gewölbte Decke und jagte verkrümmte Schatten über den Steinboden. Nach einiger Zeit bemerkte Farber, daß er nicht allein war. Jemand beobachtete in seiner Nähe mit ihm das Feuer und die Nacht. Der andere war schon die ganze Zeit dagewesen, verborgen in der Dunkelheit am Fuß einer Säule, stumm wie ein Schatten. Seine Gegenwart drängte sich geduldig nach und nach in Farbers Bewußtsein, bis Farber schließlich den Kopf wenden mußte, um nachzusehen, ohne eigentlich zu wissen, warum. Er schielte zur Seite. Es war eine Frau. Sie fühlte seinen Blick und wandte sich vom Fenster ab. Der Alàntene badete die eine Hälfte ihres Gesichtes in feuriges Licht, während die andere Hälfte im Schatten verborgen blieb. Ein Auge blitzte klar und silbern, das andere war ein blasses Glimmen in der Dunkelheit. Sie sah ihn an.

»Hallo«, sagte sie. »Ich – spreche – nicht – sehr gut.« Ihre Stimme klang gedämpft. Ihr Englisch – die Sprache, die die anwesenden Terraner die Frechheit besaßen, als Terranisch auszugeben – war stockend und mit deutlichem Akzent.

»Në, das macht nichts«, erwiderte Farber in ihrer eigenen Sprache, die er mit der subzerebralen Methode gelernt hatte. Die Sprache erschien ihm von einer verwirrenden Vieldeutigkeit. Ihre einfache Grammatik und Syntax war nur Maske, hinter der sich Millionen von quecksilbrigen Bedeutungswechseln verbargen. Er fragte sich, ob sein Kosmopolitanismus die Frau beeindruckt hatte. Sie sagte nichts mehr, und schließlich raffte er sich zu einem verspäteten »Hallo« auf, nur um das undefinierbare Schweigen zu brechen. Er kam sich albern dabei vor.

Sie nickte ihm mit trauriger Förmlichkeit zu. Dann lächelte sie, schnell und überraschend. »Gefällt Ihnen das Fest?« Sie wies mit dem Kopf zum Strand.

»Doch, ja«, antwortete er. Um ehrlich zu bleiben, fügte er hinzu: »Obwohl ich es eigentlich nicht verstehe.«

»Ah«, stellte sie fest und schielte nachdenklich an ihm vorbei. »Es gibt vieles an diesen Festen, das nicht leicht zu verstehen ist, auch für uns nicht, we? Und doch müssen wir, so gut es geht, mit ihnen fertig werden.« Ihr Tonfall war zugleich spöttisch und melancholisch – sie amüsierte sich über ihn, sicher, aber gleichzeitig fühlte er auch, daß sie fast verzweifelt auf seine Gesellschaft hoffte, wünschte, daß er sie beachtete. Sie wirkte einsam, dabei aber von einer unerklärlichen Verschlossenheit. Sie unterhielt sich sparsam mit ihm, auf eine fast brüske Art, und doch war ihr ganzes Verhalten entspannt und irgendwie leger. Ihr Lächeln war abrupt und überwältigend, ein Aufblitzen, ein Strahlen, das Farber traf wie ein Meißelschlag und sofort wieder erlosch. Und doch lag auch Mutwillen in diesem Lächeln. Er konnte in der Dunkelheit ihr feuchtes Blitzen sehen, während sie umherhuschten. Die Frau faszinierte ihn – beinahe in der ursprünglichen Bedeutung von fascinare, verhexen; sie bannte ihn an seinen Platz wie einen verzauberten Vogel. Sie war wild und traurig, und sie musterte ihn von der Seite durch das verwirrende, vielgestaltige Schattenspiel, das eine Zeremonie zu ihnen hineinwarf, die älter war als ihre beiden Zivilisationen.

Er erfuhr, daß ihr Name Liraun Je Genawen lautete. Sie war größer als ein durchschnittlicher Cian, ihr Kopf reichte Farber bis zum Brustbein. Sie saß, ein Bein elegant untergeschlagen, auf dem niedrigen Fenstersims. Sie wirkte noch schlanker als die meisten ihrer schlanken Rasse, geschmeidig und ätherisch – selbst in den winzigen Bewegungen des Kopfes und des Nackens konnte man die gleiche Sicherheit und totale Beherrschung jedes Muskels erkennen wie bei den Tänzern am Strand. Ihr Gesicht war scharf geschnitten, eckig, die Nase gerade und ausgeprägt, die Lippen waren breit und voll, die Augenbrauen schnelle schwarze Pinselstriche. Ihre Augen waren riesig, feurig und starrten wie die einer Eule oder eines Habichts. Ihre Haut zeigte das reiche, lebendige Braun von Mahagoniholz, allerdings etwas matter und dunkler. Ihr Haar, schwarz, lang, dick geflochten und glänzend, fiel ihr schwer über die Schultern. Sie trug ein Kleid aus Silber und Schwarz und um den Hals eine enganliegende Kette aus Bernstein und Obsidian. Während er sie ansah, wurde Farber zum ersten Mal etwas wirklich bewußt, das er intellektuell schon lange gelernt hatte: Clan hieß übersetzt »Das Volk«.

Sie unterhielten sich eine Zeitlang. Sie versuchte, ihm etwas von der Zeremonie zu erklären. »Man nennt es auch das Öffnen-der-Tore-von-Dûn«, erzählte sie. »Dûn ist die Anderswelt, der Andere Ort, und er liegt dort draußen tief unter dem Alten Meer. Die Gebeine der Ahnen ruhen dort, nackt, auf dem Boden des Ozeans, der Stätte des Kummers – aber es ist nicht nur das, nicht nur einfach der Meeresgrund, we? Es ist eine eigene Welt, der Ort, zu dem einige der Toten gehen, aber auch mehr als das – es gibt Dämonen und Machtvolle Wesen und Optin, und sie leben dort unten in Dûn.« Sie zuckte die Achseln und lächelte ihr düsteres Lächeln. »Alàntene, das ist das Ende der Sommerwelt, der Hitze, von allem, was wächst, die Herrschaft des Warmen Volkes endet. Es ist auch das Ende des Jahres – nach Alàntene beginnt der Winter, der Schnee, das Eis, das Verdorren des Lebens, die Herrschaft des Kalten Volkes, das zu Beginn des Jahres regiert. Die Tore von Dûn öffnen sich jetzt drunten unter dem Alten Meer. Dann erheben sich die Geister von denen, die im alten Jahr gestorben sind und denen es bestimmt ist, nach Dûn zu gehen, und sie reiten mit dem Wind und tauchen hinab nach Dûn, denn die Tore sind offen, und die Anderswelt berührt diese Erde. Und ebenso die Dämonen und Optin, die es wünschen, sie kommen herein in unsere Welt. Und das Kalte Volk steigt durch die Tore herauf, und die Fruchtbare Erde stirbt und wird zu gefrorener Asche, denn das Haus Dûn stellt den Einfluß für diese Jahreszeit. Und deshalb der Alàntene

»Das ist – nicht ganz, was ich mir vorgestellt haben«, sagte Farber ein wenig bestürzt. »Tatsächlich macht es mir sogar etwas Angst. Warum …« Er hatte zum Teufel sagen wollen, erkannte dann aber, daß die einzige mögliche Übersetzung zum Herrn von Dûn gewesen wäre. »Warum, um alles in der Welt, habt ihr für so eine Sache ein Fest, einen Feiertag? Daß es eine Zeremonie gibt, könnte ich ja verstehen, aber warum feiert ihr?«

Sie zuckte wieder die Achseln. »Trotz all der bevorstehenden Kälte und dem Tod ist schließlich das alte Jahr gegangen, ertrunken und hat alle alten Probleme und Sorgen mit sich genommen. Ein altes Jahr vergangen, ein neues Jahr geboren – wie schlecht es auch immer sein mag. Vielleicht ist das etwas zum Feiern, we?« Sie sah Farber aufmerksam an. »Und die Zeit hört während des Alàntene zu existieren auf. Es ist die Pause zwischen dem Vergehen eines Rhythmus’ und dem Beginn eines neuen, das bewegungslose und unbewegte Zentrum, die Stille zwischen den Synkopen des Weltherzens. Unerschaffen und ewig. So wird es uns erklärt. Në, gefällt Ihnen das? Es bedeutet, daß wir beide immer hiergewesen sind und zusammen über den Alàntene sprechen und immer hiersein und über alle Alàntene sprechen werden. Ganz gleichgültig, wo wir während des Alàntene vergangener Jahre gewesen sind – auch dort sind wir immer, ja, aber auch immer hier. Ja! Finden Sie das schön?« Und sie lachte, das Gesicht düster und starr, der Blick der Augen unergründlich, trotzdem lachte sie.

Es blieb Farber unergründlich, wieviel von alledem sie ernst nahm; jedesmal, wenn er dachte, ihre Stimmung endlich erfaßt zu haben, änderte sich ihr Wesen dramatisch, oder es schien wenigstens so, und die Worte, die sie sagte oder gesagt hatte, standen für eine völlig neue Interpretation offen. Es war unmöglich für sie, ihm die tieferen Bedeutungen des Festes zu erklären, ja, sie konnte ihm selbst von den oberflächlichen Erscheinungen vieles nicht verständlich machen. Immer wieder verlor sie sich in Allegorien und Symbolen und Andeutungen, denen er nicht folgen konnte, und ihr blieb nichts anderes übrig, als mit den Achseln zu zucken und zu lächeln und ihm zu sagen, daß er nicht genug wüßte, um zu begreifen. Dann waren sie eine Weile still, bis sie schließlich zu ihrem Spiegelbild im Fenster gewandt sagte: »Die Optin kommen während des Alàntene in unsere Welt. Sie sind Geister, die von einem Menschen Besitz ergreifen und ihn zu bösen Taten treiben. Oder manchmal nehmen sie auch selbst die Gestalt von Menschen an und wandeln in der fremden Welt des Fleisches oder dem, was Fleisch zu sein scheint, umher. Sie könnten auch ein Optin sein«, meinte sie nach einer bedeutungsvollen Pause zu ihm. Plötzlich brach sie wieder in ihr silbernes Lachen aus. »Und ich natürlich auch.«

Wieder wurde es still. Sie blickte auf ihr Spiegelbild im Fenster und sah nicht mehr zu ihm hin. Er konnte das winzige, rhythmische Heben ihres Bauches sehen, wenn sie atmete, den Puls der Ader in ihrer Halsbeuge, die Art, wie ihr Haar über ihre Schläfe, ihre Wange, ihren Nacken strich. Es war heiß hier, gewiß, aber so heiß sicher nicht. Sie bog sich weiter von ihm fort, als beuge sie sich vor, um etwas weit Entferntes am Strand besser beobachten zu können. Durch das Vorstrecken des Kopfes zeichneten sich die Spitzen ihrer Rückenwirbel scharf gegen den Stoff ihres Kleides ab, und er konnte ihre Schulterblätter deutlich erkennen. Sie wandte sich nicht mehr um, sagte nichts mehr. Ohne sich dessen richtig bewußt zu werden, war er immer näher gerückt, bis er sie schließlich beinahe, aber nur beinahe berührte. Sein Blut sprach schon eine ganze Zeit zu ihm, sprach ihn mehr an als ihre Worte, und nun war das Rauschen seines Blutes alles, was er hören konnte. Ihre Wärme und ihr Geruch überwältigten ihn. Er hob die Hand und streckte sie langsam aus, während ein weit entfernter Teil seines Ichs voll Angst und Entsetzen dachte: Du weißt nicht einmal, ob sie einen Ehemann oder einen Liebhaber hat oder welche Strafen sie hier für so etwas haben, Gefängnis, Hinrichtung, Kastration. Und er legte die Hand auf ihre Schulter, fühlte die flachen Muskeln ihres Rückens unter seiner Handfläche, fühlte ihre Haare, strich mit den Fingern über ihren Nacken, grub sie in ihre warme Haut. Sie versteifte sich, und in einer tranceartigen, gefühllosen Verzweiflung dachte er: Das war’s. Aber dann entspannte sie sich langsam, Muskel für Muskel, und lehnte sich lang und warm und weich gegen seine Brust, ihr Kopf schmiegte sich gegen seine Wange, als er sich ihr entgegenbeugte, und sie sagte: »Ahhh …« Ein Wispern, ein winziges, seufzendes Echo der Tänzer am Strand. Eine Zeitlang standen sie so schweigend, lauschten auf den Atem des anderen, und dann sagte er heiser: »Kommst du mit zu mir?« Und sie antwortete: »Ja.«