14

 

Der letzte Monat der Schwangerschaft rückte heran, und Liraun unterzog sich einem weiteren Meerwechsel. Wenn sie auch körperlich immer noch schwach und zittrig war, so schien sie doch aus einer inneren Quelle Kraft und Würde zu ziehen. Aber nun forderte der Rat mehr und mehr von ihr, als wolle er soviel Nutzen wie möglich aus ihr ziehen, solange sie noch eine Mutter von Shasine war.

Manchmal begleitete er sie zu den Ratsversammlungen oder holte sie auf dem Rückweg von der Arbeit dort ab, und er sah und hörte genug, aus kleinen Unterhaltungsfetzen, um zu merken, daß das, was Ferri gesagt hatte, stimmte: Liraun regierte zusammen mit den sechs anderen Müttern, die im Moment den Rat bildeten, wirklich Shasine. Es war eine gewaltige, komplizierte Aufgabe, und Farber verstand nur soviel, daß er froh war, daß es nicht seine Aufgabe war. Finanzen zum Beispiel waren für die Cian ein Spiel, wie sie es für Terraner niemals hätten sein können. Sie gingen damit um wie in einem Märchenspiel. Wenn dies auch auf der Erde der Fall war, so gab man es dort doch selten oder nie zu – aber niemals würde man auf der Erde bereit sein, mitten im Spiel die Regeln aufzuheben oder zu ändern, wie es manchmal in Shasine geschah. Manchmal wischten sie einfach alle Schulden aus und begannen wieder von vorn, oder sie einigten sich auf einen neuen Geldwert; »Staatsverschuldung« war ein unbekannter Begriff bei den Cian. Doch diese Angelegenheiten gehörten noch zu den am wenigsten komplizierten im Zusammenhang mit der Rolle einer Mutter von Shasine, und Farber war es zufrieden, die ganze Sache Liraun zu überlassen, wenn er auch eine ganze Weile brauchte, um sich an seine neue Rolle als »First Lady«, wie er es nannte, zu gewöhnen. Jetzt war Liraun die Wichtigere – wenn er überhaupt irgendwelche Bedeutung besaß (viel bestimmt nicht), dann nur, weil er mit ihr verbunden war, weil sie ihn gern um sich hatte, als sei er ihre Lieblingskatze.

An einem Tag in diesem Zeitraum wurde er Zeuge eines sonderbaren Vorfalls, den er erst Wochen später begreifen sollte.

Er und Liraun befanden sich auf dem Rückweg von einer Ratsversammlung. Als Mutter von Shasine hatte Liraun nun eine Karosse, die von einem der traurigen Tausendfüßler gezogen wurde, sowie einen Kutscher, der ihr zu jeder Tages- und Nachtzeit zur Verfügung stand. Farber durfte nur auf besondere Anweisung hin mit der Kutsche fahren, und er erhielt stets viele ablehnende Blicke, wenn er sie bestieg oder verließ. An diesem Abend waren sie fast schon in der Row, als irgend etwas die Grabesstille, die zu dieser Nachtzeit in der Altstadt die Regel war, durchbrach: ein gespenstisches, klagendes Heulen von einem Musikinstrument, einem Horn vielleicht oder einer Flöte. Wieder ertönte es, disharmonisch und verzweifelt, ein Geräusch, wie es vielleicht eine verlorene Seele während ihres Abstiegs in die Hölle von sich gibt. Dann ertönte eine Trommel, hart, rasselnd, mit einem wahnsinnigen Rhythmus, der wie ein Betrunkener vor und zurück taumelte.

Beim ersten Ton des »Horns« saß Liraun kerzengerade in der Kutsche, und Farber spürte, wie sie vor Angst zitterte. Jetzt – beim Ton der Trommel – schwankte sie und fuhr sich entsetzt an die Kehle. »Eine Opeinad!« flüsterte sie. Eine Sekunde lang saß sie still wie ein Stein, aber dann – Farber öffnete gerade den Mund, um zu fragen, was los sei – sprang sie auf die Füße und schlug gegen den Kutschersitz, um den Wagenlenker aufmerksam zu machen. »Die Opeinade! Suche sie! Folge den Tönen!«

Der Kutscher drehte sich um und starrte sie an. Sein Gesicht sah ablehnend verständnisvoll aus. »Aber Mutter, Ihr wißt, daß ich das nicht tun kann …«

»Tu, was ich dir sage«, knurrte Liraun. »Suche sie. Sofort!«

Achselzuckend und murmelnd drehte der Fahrer den Wagen und lenkte ihn den Weg zurück. Farber streckte die Hand aus, um Liraun zurückzuziehen, aber sie schüttelte ihn ab und blieb stehen und hielt sich am Sitz des Kutschers fest. »Liraun …« begann er, doch da beugte sie sich nach vorn und rief: »Schneller!« Ohne sich umzudrehen sagte der Kutscher mit erstickter, ablehnender Stimme: »Aber Mutter …« Liraun schlug ihn mit der flachen Hand in den Rücken, so fest sie konnte, und schrie: »Schneller! Die kalten Wesen werden dich verschrumpeln lassen, wenn du nicht schneller fährst!« Das reichte dem Kutscher. Niemand wollte, daß ihm eine Mutter von Shasine etwas Böses wünschte. Zischend trieb er den Tausendfüßler mit einem langen Stock an. Der Tausendfüßler muhte traurig, schüttelte sich und begann mit der doppelten Geschwindigkeit dahinzugleiten, rumpelte über die Steine und Furchen auf der Straße.

Unglücklicherweise hatte die Karosse nicht das vielfache Aufhängesystem wie der Tausendfüßler: Sie tanzte und holperte wild, während Farber Liraun zuschrie, sich hinzusetzen. Sie ignorierte ihn. Farber konnte kaum sitzen bleiben, doch Liraun hielt sich leicht aufrecht, verlagerte bei jedem Stoß das Gleichgewicht, als surfe sie – reglos starrte sie vor sich in die Dunkelheit; die Haltung von Nacken und Kopf verriet ihre Spannung und Angst. Schließlich tauchten Lichter auf: Fackeln tanzten vor ihnen unten am Hügel wie ein Zug aus leuchtendroten Edelsteinen. »Sie gehen zum Platz der Segnung!« rief Liraun über das Rasseln der Räder hinweg. »Hier entlang! Häng sie ab!« Sie schlug wieder gegen den Sitz des Kutschers. »Schneller!« Gehorsam lenkte der Kutscher den Wagen in ein Gäßchen, auf das Liraun gedeutet hatte, was die Karosse fast umwarf. Sie holperten einen steilen Abhang hinab. Blaue Funken sprühten unter den Rädern hervor, als der Kutscher zu bremsen versuchte, damit sie das Tier nicht überrollten. Farber hing verwirrt und vernachlässigt auf seinem Sitz und biß die Zähne zusammen, versuchte, nicht daran zu denken, wie hart sie aufkommen würden auf dem Steinpflaster, wenn die Karre umfiel.

Holpernd und schwankend rollten sie auf den Platz der Segnung.

Liraun hatte es gut abgepaßt. Der Platz war noch leer, aber sie konnten das Horn näherkommen hören ebenso wie das Staccatorasseln der Trommeln, und daneben war ein Ton, wie ihn eine große, wütende Biene von sich geben konnte: ein einstimmiges, rätselhaftes Summen.

Die Kutsche kam kreischend zum Stillstand. Die Bremsen wirbelten drei Fuß hoch die Funken in die Luft, und sie war noch nicht völlig zum Stehen gekommen, als Liraun heraussprang und auf die Mitte des Platzes zurannte. Farber jagte ihr nach, rief ihren Namen, fürchtete, sie würde sich verletzen. Aber trotz der Schwangerschaft rannte sie wie ein Reh, und sie war fast zwanzig Schritt vor ihm, als die andere Frau auf den Platz schoß.

Auch diese Frau rannte, doch sie stolperte und taumelte beim Laufen, und es war offensichtlich, daß sie am Ende ihrer Kraft war. Gerade als er hinsah, stolperte sie und fiel zu Boden, rollte mehrmals herum und blieb mit dem Gesicht nach unten liegen. Sie versuchte nicht, wieder aufzustehen, sondern blieb ausgestreckt auf dem Pflaster liegen, nur die Schultern bewegten sich unter schwerem Keuchen. Hinten ergoß sich die Opeinade aus einem Gäßchen heraus auf den Platz. Für Farber wirkten sie wie aus einem alten Frankenstein-Film: Zwei oder drei Dutzend Männer mit Fackeln und improvisierten Waffen, Keulen, Pflastersteinen, Rohrstücken; ein Twizan schleuderte rituell etwas hin und her, das absurderweise wie eine riesige Zickzackschere aussah. Es hätte lustig, ja lächerlich wirken können, aber das war es nicht. Die Gesichter der Männer waren wütend und ernst. Die entblößten Fangzähne glitzerten böse; die Augen waren hart wie Stahl, und Farber dachte, dies sei der schrecklichste Anblick, den er je gesehen habe. Sie sahen die Frau, heulten auf vor Wut und Freude und stürzten nach vorn.

Liraun rannte ihnen entgegen.

Sie rannte an der anderen Frau vorbei, noch ein paar Schritte auf den entgegenstürmenden Mob zu, breitete die Arme aus und wartete reglos wie eine gekreuzigte Statue, wie König Kanute, der versucht, die fremde Flutwelle aufzuhalten.

Farber, der schnell hinterherlief, um sie einzuholen, kalte Angst im Magen, schien es einen Augenblick lang so, als würde der Mob nicht stehenbleiben, als würde er Liraun überrennen, sie zertrampeln, um an die andere Frau zu gelangen. Doch fast unmerklich verlangsamte sich die Menge, fiel in den Schritt und kam ein paar Schritte vor Liraun zu einem unruhigen, wogenden Halt, wie ein Brecher, der auf seinem Weg zum Strand aufgehalten wird.

Schweigend beäugten sie sich, Liraun und die hunderthändige, vielköpfige Menge.

Dann sagte Liraun, immer noch die Arme ausgebreitet: »Die Jagd ist vorbei. Geht heim.«

Unruhig erhob sich die Menge, summte jenes ominöse scharfe Summen, und dann antwortete eine Stimme: »Die Optin!« Und eine andere Stimme: »Was ist mit der Optin?« Und noch eine weitere: »Überlaß sie uns! Sie ist eine Optin!« Sie rückten weiter vor.

Liraun trat einen Schritt nach vorn, hob die Arme höher, hielt den Mob, schien die Leute zurückzudrängen, als sei sie eine Strahlenwand mit unsichtbaren Kräften. »Optin oder nicht«, sagte sie. »Ihr sollt sie nicht haben. Sie gehört nun mir, und die Opeinade ist vorbei!« Ihre Stimme klang hart, eisig und voller Autorität. Die Menge vernahm diese Autorität und begann zögernd, unfreiwillig darauf einzugehen. Ein paar Männer hinten wandten sich bereits zum Gehen.

Hinter Liraun setzte sich die Frau auf.

Das war ein Fehler. Als der Mob ihr Gesicht sah, heulte er auf, und ein junger Mann von der Spitze schoß nach vorn und versuchte, um Liraun herumzugelangen. Zischend schnappte sich Liraun seine Fackel und schlug sie ihm heftig über den Kopf. Als er niederfiel, und die Funken im Haar ausschlug, wirbelte Liraun die Fackel herum, so daß sie hell wie ein Komet aufflackerte und schrie: »Macht, daß ihr fortkommt! Wesen aus dem Meer! Hört, was ich sage! Fort hier! Sofort!«

Und sie schleuderte die Fackel in die Menge.

Das brach den Widerstand. Sie drängten sich von dem Platz, einige verdutzt rennend, andere mißmutig vor sich hintrottend, doch keiner wandte sich mehr um.

Liraun starrte hinter ihnen her und stand so gerade wie ein Ladestock. Ihr Gesicht war leidenschaftlich und stolz. Farber beobachtete sie ehrfürchtig, hatte fast Angst vor ihr, sah in dieser zornigen Walküre keinen Zug mehr von jener Liraun, die er zu kennen glaubte.

Die andere Frau richtete sich mühsam auf. Liraun unternahm keinen Versuch, ihr zu helfen. Ihr Gesicht war verschmiert von Schmutz, Schweiß und Blut, das Haar wild zerzaust. Eine Verletzung, wahrscheinlich von einem Stein, färbte eine Gesichtshälfte lila und begann anzuschwellen. Trotz dieser Entstellung merkte Farber erschreckt, daß er sie kannte. Sie hieß Tamarane und war die Frau von Lord Vrome (sein richtiger Titel lautete Hyrithakumenäe: »Ehrlicher Besitzer von Ländereien in Escrow, für einen Subsepten, dem er vorgesetzt ist«), der blutsmäßig mit der Genawen-Linie verwandt war. Er hatte sie einige Male im Haus der Genawen getroffen und einiges Gerede über sie gehört. Sie hatte nun bei zwei Weinunid-Perioden nicht empfangen und wurde für unfruchtbar gehalten.

Liraun und Tamarane beäugten sich sowie zuvor Liraun und der Mob, und zwischen ihnen herrschte die gleiche Feindseligkeit und Spannung wie zuvor.

Schließlich gelang Tamarane ein verzerrtes Lächeln mit ihrem verletzten, blutigen Gesicht. »Nun, Mutter«, sagte sie mit gebrochener, ironischer Stimme. »Danke für mein Leben.«

»Ich hätte dich ihnen überlassen sollen«, entgegnete Liraun bitter. »Ich hätte dich ihnen überlassen sollen. Nur konnte ich es irgendwie nicht …« Plötzlich schwankte sie, war nicht mehr stark, sah grau und müde und hager aus. Farber streckte die Hand aus, um sie zu stützen.

Auch Tamaranes Gesicht veränderte sich. »Liraun …« sagte sie oder versuchte es, mit Betroffenheit in der Stimme und reumütiger Zärtlichkeit. Aber Liraun schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab. »Ich will nichts von dir hören«, sagte Liraun kalt. »Es gibt nichts, was du noch irgend jemandem zu sagen hättest. Du hast dir dieses Privileg verscherzt.« Dann kam die Kutsche, und Liraun stieg, unterstützt von Farber, hinein. Sie sah Tamarane nicht mehr an.

Farbers letzter Blick auf die Szene, als die Kutsche fortrumpelte, traf auf eine Tamarane, die allein mitten auf dem Platz stand und ihnen nachsah und mit ihrem zerstörten Gesicht ein komplexes, bitteres, ironisches Grinsen grinste, als sie hinter ihnen in Dunkelheit und Geheimnis versank.

 

Liraun weigerte sich, über den Vorfall zu sprechen, doch am nächsten Tag war Farbers Arbeitsstelle voller Klatsch und Gerüchten. Man hatte entdeckt, daß Tamarane – wie, das wußte niemand – in Wirklichkeit nicht unfruchtbar war. Statt dessen hatte sie eine Droge genommen, welche die Empfängnis verhinderte (der Cian erschauerte in unvorstellbarem Entsetzen, als er dies mitteilte, und Farber fiel auf, daß es das Wort »Verhütungsmittel« in ihrem Vokabular gar nicht gab) – die besagte Droge-die-Empfängnis-verhindert sei unter enormen Mühen von den fernen Landen an der Südküste heraufgeschmuggelt worden. Daher die Opeinade. Offensichtlich konnte nur ein Optin oder eine Frau, die von einem Optin besessen war, eine so monströse Tat begehen, und das beste war, sie auszulöschen, ehe der Optin noch andere vergiften konnte. Farbers Kollegen waren alle durch Lirauns Eingriff bei der Opeinade verwirrt, aber sie tadelten sie nicht dafür – jetzt, da der kritische Moment vorüber war – und stellten auch ihre Handlung nicht in Frage: Immerhin war sie »Eine, die der Harmonie teilhaftig ist«, und von daher waren ihre Entscheidungen göttlich motiviert und per definitionem korrekt, wie unbegreiflich sie auch immer den anderen bloß untransmogrifizierten Wesen erscheinen mochten – ärgerlicherweise schlossen sie Farber in diese Bezeichnung mit ein und scherten sich nicht darum, ihn nach den Gründen für Lirauns Benehmen zu fragen, denn sie nahmen selbstverständlich an, er sei viel zu niedrig, um sie verstehen zu können.

Aber die Affaire um Tamarane war bei weitem nicht vorbei. Man hatte schon zwei Flußhändler unter dem Verdacht der Komplizenschaft beim Schmuggel der Droge-die-Empfängnis-verhindert in den Norden von Shasine verhaftet, und Tamarane selbst war in Slop verschwunden, dem Hort fremder Wirtshäuser und billiger Hotels am Vandermontufer des Aome. Niemand würde ihr etwas zuleide tun, denn eine Mutter von Shasine hatte ihren schützenden Mantel über sie gebreitet, doch zugleich war allen klar, daß sie nicht lange in Aei bleiben konnte – niemand würde ihr helfen, ihr Schutz gewähren oder ihr etwas verkaufen, außer vielleicht ein paar fremde Kaufleute von zweifelhaftem Aussehen. Aber wenn Lirauns Zeit als Mutter vorbei war, galt ihr Schutz nicht mehr, und die Opeinade würde wieder die Jagd auf Tamarane beginnen. Es gab noch weitere Spekulationen, etwa die, ob Lord Vrome vielleicht selbst an dem Verbrechen seiner Frau beteiligt war. Ob er es nun gewußt hatte oder nicht, er war jedenfalls in tiefe Ungnade gefallen.

Später nahm Farber die Zahnradbahn hinauf in die Altstadt. Er war gerade auf der Esplanade angekommen und bahnte sich seinen Weg durch die Nachmittagsmenge auf der Terrasse, als seine Aufmerksamkeit plötzlich durch das andauernde Schellen eines Gongs oder einer Triangel erregt wurde. Er blickte hoch. Dort stand ein Mann auf dem Dach eines jener hohen Gebäude am Rand der Esplanade, sechs Stockwerke hoch, stand mit den Händen im Nacken verschränkt. Ein paar Schritte hinter ihm stand ein Diener mit einem bronzenen Gong und einem Klöppel. Der Diener schlug wieder und wieder den Gong, bis die Klangwellen überall über die Terrasse wehten und jeder hochblickte. Zufrieden, daß alle Augen auf ihm ruhten, entfaltete der Mann die Hände, berührte die Brust und verbeugte sich. Dann trat er zum Rand des Daches, hob die Arme wie ein Turmspringer und warf sich in die Luft.

Der Mann schien lange Zeit in der Luft über Farber zu schweben und hatte die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt. Das Haar flatterte im Wind. Das Gesicht blickte ernst. Und dann wurde er plötzlich schneller, sauste herab und vorbei, da er den Sprung so berechnet hatte, daß er an der Esplanade vorbeikam. Der Wind trieb ihn weit hinaus, der Neustadt zu, den lotrechten, dreihundert Fuß tiefen Abhang hinab auf die Dächer von Brundane. Er wirbelte herum, wurde kleiner, ein Püppchen von der Größe eines Fingernagels, ein Tupfen, ein Fleck, verschwand vollständig, verschluckt von Ferne und Tod.

Farber hatte ihn erkannt.

Es war Lord Vrome.

Oder besser. Es war Lord Vrome gewesen.

 

Eine oder zwei Wochen später ging Farber in der Dämmerung durch eines der schmalen, engen, gewundenen Gäßchen im Inneren der Altstadt, als er von Angesicht zu Angesicht auf einen Entgegenkommenden stieß. Ein flüchtiger blutroter Sonnenstrahl, der durch einen Schacht zwischen dunklen Felsen herabfiel, beleuchtete das Gesicht des Mannes.

Es war Lord Vrome.

Farber rang nach Luft und wich gegen die Mauer zurück, war zu verdutzt, um auch nur erschreckt zu sein. »Lord Vrome!« flüsterte er, fühlte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich und seine Lippen taub wurden. Der Mann sah ihn an, das unmögliche Gesicht unbewegt und entrückt, und sagte: »Sie irren sich. Ich bin nicht Lord Vrome. Mein Name ist Tanar sur Rine.«

Er schob sich an Farber vorbei – der vor der Berührung zurückwich – und ging weiter, war innerhalb von fünf Schritten in der schleimigen Dunkelheit verschwunden.

Farber starrte ihm lange Zeit nach, bemüht, noch etwas von ihm zu sehen. Es war Lord Vrome gewesen: Das gleiche Gesicht, Zug für Zug, Körper, Statur und Gangart, alles gleich, nur die Kleidung war anders.

Aber es konnte nicht Lord Vrome gewesen sein.

Farber ging weiter. Gänsehaut überzog seinen Körper. Angstvoll blickte er in dunkle Ecken; die unheimliche Stille und das Geheimnis der Altstadt legten sich auf ihn wie ein Gewicht.

In jener Nacht träumte Farber, er sei bei der Erzeugung des Lebens zugegen.

Das war noch, bevor irgend etwas existierte, nicht einmal Berge und Meer, und die Erde war grau und glatt wie eine Billardkugel.

Farber – oder Farbers Blickpunkt, da er keinen Körper hatte – schwebte über der flachen, aschfarbenen Ebene, die sich in alle Richtungen unendlich weit zu erstrecken schien. Dann erschienen unter seinem Blick die Götter am Horizont und blickten hinab in die Welt. Es waren zwei, unendlich groß, vage humanoid, mit den leeren, roh geschnittenen, übergroßen Augen der Statuen auf den Osterinseln. Steif begannen die beiden Götter – jeder Meilen groß, und Sturm und Blitze jagten ungeachtet um sie her – nachdenklich auszuschreiten. Unter ihrem Gewicht sank der Ascheboden tief ein und rauchte. Sie gingen entschlossen geradeaus, Seite an Seite, blickten geradeaus, an Farbers Standpunkt vorbei auf den Horizont zu, verkleinerten sich zur Größe großköpfiger Tiki-Totems, verschwanden um den Planeten herum. Sie ließen eine lange Doppellinie tiefer Fußabdrücke hinter sich zurück. Jeder Abdruck füllte sich mit Wasser und strahlte mit einem gespenstischen blauen Schein. Langsam begannen sich die Abdrücke zu vergrößern, zu verschmelzen, breiteten sich in immer größer werdenden Kreisen aus, und die Älteren Wesen, die auf der Ascheebene lebten, Wesen, die lebten, ohne lebendig zu sein und ohne Zuflucht im Fleisch, Überbleibsel des Urchaos, zogen sich angeekelt vor diesen Tatsachen der Kausalität und des Lebens zurück. Wenn die Spuren sich trafen, nachdem sie den ganzen Planeten umzogen hatten, würde das Chaos vertrieben, die Zeit würde beginnen, und die Fruchtbare Erde würde geboren sein.

Farber verließ seinen Standpunkt, um in einen der Wassertümpel am Grund eines der Fußabdrücke der Riesen zu blicken, auf das wimmelnde, sich windende Leben, das dort entstand.

Der Tümpel war voller Würmer.

Die Würmer hatten Lirauns Gesicht.