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Früh am Morgen verließ Farber die Arbeit und machte sich auf die Suche nach einem Gebärhaus. Sie waren nicht leicht zu finden – das cianische Verständnis von Züchtigkeit diktierte, daß es schmucklose, unscheinbare Gebäude sein mußten, und es gab nicht das cianische Gegenstück eines Telefonbuches. Aber einer von Farbers Kollegen hatte seine Frau vor ein paar Tagen zu einem Gebärhaus gebracht, und wenn er sich auch strikt weigerte, die eindringlichen und unhöflichen Fragen des Erdenmenschen zu beantworten, hatte Farber ihn doch belauscht, als er seinen Freunden den Weg der Prozession beschrieb. Farber hatte so eine verschwommene Vorstellung, wo eines dieser Gebärhäuser lag.

Er machte sich zu Fuß auf in die Neustadt, folgte dem Flußweg am belebten Aomeufer entlang. In der Altstadt gab es keine Gebärhäuser – diese Information hatte er in den letzten Tagen aufgeschnappt. Offensichtlich waren sie dort verboten. Er bezweifelte, ob es eines in diesem Bezirk geben würde; so wie er es verstanden hatte, lagen diese Häuser in ruhigen, abgelegenen Teilen der Stadt, nicht weil man sie als schändlich betrachtete, sondern weil sie als so heilig angesehen wurden, daß sie nicht unziemlich durch den Lauf urbanen Lebens vergiftet werden sollten. Er ging schnell, fast im Trab, bis die Stadt zu beiden Seiten spärlicher besiedelt war und damit ihre Grenzen erreichte, und er wandte sich der Nordstraße zu. Hier mußte er langsamer gehen und aufpassen. Überall konnten die Gebärhäuser sein.

Die Nordstraße verlief parallel zum Alten Meer, ungefähr eine Viertelmeile davon entfernt, hinter den endlosen Dünenketten. Farber folgte ihr über Meilen hinweg die Küste entlang, während die verstreuten Häuserblocks, die Vororte von Aei, immer seltener wurden. Er fand immer nur Häuser mit einem offensichtlichen Zweck: Bauernhöfe, Maschinengeschäfte, Ziegeleien – keines konnte ein Gebärhaus sein. Hartnäckig ging er weiter. Der drohende Monolith der Altstadt hatte zunächst vor ihm und zur Linken aufgeragt; nun lag er fast hinter ihm. Der Haufen von Dächern und Türmen glänzte gegen den dunkler werdenden Nachmittagshimmel. Als er hinter ihm zurückblieb, öffnete sich die Welt vor ihm, wie sich die Stadt den Vororten geöffnet hatte, als er sich der Nordstraße zugewandt hatte. Er hatte das Gefühl, als ob das Auge Gottes sich gerade langsam geöffnet habe, wie eine übernatürliche Fernsehkamera, die ihn zu einem winzigen schwarzen Flecken reduzierte, der sich über eine ungeheuer große weiße Fläche mühte. Der Wind roch nun nach Weite, nach allen Orten, an denen er jemals gewesen war, den unermeßlichen Ausdehnungen einer fremden Welt, offen bis zum Horizont. Es war zugleich einschüchternd und anregend. Er merkte, daß er auf dieser Welt niemals außer Sichtweite der Altstadt gewesen war, daß sich seine Erfahrung von Weinunnach auf einen Radius von zwanzig Meilen beschränkte. Nun, als der Obsidianfelsen und seine Last von steilen Türmen hinter dem Horizont zu versinken begannen – wie ein skelettiertes Geisterschiff, das sinkt – spürte Farber den unvermittelten Trieb, immer weiterzulaufen, ungeachtet seines ursprünglichen Ziels. Weiter und weiter über die Schneeebene zu wandern, bis Aei verschwunden war, bis alles, was er kannte, nicht mehr da war – Liraun vergessen, ihr Kind, Ferri, die Erde, sein ganzes altes Leben ablegen und vergessen, weitergehen, bis er an einen neuen Ort geriet, eine neue Stadt, um neu zu beginnen. Es durchfuhr ihn wie sexuelle Begierde, wie ein elektrischer Strom, wie ein heißer drogengeschwängerter Wind. Es schüttelte und beutelte ihn. Einen Augenblick lang beherrschte es ihn und ritt auf ihm wie ein Dämon, dann riß er sich los. Der Wind peitschte es fort, und es war verschwunden. Er zwinkerte. Er schüttelte den Kopf.

Er ging weiter.

Immer noch kein Gebärhaus.

Die Landschaft um ihn herum war unter einer mindestens zwanzig Zentimeter dicken Schneedecke begraben, wenn man auch die Nordstraße irgendwie makellos frei gehalten hatte. Hier wuchs nichts mehr, wenn man von ein paar Schneebäumen absah, die in kleinen Hainen über niedrige Hügel verstreut waren. Sie waren hoch, üppig und durchsichtig, wie Riesenspargel, wie Wachsbohnen, mit spitzen ebenholzschwarzen Kronen. Sie waren heliotrop und drehten sich zur Sonne auf ihrem Weg nach Westen. In dieser Jahreszeit, im tiefsten Winter, blühten sie, und die Luft war voll von den weißen Wolken ihrer Samen. Eine Weile lang erlebte Farber beim Wandern über die Straße eine sonderbare, angenehme Attacke von déjà vu, die so lange blieb, bis er den Grund dafür herausgefunden hatte. Es war ein ungewöhnlich warmer Tag für die Jahreszeit – für Shasine im Winter –, und das helle Sonnenlicht, der verhangene blaue Himmel, die treibenden Samen, dies alles zusammengenommen kam – wenn man den Schnee ignorierte – in der Wirkung einem sanften Frühlingstage auf der Erde gleich. Hemdsärmliges Wetter, Vögel singen unsichtbar im leuchtenden Himmel, süße Wolken von Kirschblüten im Wind, vielleicht eine Bande lärmender Kinder, die irgendwo Fußball spielen. Die Vision war für ihn so real, daß er fast den Mantel auszog, so abwesend war er. Aber die »Vögel« waren Eidechsen oder kleine geflügelte Beuteltiere; der Samen hatte einen üblen, fauligen Geruch, und was auch immer vor ihm lag, es war beileibe kein Fußballspiel. Das wurde ihm innerhalb eines Augenblicks klar, und die Illusion verschwand. Wieder und wieder tappte er in die Falle von Bildern und alten Denkweisen, die hier nicht mehr zutrafen, und wiederholt verriet ihn Weinunnach, ließ ihn das Nachsehen haben, riß ihm den Boden unter den Füßen fort, schlug ihm ins Gesicht. Wie lange würde es dauern, bis er gefühlsmäßig akzeptierte, daß er nicht mehr auf der Erde war?

Plötzlich zitterte er. In der Luft lag ein bitterer, knochentiefer Frost, den das direkte Sonnenlicht nur einen Augenblick lang verhüllen konnte. Eine plötzliche Kurve brachte ihn zu einem Schrein am Straßenrand, verlassen, zur Straße hin offen und ein Stück in den Boden versunken. Die halbrunde Wand, die ihn umgab, bestand aus kleinen Stücken aus Marmor, Porzellan und Keramik. Im Schrein standen Steingötter, vierschrötige, starrende Götter von etwa vier Fuß Höhe, mit grotesken Gesichtern und knorrigen Händen, ein wenig an den aztekischen Stil erinnernd. Einige erkannte er. Die Warmen Wesen, geschnittene Jade mit Silber und Knochenintarsien, hatte man umgedreht, so daß die Gesichter zur Wand blickten. Für den Rest des Winters würden sie so abgewandt von einer Welt bleiben, deren Schicksal sie nicht kontrollierten und deren Leiden sie auf keine Weise verhindern konnten. Die Kalten Wesen, aus verwittertem Gestein und poliertem Obsidian, hatte man nach vorn in den Schrein gestellt, und sie dräuten über der Straße. Ihre Gesichter waren grimmig, unglücklich und stolz. Ihre leeren schwarzen Obsidianaugen schienen ihm beim Vorbeigehen zu folgen.

Eine Viertelmeile nach Passieren des Schreins gab Farber auf. Er blieb geschlagen auf einer kleinen Anhöhe stehen und versuchte, wieder Luft zu bekommen. Hinter ihm ragte die Altstadt wie ein zersplitterter Baumstumpf über den Rand der Welt; fern im Westen sah er die wintergestreiften Bäume eines Obsthains, aus der Entfernung winzig wie Zweige; vor ihm, im Norden und Osten, lagen die schneeverhüllten Dünen – wie eine Miniaturbergkette – und das Alte Meer. Das Wasser war kalt, metallisch und träge, und die Strände waren eisumschlossen. Die einzigen Laute waren der Wind und das Stöhnen des Packeises, das unter den langsamen Wellen knirschte und brach. Das Licht begann zu schwinden, und es wurde kälter. Die Verlassenheit der Szenerie war unbeschreiblich – mehr als man ertragen konnte. Er konnte nichts anderes tun, als aufzugeben und zurück nach Aei zu gehen. Seine Suche war ohnehin gescheitert; er war fast drei Meilen von der Kreuzung der Nordstraße entfernt, und das Gebärhaus konnte nicht so weit draußen liegen. Zögernd wandte sich Farber zur Rückkehr. Er hob den Fuß zum ersten Schritt. Dann hielt er inne und verlagerte sein Gewicht noch nicht.

Der Wind trug ihm eine leise, kristallen klingende Musik zu.

Einen Augenblick dachte er, diese Musik sei in seinem Kopf, eine Wiederkehr seines alten Traums vom Alàntene, aber sie nahm stetig an Lautstärke und Deutlichkeit zu: glitzernde Arpeggios, die sich mit der lebendigen Autorität silberner Spitzen in jetschwarzem Holz in den Wind nagelten, darunter lag ein leises Donnern von Trommeln.

Farber blickte nach Süden über die Straße, zurück auf Aei, und nach kurzer Zeit sah er, wie das staubige Sonnenlicht sich auf bronzenen Masken und Eisenhelmen brach, auf prächtigen Stoffen glänzte und die hohen nickenden Kopfputzfedern sichtbar machte. Die Sonne glitzerte hell auf Onyx, Bernstein und Amethyst. Aus dieser Entfernung sahen die Dahinziehenden klein und dicht gedrängt aus – wie ein phantastischer Tausendfüßler mit Stoffkörper und in tausend Farben, Dutzende von winzigen Beinchen schritten im gleichen Rhythmus, Hunderte von gestiefelten Füßen schlugen auf die Steine. Blitzend, windend, stampfend, schwankend, mit klingender Musik schlängelte sich der Tausendfüßler aus den Hügeln auf ihn zu.

Er setzte sich auf einen Felsen, um auf ihn zu warten.

Zehn Minuten später war die Prozession herangekommen. Er saß und beobachtete ihr Vorbeiziehen, ohne ein Miene zu verziehen und reglos wie die Statuen im Schrein, wenn auch der Stein seine Schenkel durchkühlt hatte und die Kälte die Beine hinaufzog. Das war die Prozession eines reichen Hauses, wahrscheinlich von einer der Tausend Familien, und bestand aus über zwanzig Personen. Zuerst kamen die Impersonatoren, die die Talismane auf langen Stäben oder als Maskenköpfe trugen, dann eine Gruppe Zwielichtmänner um die Mutter herum; ihnen folgten die Musiker mit ihren Trommeln und tikans und den Nasenflöten. Alle wirkten ausgeruht und frisch. Der Marsch vollzog sich rasch und wohlgeordnet; die Musiker spielten unaufhörlich, die Talismane wurden hoch und aufrecht an ihren Stäben getragen, offensichtlich ohne jegliche Anstrengung, wenn auch einige von ihnen an die dreißig, vierzig Pfund wiegen mußten. Trotz seines offensichtlich hohen Alters ging der Twizan in einer komplizierten Schrittfolge, schoß von einer Seite der Straße auf die andere, wirbelte und sprang, schleuderte ein paar Handvoll braunen Staubs in die Luft – es roch nach Muskat und Zwiebeln, und Farber mußte beinahe niesen. Der Twizan atmete nicht einmal sonderlich schwer, wenn er auch schon an die achtzig Jahre alt sein mußte. Farber hatte die unglaubliche Lebenskraft der Cian nie so deutlich vor Augen gehabt wie hier. Ein schneller Marsch über drei oder vier Meilen bei einer Temperatur von nahe null Grad hätte eine terranische Frau im letzten Stadium der Schwangerschaft sicher umgebracht oder eine Frühgeburt ausgelöst, aber irgendwie war die cianische Frau noch auf den Beinen, ging zwischen der Soúbrae – diese Alte Frau war fett, stämmig und fast kahl, aber ebenso kalt und alt – und den stillen, kostümierten Feten daher. Das Gesicht der Mutter wirkte abgehärmt und leer und so grau wie Asche. Ihre Haut glänzte trotz der Kälte klebrig vor Schweiß. Manchmal stolperte sie, und die Soúbrae reichte ihr eine Hand, um sie zu stützen. Aber sie ging weiter.

Sie alle ignorierten Farber vollständig, und er unternahm keinen Versuch, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Still saß er auf seinem Felsen und schwieg, und nach kurzer Zeit war die Prozession den Hügel hinab und außer Sichtweite in einem Schneebaumhain verschwunden.

Er gab ihnen fünf Minuten, stand dann auf und folgte ihnen.

Das Gebärhaus lag noch eine dreiviertel Meile weiter die Straße entlang. Es war ein niedriges Flachdachgebäude aus grobem grauen Gestein, lag mit der Front zur Straße und breitete sich nach hinten in die niedrigen Hügel aus. Wahrscheinlich war es in den Berg hineingebaut. Es gab keine Fenster, und Farber konnte nur eine Tür sehen. Es war ein unscheinbares Gebäude, und man hätte es leicht für ein Lagerhaus halten können, wenn sich nicht die Prozession in einem Halbkreis davor aufgestellt hätte. Als er ankam, vollzogen sie gerade das Ritual der Erwartung, feierten bereits die Kommende-Übertragung. Farber beobachtete die Szene aus etwa dreißig Schritt Entfernung, stand mit gegen die Kälte zusammengezogenen Schultern dort. Wieder war er deutlich zu sehen, und wieder ignorierte man ihn, als existiere er gar nicht. Farber hatte hier nichts zu suchen, und wenn er schnüffelte, dann war das ein Zeichen für seinen schlechten Geschmack, seine Ungebildetheit. Niemand würde sich der Gefahr einer Vergiftung durch Farbers disharmonisches Wesen in dem Versuch aussetzen, auch nur irgendwie auf ihn zu reagieren. Das Ritual war kurz: Nachdem die Mutter von dem Twizan gesalbt worden war, führte die Soúbrae sie zum Gebärhaus, zu der hohen Eisentür in der glatten Steinwand. Die Tür öffnete sich. Man erhaschte einen kurzen Blick auf jemanden in weißer Kleidung. Die Mutter betrat das Gebärhaus. Hinter ihr schloß sich die Tür.

Die Soúbrae wandte sich um, und die Prozession war vorbei. Die Beteiligten gingen nicht mehr in strenger Reihenfolge, sondern wurden wieder zu einer formlosen Gruppe von Individuen. Sie machten sich in beliebiger Ordnung auf ihren Weg zurück nach Aei, redeten miteinander, lachten über Scherze, die Musiker hingen die Instrumente über den Rücken, die Impersonatoren legten die langen Stäbe auf die Schultern. Die meisten blickten Farber im Vorübergehen wiederholt an. Nur die Soúbrae und der Twizan sahen nicht hin, und sie strahlten kühle Ablehnung aus. Innerhalb weniger Minuten waren sie auf der Straße verschwunden, und Farber war wieder allein.

Er wartete.

Der Wind stöhnte vom Meer her; die Sonne glitt nach Westen auf den Horizont zu.

Sonst regte sich nichts – alles war kalte Stille und Spannung.

Er wartete, fror, kauerte sich gegen die Kälte nieder, begann schließlich mit Turnübungen gegen die Kälte: Arme gegen den Körper schlagen, Kniebeugen, auf der Stelle laufen, und er fragte sich dabei, was die ihn möglicherweise beobachtenden Cian bei seinen Bewegungen wohl vermuteten, fühlte sich auffällig und absurd, machte aber entschlossen weiter. Seine Bewegungen brachten den Kreislauf wieder in Gang, sein Atem verpuffte in kleinen, heftigen Explosionen einer alten Dampflok nicht unähnlich, aber er wartete hartnäckig weiter. Er belagerte das Gebärhaus noch eineinhalb Stunden lang, während der lange Nachmittag in dunkle Nacht überging. Während dieser Zeitspanne kamen zwei weitere Prozessionen aus Aei an. Es waren weniger aufwendige Angelegenheiten von ärmeren Familien – keine bestand aus mehr als zwölf Mitgliedern, und ihre Kostümierung war nicht so prächtig. Alle Beteiligten ignorierten ihn, wie auch die Bewohner des Gebärhauses ihn in den langen Zwischenräumen zwischen den Prozessionen ignoriert hatten. Während Farber zusah, brachte die letzte Prozession die Mutter in das Haus hinein, zündete dann rauchige, rußige Fackeln an – es war jetzt vollständig dunkel – und zog zurück nach Aei. Ihre Fackeln wurden kleiner, wurden zu winzigen zuckenden Flämmchen und erloschen eine nach der anderen. Wieder war Farber allein und starrte auf den geheimnisvollen, kahlen Steinbau.

Drei Frauen waren in das Gebärhaus gegangen.

Keine war wieder herausgekommen.

Zitternd glitt Farber plötzlich nach vorn, von der Straße hinab, stampfte durch den knietiefen Schnee. Er wußte nicht, wohin er wollte oder was er zu tun gedachte – wie ein Pfeil, der plötzlich losgelassen wird, schoß er los, ging, weil er gehen mußte. Eine Eingebung hatte ihn hierhergebracht, Mißtrauen hatte ihn hier gehalten, und es war ein Verdacht, der sich nun zur Unerträglichkeit verdichtet hatte, der nun wie eine Bogensaite unter Druck setzte und ihn auf sein Ziel zujagte. Dieser Verdacht war wortlos, unbegründet, irrational; er hatte ihn nicht einmal bewußt weiter verfolgt. Aber auf der unbewußten Ebene war er akzeptiert und geglaubt worden – nun suchte er nach Beweisen. Er begann das Gebärhaus zu umrunden, kämpfte sich durch dichtes, wintergestreiftes Gebüsch. Zweige knackten unter seinen Schritten wie Knochen, und Zweige peitschten ihm in die Augen. Der Schnee reichte ihm bis zum Schenkel, dann bis zur Hüfte. An der Seite erhoben sich die grauen, glatten Wände des Gebärhauses. Er grinste nervös, während er sich durch den Schnee kämpfte. Das Haus hatte überhaupt keine Fenster.

Auf der anderen Seite des Hügels fand er eine weitere Tür. Es war eine einfache Tür aus beschlagenen Brettern, fast nur ein Ausschlupf, in die Seite des schneebedeckten Hügels eingelassen, wo das Haus gegen den Felsen stieß. Vor der Tür befand sich eine flachgetrampelte Fläche, und dort standen zwei oder drei rechteckige Kästen, ungefähr vier mal vier Fuß groß. Abfall, war Farbers erster Gedanke, so vertraut und normal erschien ihm die Szene. Aber die Kästen waren aus hartem Holz, unbehandelt, aber glattgehobelt, und sie sahen kräftig und gut verarbeitet aus. Keine Wesen machten um Müll soviel Aufwand. Farber wollte näher herantreten, um sie zu untersuchen, als er von der Tür ein lautes, metallisches Klicken hörte, gefolgt von einem rostigen, quietschenden Geräusch. Farber erstarrte halb geduckt und spähte vorsichtig hinüber.

Die Tür schwang auf. Gelbes Licht ergoß sich über den festen Schnee. Zwei silbergewandete cianische Techniker tauchten aus dem Tunnel auf und trugen einer der rechteckigen Kisten zwischen sich. Sie setzten sie neben die anderen Kisten und redeten ein paar Minuten lang leise miteinander. Silberblau hob sich ihr Atem vor dem hellen Licht aus dem Tunnel in der Luft ab; ihre dürren, von hinten erleuchteten Schatten erstreckten sich lang über das kahle Land. Dann gingen sie wieder hinein. Die Tür schloß sich. Das Licht erlosch.

Farber rutschte auf dem Rücken den Hang herab, glitt unten weiter, die Beine hilflos in die Luft gestreckt, weil er zuviel Geschwindigkeit erreicht hatte, um bremsen zu können, und landete in einer Schneewehe. Er arbeitete sich keuchend heraus, schlug sich den Schnee von den Kleidern und richtete sich vorsichtig auf, um nachzusehen. Er bemerkte einen undeutlichen Pfad von der geräumten Fläche vor der Tür, der sich nach Norden und Westen wand und sich in den fernen, wintergefangenen Hügeln verlor. Es war kaum mehr als ein in den Schnee gestampfter Pfad, aber Farber hätte wetten mögen, daß auf diesem Weg die Kästen abtransportiert wurden, wahrscheinlich von den Tausendfüßlern oder einem anderen großen Zugtier. Er betrat die geräumte Fläche und blieb stehen, um auf irgendwelche Gerausche zu lauschen. Nichts. Nervös ging er auf die Kästen zu und kniete bei einem von ihnen nieder. Er ließ die Hände über den Deckel gleiten, untersuchte ihn, fing sich einen Splitter ein. Vorsichtig zog er ihn heraus. Die Kiste war zugenagelt, aber nicht allzu fest. Abrupt beschloß er, es zu riskieren. Er grub die Finger unter den Deckel und fand Halt. Dann holte er tief Luft, hielt fest und schien wie eine Kröte anzuschwellen. Seine riesigen Hände verspannten sich, das Handgelenk bog sich, die Schultern zogen sich zusammen – man hörte das knackende Geräusch von splitterndem Holz, und der Deckel flog auf. Er schwankte über der Kiste und rang nach Luft. Die beiden hellsten Monde waren aufgegangen, schwangen wie Meteore über den Himmel, warfen ein dämmriges, milchiges Licht über die abendliche Schneelandschaft, aber man konnte immer noch nicht gut sehen, und die sich bewegenden Doppelschatten verursachten ein zusätzliches Problem. Farber kniff die Augen zusammen, griff zögernd in den Kasten und wühlte darin herum. Seine Hände trafen auf etwas Glattes und Hartes – es rollte unter seiner Berührung fort. Wieder griff er danach, faßte es und hob es rasch aus der Kiste ans Licht.

Es war ein Schädel.

Farber knurrte, als habe man ihn in den Magen geschlagen und ließ ihn fallen. Der Schädel fiel mit einem knochigen Tschunk in den Schnee, drehte sich herum und rollte langsam in die Schatten. Die Welt pulsierte, und die Zeit blieb stehen – Farber war wie erstarrt. Die Finger hielt er noch so ausgestreckt, wie er den Schädel fallen lassen hatte, während eine Dekade verstrich, ein Jahrhundert, ein Jahrtausend – dann ein Pulsund die Zeit begann wieder, die Welt kippte und wirbelte um seinen Kopf, als er seinen Körper zurückzerrte, so daß er schwer auf den Fersen saß und die Hand krampfhaft schüttelte, als habe er etwas Heißes berührt. Er schlug die Augen zu und öffnete sie wieder. Der Krampf ging vorbei, und die Welt drehte sich nicht mehr. Er fuhr sich mit der Hand an die Kehle und ließ sie wieder sinken. »Nein«, sagte er mit lauter, tonloser, fast sachlicher Stimme. Er merkte, daß er unfreiwillig grinste, freudlos, ein Grinsen des Grauens. Zugleich sagte ein abgelegener Teil in ihm: Du wußtest, was es sein würde, leidenschaftslos, furchtlos und ganz und gar nicht überrascht.

Er zwinkerte. Dann griff er grimmig noch einmal in die Kiste. Brüchige tote Gegenstände, rasselnde, rollende Dinge, die unter seinen Fingerspitzen klapperten. Kalte, unangenehme Oberfläche. Wie Porzellan, dachte er unsinnigerweise. Knochen. Rippen, Wirbel, Finger, Schenkel, eine Hüfte.

Er kroch zur nächsten Kiste hinüber – kroch auf Händen und Füßen, ohne sich aufrichten zu wollen, wie ein Krebs – und zerrte sie auf, achtete nicht auf die Geräusche, schlug mit der Handfläche wütend und heftig darauf, als ein Nagel steckenblieb, hob den Deckel mit traumartiger Langsamkeit hoch, als sei er ein Schmetterling, und riß dann mit einem plötzlichen Ruck das Ende heraus. Unter seinem Fingernagel saß nun ein langer, schmerzhafter Splitter, aber er ignorierte ihn. Rücksichtslos griff er in die Kiste und schaufelte eine Handvoll des Inhalts heraus. Ja, Knochen. Und noch mehr Knochen. Er erstarrte wieder, das Gesicht zum Himmel gewandt, kauerte grotesk mit einem Armvoll brüchiger weißer Knochen am Boden, wie ein Gespenst, das man beim Holzsammeln erwischt hat. In ihm befand sich ein sonderbares, gefährliches Vakuum, das darauf wartete, durch Panik und Entsetzen gefüllt zu werden, die längst da sein mußten, von ihm nur noch durch eine dünne Glasschicht getrennt. Ruhig und geduldig kauerte er dort in der Dunkelheit und wartete darauf, daß das Glas zerbrach.

Hinter ihm ertönte von der Tür her ein lautes, quietschendes Geräusch.

Das Glas zerbrach. Das Vakuum füllte sich. Noch ehe das Licht aus der Tür die geräumte Fläche überfluten konnte, war Farber fort, ließ die Knochen fallen und sprang mit einem einzigen, riesigen Satz fort wie eine aufgescheuchte Katze. Drei Schritte brachten ihn zum Rand der Fläche, dann den eisigen Hang hinaufkriechend, wühlend mit Händen, Füßen, Fingernägeln, Knien, Ellenbogen. Und er rannte und stolperte durch die Schneewehen, kämpfte sich seinen Weg vorwärts, taumelte, fiel, durchpflügte den Schnee, schwamm fast durch den Schnee. Wieder hoch. Ein rauher Schrei hinter ihm, und er rannte schneller, zog die Knie bei jedem Schritt so hoch hinauf wie möglich, um aus dem Schnee zu kommen. Dann stieß sein Fuß in Luft. Er fiel aus den Schneeverwehungen auf die Straße, traf schmerzhaft auf, rollte herum und kam zum Laufen wieder hoch. Glücklicherweise war sein Gesicht nach Süden gerichtet, als er wieder auf die Beine kam, in die Richtung Aeis, denn er wäre nicht mehr in der Lage gewesen, sich zu orientieren. Seine Gedanken waren unter einer Überlast von Panik und abergläubischem Entsetzen vollständig verschwunden. Doch sein Körper kannte den Befehl, so schnell wie möglich zu rennen, und dafür waren das trockene harte Pflaster unter den Füßen und die plötzliche Befreiung von den Schneelasten ein Segen. Er rannte.

Irgendwo in der rauchigen Nacht hinter ihm ertönte ein weiterer Schrei. Er war bereits leiser durch die Entfernung, wurde noch leiser, verklang.

Farber rannte weiter.