18

 

Es war die Nacht des Herannahenden Frühlings, und die Straßen der Neustadt waren lichtüberflutet. Das Licht schimmerte aus dämonischen Masken, glitzerte auf juwelenbesetzten Kostümen und ließ Haut und Stoff und Schatten sonderbar zusammenfließen. Jemand hatte auf dem Töpferplatz ein Freudenfeuer entzündet, und die Flammen fraßen Löcher in den Himmel. Der Lärm war ohrenbetäubend. Die Kachelstraßen und -plätze und -gäßchen waren voller torkelnder, taumelnder Halbgötter. Sie umklammerten Farber, versuchten, ihn zum Bleiben und Mitfeiern zu bewegen, aber er riß sich grob von ihnen los. Er benutzte Knie und Ellenbogen, sich seinen Weg durch die Menge zu bahnen wie ein Tintentröpfchen durch einen dicken, prächtigen Gobelin. Die Luft roch nach Ingwer, Harz, Moschus. Ein Dämon mit gehörnter, hölzerner Maske bot ihm eine halbleere Weinflasche an. Er schlug sie beiseite.

Walpurgisnacht, war sein einziger Gedanke.

Als er ein Wirtshaus gefunden hatte, zeichnete Feuerwerk leuchtende Pastellnovas hinter die steilen Schieferdächer. Drinnen war es staubig, dunkel und fast leer. Die Leute drinnen hingen ihren eigenen Gedanken nach und beachteten ihn nicht. Er kaufte eine Flasche von dem starken einheimischen Schnaps von dem Wirt und nahm sie in eine Ecke des Gastraumes mit.

Er widmete sich der Flasche wohl eine Stunde lang, starrte dabei auf den zerkratzten Tisch, war sich der verstrichenen Zeit nicht bewußt.

Als er wieder aufblickte, saß Tamarane an seinem Tisch.

Er blinzelte sie erstaunt an. Er hatte sie nicht hereinkommen hören, dessen war er sicher – sie war einfach dort aufgetaucht, wie Rauch, wie ein Geist mit gebrochenem Gesicht.

»Meine Freunde haben mir gesagt, du seist hier, Erdenmensch«, sagte Tamarane. »Ich wollte mir ansehen, wie du bist.«

»Und wie bin ich?« fragte er bitter.

»Ich weiß es nicht … sonderbar. Jemand, der Lirauns Tod nicht wert ist, soviel weiß ich zumindest.«

Farber errötete. »Sieh mal …«

»Sie war unsere Beste, weißt du«, sagte Tamarane und ignorierte ihn. »Ich habe ihr das nie gesagt. So eng waren wir nie befreundet, aber sie war unsere Beste. Und nun ist es zu spät, es ihr zu sagen. Jetzt ist sie tot.«

»Gottverdammte Hexe! Sie ist noch nicht tot.«

»Doch, das ist sie«, gab Tamarane ruhig zurück. Sie sah ihn eindringlich an, aber mit offensichtlicher Gleichgültigkeit, als sei er ein Untersuchungsobjekt auf einem wissenschaftlichen Dia. »Du hast sie elendig scheitern lassen, weißt du das? Sie war immer eine Rebellin, einsam, die Fremde, hat mich vor der Opeinade gerettet, was sonst niemand in Aei getan hätte. Sie hatte das Potential, sich von hier zu befreien, aus diesem öden tödlichen Land, die Bräuche zu ignorieren, aus Shasine zu entkommen. Sie wäre nicht vollständig fortgegangen, denn trotz all ihres Widerstandes und ihrer Trotzigkeit hätte sie sich nicht so von den Bräuchen befreien können wie einige von uns, die weniger mutig waren als sie und es still und unauffällig taten, während sie vorgeblich gehorchten. Sie hat jemanden verdient, der ihr geholfen hätte, den ganzen Weg zu gehen. Statt dessen kamst du und hast sie wieder zurückgestoßen.«

»Ich habe eure barbarischen Bräuche nicht erfunden, Schätzchen«, schnappte Farber unter rauhen Atemstößen. »Ich habe auch nicht gemerkt, daß du ihr geholfen hast, eh? Ich habe nicht mitbekommen, daß du ihr gesagt hast, sie solle fortgehen. Immerhin wußtest du über diesen ganzen Blödsinn Bescheid – und ich nicht. Nein, ich habe nur gemerkt, daß du getan hast, als seist du eine gute, loyale Frau wie alle anderen und ansonsten den Mund gehalten hast. Stimmt’s?«

Tamarane blickte auf ihre Hände, ballte die Finger zusammen und löste sie wieder voneinander, und lange Zeit herrschte zwischen ihnen Schweigen.

»Ich habe bei ihr auch versagt«, sagte sie schließlich. »Wir alle haben versagt. Sie selbst – sie hätte entkommen können, tat es aber nicht. Verdammt!« rief sie plötzlich in Terranisch. »Verdammt sei sie! Warum hat sie sich nicht durchgesetzt?« Ihre blitzenden schwarzen Augen durchbohrten Farber. »Und du sollst auch verdammt sein! Warum konntest du das nicht begreifen? Warum konntest du ihr nicht helfen? Und ich bin auch verdammt …« Ihre Augen verschwammen, wurden undurchsichtig, und eine neue lange Pause trat ein. »Es gibt zuviel Stille, zuviel Angst, zuviel In-den-Tag-hinein-leben, zuviel Den-Weg-des-geringsten-Widerstands-gehen. Nicht genügend Fragen, nicht genug Arbeit. Wir alle haben versagt, alle.«

Sie nahm einen tiefen Zug aus Farbers Flasche, schüttelte sich und stand auf. »Ich gehe heute nacht zum Fluß hinunter«, sagte sie. »Werde in einem Eisboot nach Süden zu Katrine geschmuggelt wie Konterbande. Es gibt andere Orte auf dieser Welt außer Shasine, andere Städte als Aei, in denen man leben kann, selbst wenn die Schattenmenschen dies nicht für möglich halten. Das hättest du mit deiner Frau tun sollen, Erdenmensch – vor langer Zeit, ehe es zu spät war.«

»Es ist nicht zu spät«, gab Farber hartnäckig zurück. »Es ist immer noch Zeit dafür, wenn ich es will, und vielleicht will ich es eines Tages. Keine schlechte Idee, wenn es auch hart sein wird, auf diesem elenden Planeten außerhalb des Einflusses von Shasine zu leben.« Er winkte Tamarane mit der Hand zu. »Du hast mich abgeschrieben, eh? Aber du liegst falsch. Ich werde Liraun schützen, mach dir darüber keine Sorgen – ich werde sie sogar vor sich selbst schützen, falls das nötig sein sollte. Nichts wird ihr geschehen, solange ich da bin.«

Tamarane blickte ihn fragend an; harte, bittere Ironie kehrte zurück, als Schmerz und Schuld ihre Züge verließen. »Wenn dies vorbei ist, Erdenmensch, denk nur an eines – die Schattenmenschen könnten Liraun retten, wenn sie wollten. Sie könnten uns alle retten. Sie haben das Wissen, die Technologie. Aber in die Religion kann man sich nicht einmischen, oder? Und natürlich, die Feste sind so schön …« Sie zog eine Grimasse; ihr verzerrtes Gesicht wand sich in einem merkwürdigen Schmerz. »Wiedersehen, Erdenmann«, sagte sie. »Ich will dir nichts Böses, aber ich wünschte, du wärest dort geblieben, ich wünschte, du wärest dort gestorben – auf der Erde.«

»Wiedersehen, Tamarane«, sagte Farber rauh, fast freundlich. »Das Leben in Shasine ist hart und wenig flexibel. Harte Dinge aber sind brüchig.« Sie lächelte. »Brüchiges bricht leicht.«

Sie ging hinaus.

Farber bestellte noch eine Flasche.

Zum ersten Mal seit Monaten betrank er sich bis zur Bewußtlosigkeit.

Als er am Morgen erwachte, fühlte er sich wie eine Leiche. Kein Teil seines Körpers schien richtig zu funktionieren. Der Cian, der ihn die ganze Nacht über in der Ecke hatte hocken lassen, starrte ihn entgeistert an. Er starrte ohne Scham oder Interesse zurück. Der Wirt schlug mit vor Ekel erstarrtem Gesicht höflich vor, daß – da sein Haus bei weitem zu ärmlich sei, um ihn angemessen zu bewirten – Farber sich doch freundlicherweise zu einem anderen Gasthaus bemühen möge – mit den guten Wünschen des Wirts.

 

Hinaus in den hellen Morgen, verschwitzt und stinkend.