12

 

Wochen vergingen, und Shasine versank immer mehr im Winter. In den Straßen türmte sich der Schnee, und bei schlimmen Blizzards wagte man sich manchmal für eine halbe Woche nicht aus dem Haus – dann wirkte die Stadt verlassen und einsam, nur die gelben und orangenen Fenster verrieten Zeichen von Leben. Farber besorgte sich über Ferri aus dem Co-Op-Laden eine arktische Skimaske. Er trug sie beim Arbeiten, und die Cian starrten ihn offen auf der Straße an. Seine Kollegen bei den Docks waren entzückt. Sie begannen ihn freundschaftlich »Ohnegesicht« zu nennen. Farber war das egal. Ohne die Maske wäre ihm die Nase sicher abgefroren, und die eingenähten Schneegläser halfen ihm, die Grelle von Feuerfrau zu ertragen, die von den Schneefeldern reflektiert wurde. Seine Kollegen trugen zum gleichen Zweck Kontaktlinsen aus einer durchsichtigen, flechtenartigen Substanz, doch die Linsen waren »lebendig« in dem Sinne, daß man sie ab und zu in Nährflüssigkeit betten und alle paar Wochen wieder zurechtschneiden mußte, und der Gedanke, so etwas auf dem nackten Augapfel zu haben, verursachte Farber ein unangenehmes Gefühl. Nein, er würde bei seiner Maske bleiben und die gutmütigen Scherze seiner Kollegen ertragen. So »eingeboren« war er nun doch noch nicht.

Schließlich war es so kalt geworden, daß auch Liraun es zugegebenermaßen als unangenehm empfand. Sie bekamen eine gestaltlose, vierfüßige Kugel, die man in einer Ecke des unteren Raumes aufstellte. Sie strahlte Hitze sowie ein rauchiges goldenes Licht aus, ohne eine für Farber erkennbare Energiequelle zu besitzen. Offensichtlich war sie unerschöpflich. Hier war doch mal ein ordentliches Handelsobjekt für Keane! Sicher war dieses Gerät geradezu übernatürlich effektiv. Zu effektiv für Liraun – manchmal wurde ihr der Raum zu heiß, und sie zog sich in einen der oberen Räume zurück, die immer noch gegen Abend frostig wurden. Sie verbrachte sowieso einen Gutteil ihrer Zeit dort. Ihre Schwangerschaft nahm sie ganz ein. Sie war im fünften Monat, und cianische Frauen trugen normalerweise nur sechs Monate. Ihr Bauch war kaum dicker geworden, doch plötzlich war sie nachdenklich und schwach geworden. Sie bewegte sich schwerfällig und langsam, als sei ihr Bauch ein Sack voll Wasser, und sie fürchte, er platze auf und würde auslaufen. Und irgendwie war es auch so. Sie folgte immer noch den Rufen zum Rat, aber wenn sie dann nach Hause kam, gab es keine Ausflüge mehr ins Sumpfgebiet, kein anstrengendes Schwimmen im Eis, keine Spaziergänge durch Aei. Sie saß statt dessen in den oberen Räumen, manchmal stundenlang, und starrte durch das offene Fenster auf die hügeligen Winterstraßen der Altstadt. Wieder versank sie in ihre alte Melancholie.

Dieses Mal war die Stimmung stärker und schien gänzlich von ihr Besitz ergriffen zu haben. Sie sprach nur wenig. Sie lachte nicht mehr.

Ihr Gesicht wirkte zurückgezogen, und sie sah bleich aus, als habe sie ständig Schmerzen.

Farber dachte, daß die Schwangerschaft bei den meisten gesunden anderen Frauen keine so behindernde, beherrschende Angelegenheit sei, und das machte ihm Sorgen. Aber das waren schließlich auch terranische Frauen. Wer verstand die Einzelheiten der cianischen Psyche? Wer wußte, was auf einen zukam? Keiner von Lirauns Verwandten schien besorgt zu sein, und Farber fand, er habe keine andere Wahl, als ihre Haltung zu der Situation zu akzeptieren. Liraun selber machte sich keine Sorgen, wenn sie auch zutiefst traurig war. Wann immer er sie fragte, versicherte sie ihm jedesmal, alles sei in Ordnung. Das waren ungefähr die einzigen Worte, die er ihr entlocken konnte – jeden Tag wurde sie einsilbiger. Aber nun war es Liraun, die nachts schreiend aufwachte und darauf angewiesen war, daß man sie festhielt und tröstete. Sie sagte nicht, warum. Sie schämte sich dafür, weigerte sich, darüber zu reden und neigte dazu, so zu tun, als sei es gar nicht passiert. Es geschah aber. Und wenn es passierte, klammerte sie sich verzweifelt an Farber, als könne sie ihrer beider Körper miteinander verschmelzen, wenn sie ihn nur fest genug an sich drückte.

 

An einem Nachmittag ging Farber auf dem Weg von der Arbeit nach Hause bei Ferri vorbei. Der Ethnologe schien entzückt, ihn zu sehen. Farber hatte ihn noch niemals so angeregt gesehen, so vor Energie platzend und gutgelaunt. Ferris Augen waren lebendig und funkelten, und sein langes, pferdeähnliches Gesicht strahlte. Seine Arme waren bis zu den Ellenbogen hinauf blutbefleckt, und er grinste wie ein ruchloser Mörder einen Augenblick nach seiner Tat.

Farber starrte ihn an. Ferri konnte nicht einmal still stehen. Ständig verlagerte er sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und vollführte unbewußt einen kleinen Freudentanz. Heftig zappelnd erklärte Ferri, daß es ihm nach Monaten komplexer und vorsichtiger Verhandlungen endlich gelungen sei, die Leiche eines männlichen Cian zur Obduktion zu bekommen.

»Du mußt dir das ansehen!« rief er. »Ich habe Sachen gefunden! Heute habe ich mehr gelernt als sonst in einem Jahr.« Enthusiastisch umklammerte er Farbers Arm und begann, ihn in den hinteren Teil des Apartments zu zerren. »Das mußt du dir ansehen!«

Zögernd ließ sich Farber weiterziehen.

Der lange Flur zur Küche war zum Sektionsraum voller Lampen und Maschinen umfunktioniert worden, ein verheddertes Netz von Verlängerungskabeln wand sich über den Boden. Es roch stark nach Blut und Formaldehyd. An der Wand stand ein Rollbett, das als Operationstisch diente. Darauf lag ein flaches Ding, das kaum noch Ähnlichkeit mit einem Menschen oder auch nur einem Humanoiden besaß. Ferri nahm ein Skalpell und kratzte an der Haut. »Siehst du? Hier gibt es eine besondere subkutane Schicht von dickem Fett. Anpassung an die Kälte natürlich. Aber es hängt noch mit anderem zusammen, glaube ich. Richtiges Haar gibt es nur auf dem Kopf, an der Scham und unter den Armen. Dieses andere Zeug hier unten ist in Wirklichkeit ein feines Fell aus sehr fein gewirkten Fasern – und die sind wasserabstoßend wie Entenfedern. Sieh dir die Muskulatur an. Und die Knochenstruktur in den Beinen. Die Bauchleisten sind nicht ganz so hoch wie beim Menschen. Die Hüftknochen sind nicht ganz so abgeflacht und die Hüften selber etwas länger und schmaler. Die Schultern sind schmaler, die Brust ist weniger rund. Siehst du? Die Oberarme sind etwas kürzer. Alles winzige Kleinigkeiten, aber zusammengenommen könnten sie signifikant sein. Und die Füße sind nicht so breit und keulenartig wie unsere, bieten keine so gute Basis, um Gewichte tragen zu können. Ich wette, die Cian haben eine Menge Probleme mit den Füßen! Und hier! Hier ist überhaupt das Interessanteste – ich habe Überreste eines inneren Augenlids gefunden, ein transparentes, wäßrig-gefülltes Lid. Atrophiert, natürlich, aber vorhanden.«

Farber zuckte die Achseln. »Und was bedeutet das?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Ferri. »Ich vermute, genau werden wir es nie herausbekommen. Aber ich träume schon den ganzen Tag über unausgegorene Theorien. So wie ich das verstehe, heißt es, daß sich die Cian aus Wassersäugetieren oder Amphibien entwickelten, und das vor bemerkenswert kurzer Zeit. Im geologischen Sinne natürlich nicht. Die Wasserschicht, diese wasserabstoßende Hülle, das Augenlid – alles deutet darauf hin. Wenn sie nicht als Landsäuger angefangen haben, dann hatten sie nicht soviel Zeit wie der Homo sapiens, den aufrechten Gang zu erlernen. Die Muskulatur, die Knochenstruktur, die Hüften. Am meisten die Füße. Natürlich ist das alles Spekulation. Ich habe noch ein anderes Exemplar auf Eis. Und morgen gehe ich alles mit dem medizinischen Computer im Krankenhaus der Co-Op durch und suche nach Bestätigungen oder Beweisen.«

»Interessant«, meinte Farber mit gleichgültiger Stimme. Er war wirklich nicht daran interessiert. In dem Flur war es heiß und eng, und der Gestank des Todes war überwältigend. Er hoffte, Ferri würde sein Lieblingsthema nun beiseite lassen und mit ihm zurück ins Wohnzimmer gehen.

Ferri blickte Farber fragend an. »Du scheinst nicht sonderlich beeindruckt zu sein, stimmt’s?«

Farber zuckte die Achseln. »Es ist interessant. Aber erwarte nicht von mir, daß ich herumspringe und jubele, Tony. Ich habe nicht deine besondere Neigung, die es für mich so interessant machen würde, und es scheint mir nichts von unmittelbarer Bedeutung zu sein.«

»Nein?« Ferri zog eine Braue hoch und wedelte dann mit dem blutbefleckten Skalpell durch die Luft. »Du wirst dich wundern.« Ein Teil der übersprudelnden Freude verließ ihn. Zum ersten Mal schien er zu merken, daß er und seine Kleider über und über mit Blut befleckt waren. »Hölle«, murmelte er, »ich muß mir diesen Schmutz etwas abwaschen.« Er verschwand im Badezimmer. Einen Augenblick später hörte Farber die Dusche laufen.

Farber ging zurück ins Wohnzimmer. Er suchte den Stuhl, der am weitesten vom Flur entfernt stand und setzte sich. Selbst dort spürte er den schwachen Geruch von Verwesung. Er wartete.

Ein paar Minuten später kam Ferri heraus, trug Jeans und ein Sweatshirt. Er schaltete den Ventilator an, um den Geruch zu vertreiben, ging zu einer fahrbaren Bar und mixte ihnen Drinks. Einen reichte er Farber und setzte sich dann in den gegenüberliegenden Sessel.

»Jesus«, seufzte Ferri, während die Polster sich selbständig formten. »Ein langer Tag.« Er schlürfte an seinem Drink. Er sah jetzt müde aus. Offensichtlich hatte ihn Farbers fehlende Begeisterung aus seinem manischen Zustand herausgerissen. »Tut mir leid, daß ich dich so mit meinem Geschwätz überfallen habe, Joe, aber Himmel! Das bedeutet mir soviel, und ich vermute, ich ging richtig darin auf. Wenn du nur ahnen könntest, wie schwer es ist, die Cian zu irgendeiner Kooperation zu gewinnen, wie verdammt mißtrauisch sie sind, wie viel ich Süßholz raspeln und manipulieren mußte, um diese beiden lausigen Exemplare herauszueisen …« Wieder seufzte er und nahm einen größeren Schluck.

»Du hältst das alles für übertriebene Pedanterie, nicht wahr?«

Farber lächelte unverbindlich. Er schüttelte das bräunliche Zeug im Glas. Komisch, wieder mal Scotch zu trinken. Schließlich sagte er höflich: »Es scheint mir ein bißchen akademisch zu sein.«

»Aber überhaupt nicht«, erwiderte Ferri mit Nachdruck. »Ich wette, darin liegt der Schlüssel zu allem anderen. Hölle!« Erhielt inne. »Die cianische Kultur hat etwas sehr Sonderbares. Verdammt, sie hat sogar irgend etwas Künstliches. Diese Sache, daß die Männer die Kleinen säugen zum Beispiel. Ich bin den Typen da drüben mit einem Diagnostikator durchgegangen. Nun, die enzymischen und hormonellen Veränderungen im Grundsystem der Männer sind unglaublich komplex. Und auch bei der Durchführung ist es sehr komplex. Der Milchfluß beim Mann wird durch den Moschusgeruch der schwangeren Frau angeregt, dazu durch minimale Mengen von Hormonen, die per Osmose durch die Haut bei Berührung in ihn eindringen. Verdammt, ein solches System konnte sich niemals natürlich so entwickeln. Das zumindest ist meine Meinung. Nicht bei einem intelligenten Säuger. Es ist irgendwie zu kompliziert. Und es ist unnötig. Warum können die Weibchen nicht säugen? Bei den niederen Säugetieren hier, die ich untersuchen konnte, tun sie es, daher ist es kein allgemeiner besonderer Zug im Ökosystem dieses Planeten.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, alles deutet auf die Idee hin, daß die Cian mit einer plötzlichen, drastischen Veränderung fertig werden mußten – und sie paßten sich an, und diese Anpassung beeinflußte die Entwicklung ihrer gesamten Kultur.«

»Was für eine Veränderung?« fragte Farber.

»Da enden die bisherigen Forschungen«, entgegnete Ferri. »Im Moment befindet sich Lisle in einer größeren Zwischeneiszeit. Nach meinen Berechnungen muß die letzte größere Eiszeit den Wasserspiegel der Meere ziemlich gesenkt haben. Verstehst du? Das legt nahe, daß die Cian vor der letzten Eiszeit amphibische Humanoide waren, die direkt an den Ufern im flachen Wasser lebten. Wahrscheinlich waren sie ebenso hoch entwickelt wie die heutigen Cian, intelligent, aber nicht zivilisationsgründend wie die heutigen Cian. Ich bezweifle, ob sie Feuer hatten oder Werkzeuge herstellten, wenn sie fast die ganze Zeit im Wasser gelebt haben. Ich habe das unangenehme Gefühl, einige der cianischen Mythen sind älter, als sich Menschen dies überhaupt vorstellen können. Diese Mythen haben sich in ununterbrochener Linie von den Tagen an fortgesetzt, als die Cian das Meer verließen. Gespenstisch.«

Er trank sein Glas aus. »Jedenfalls kommt dann die Eiszeit, und der Wasserspiegel sinkt drastisch. Die Kontinentalblöcke fallen hier sehr rasch und steil ab. Wenn man den Wasserspiegel genügend absenkt, hat man bald nirgendwo flaches Wasser mehr. So galt es bald für die Sänger, sich entweder auf ein ausschließliches Wasserleben einzustellen oder sich vollständig dem Landleben anzupassen. Sie paßten sich dem Landleben an, zumindest einige von ihnen, und das taten sie sehr schnell. Auf ihnen muß ungeheurer Druck gelegen haben, und die Zeit muß hart gewesen sein. Ich vermute, die Mehrheit von ihnen starb, aber andere haben es geschafft. Stell dir das vor! Ich bezweifle, ob das Leben auf Terra in der Lage gewesen wäre, rechtzeitig damit fertig zu werden, aber die Cian konnten es. Sie paßten sich an.«

»Wie paßten sie sich an?« fragte Farber rauh. »Das hört sich an, als hätten sie an ihren Körpern herumprobiert und sich selbst so konstruiert, daß sie überlebten.«

Ferri grinste. »Genau das meine ich. Feuerfrau strahlt erheblich mehr ultraviolette Strahlung ab als die Sonne. Dieser Planet ist von der harten Strahlung ausgedörrt. Das macht die Biomasse viel flüssiger als auf der Erde. Viel mehr Mutationen in jeder Generation, und viel davon lebensfähig.« Er hielt inne und blickte Farber bedeutungsvoll an. »Verdammt, du hättest dir das doch aufgrund deiner eigenen Erfahrung denken können. Ein Teil ihrer Legenden deutet doch darauf hin, daß die Frauen freiwillige natürliche Schwangerschaftsverhütung praktizieren. Reabsorption des Embryos. Deine Erfahrung mit deiner Frau scheint dies zu bestätigen, und ich kenne noch andere Beispiele. Und wenn sie dazu imstande sind, dann habe ich keine Zweifel, daß sie ihr genetisches Material noch weitergehend beherrschen – und auch auf andere Weise. Auch dafür gibt es Anzeichen. Also: Sie waren gezwungen, auf dem Land zu leben und sich nach den Standards der Evolution in sehr kurzer Zeit daran anzupassen. Aus irgendeinem Grund vertrug sich diese Umwandlung nicht mit der Fähigkeit der Frauen zu säugen. Aber ihre genetischen Fähigkeiten retteten sie, indem sie die Männer die Kinder säugen ließen. Und diese Verzerrung wurde vom gesamten Rest der Kultur widergespiegelt, bis zu jenem Zeitpunkt, als die Gesellschaft einen Stand erreichte, der es ihnen ermöglichte, das Problem in den Griff zu bekommen – und täusche dich nicht, sie beherrschen die Sache inzwischen; ihre genetische Technologie ist so ausgefeilt, daß sie so ungefähr alles tun können, was sie wollen. Dein eigener Fall ist dafür der beste Beweis – doch inzwischen war das Säugen durch die Männer schon ein so bestimmender, integraler Faktor ihrer Kultur geworden, daß sie diesen Teil nicht herausreißen konnten, ohne den Rest ebenfalls zu zerstören.«

»Ich weiß nicht.« Farber spielte mit seinem Glas und setzte es dann ab. »Mir erscheint das alles ziemlich kompliziert, oder?«

»Das ist es auch«, meinte Ferri. »Das ist die eine Theorie. Hier ist noch eine: Die Cian haben diese Veränderungen in ihrem Biosystem bewußt vorgenommen, und zwar in historischen Zeiten. Es handelt sich um eine sehr stabile Kultur, Joe, die beinahe statisch ist. Nach allem, was ich beobachtet habe, möchte ich behaupten, daß sie schon mindestens seit dreitausend Jahren eine höher entwickelte biologische Technologie haben wie wir. Eine lange Zeit, nicht wahr? Irgendwann in diesen dreitausend Jahren haben sie ihre Fähigkeit entdeckt. Sie ›fummelten‹ an sich herum, um deinen Ausdruck zu benutzen. Die Fähigkeit der Männer, Milch zu geben, ist so verdammt kompliziert und ausgefeilt, daß man es leichter erklären könnte, wenn es ein bewußter Akt genetischer Manipulation wäre, als sich vorzustellen, daß ein so kompliziertes System sich natürlich herausgebildet haben könnte. Sie haben es also selbst gemacht. Warum? Jesus Christus, ich weiß es nicht! Aber die Gedanken der Schattenaristokraten sind so unergründlich und dunkel für uns – wer weiß, warum sie das alles machen? Es sind Fremde. Stimmt’s? Was wissen wir wirklich über ihre Art, über ihre Lebensziele, welche Motive hinter ihrem Handeln stehen, was wovon diktiert wird? Nichts.«

Ferri stand und mixte sich noch ein großes Glas. Seine Bewegungen wirkten ein wenig unsicher – er wurde rasch betrunken. »Das ist also meine zweite Theorie«, sagte er zu Farber. »Ich mag sie nicht so sehr wie die erste, aber ich muß zugeben, daß Occams Rasiermesser sie vorzieht. Vergiß nicht, daß das Messer oft nicht schneidet, wenn es auf wirkliche Situationen trifft.« Er lachte über seinen eigenen Witz, trank seinen Drink aus und mixte einen neuen. Farber wollte nicht mehr. Ferri umklammerte vorsichtig sein Glas und kehrte an seinen Platz zurück.

Einen Moment lang saßen die beiden Männer schweigend da. Ferris Gesicht hatte einen faltigen Ausdruck angenommen, als schmecke er etwas Faules. Es war deutlich, daß seine manische Begeisterung unter dem Einfluß von Erschöpfung und Whisky dahinschmolz. Er grinste Farber schief an. »Zwei Theorien, und keine von beiden reicht, um die unheimlichen Züge in dieser Gesellschaft wirklich abzudecken. Verdammt, ich kann mir noch ein Dutzend andere ausdenken, wenn du willst. Was soll ich denn sonst auch tun in diesem Vakuum, als hier zu sitzen und mir selber Märchen zu erzählen?« Er nahm einen wilden Schluck aus seinem Glas. »Wenn ich doch nur ein weibliches Exemplar bekommen könnte, mit dem ich arbeiten könnte, wenn ich sie hier auf dem Tisch hätte und sie aufschneiden könnte. Dann könnte ich es vielleicht herausfinden. Aber ein Weibchen lassen sie mich nicht aufschlitzen – das ist ein solches Sakrileg, daß sie schon entsetzt zischen, wenn man es nur andeutet.«

Farber beobachtete ihn schweigend. Wissenschaftliche Objektivität war ja ganz schön, aber, verdammt, dieser Mann wußte um Farbers Situation, und es mußte da noch etwas wie Taktgefühl geben! In Farbers Kopf setzte sich hartnäckig das Bild fest, wie Liraun zerpflückt und auseinandergenommen auf dem Rollbett lag, vom Fuß bis zum Schädelbein aufgemeißelt, um Ferris Neugier zu befriedigen. Farbers Kinnmuskeln verspannten sich.

»Hilft dir das hier eigentlich?« fragte er mit belegter, rauher Stimme und pochte auf das Telemeter an seinem Handgelenk.

»Hilft mir verdammt«, brummte Ferri. Er ging hinüber zur Bar, kam mit einem Atomiseur für Narkosen zurück, preßte ihn sich auf die Nase und atmete mehrere Male tief ein. Als er wieder sprach, klang seine Stimme hoch und entrückt verträumt, als sei er irgendwohin gegangen und habe seinen Körper mit einem Autopiloten zurückgelassen, der sich mit Farber beschäftigen mußte. »Es lenkt mich ab. Es tut mir so gut,« sagte er mit der neuen, gleichgültigen Stimme, wedelte mechanisch mit dem Arm, sah aus wie ein Roboter, der auf gefühlsmäßigen Aufruhr programmiert ist. Er taumelte zurück zu seinem Sessel, mit langsamen Schritten wie ein Astronaut bei niedriger Schwerkraft, und bot Farber den Atomiseur an. Farber lehnte ab mit einem plötzlichen Anflug von Ekel – er merkte gerade, wie sehr ihn sein Leben unter den Cian von den anderen Terranern entfremdet hatte. Ferri zuckte die Achseln, schenkte ihm ein verträumtes, verächtliches Lächeln und erlaubte sich noch einen langen Zug von der Droge. Als er wieder auftauchte, waren seine Augen undurchsichtig, und die Stimme wirkte noch entrückter. »Wir wissen seit langem, daß die Sprache der Cian stark auf Wechsel in Tonhöhen und Inflektion beruht, wie beim Chinesischen. Nun erscheint es so, daß exakt ausgesprochene Worte und Sätze eine andere und normalerweise völlig andere Bedeutung annehmen können, nur von dem sozialen Konstrukt abhängig, innerhalb dessen sie gesprochen werden. Vielleicht auch durch die unendlich vieldeutigen Handbewegungen und die Körpersprache variiert, wenn man das auch nur schwer beweisen kann. Aber Jesus! Ich bin überrascht, daß wir überhaupt jemals etwas von dem verstanden haben, was diese Leute zu uns gesagt haben.«

»Woher willst du wissen, daß wir das getan haben?« fragte Farber.

Ferri zog eine Grimasse und senkte seine Nase wieder in den Atomiseur.