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Während der morgendlichen Rituale des Waschens, Anziehens und Frühstückens war Farber völlig in Gedanken versunken. Sein Geist hatte sich geteilt. Die eine Hälfte hätte am liebsten vor Glück vor sich hingesummt und -gepfiffen, was die andere Hälfte jedoch gar nicht beachtete. Diese Hälfte war mit der gespannten Erwartung, ja der Furcht erfüllt, ob sie zurückkommen würde. Es war gut möglich, daß er sie nie wieder sah.

Später als üblich trat er in den flachen, weißen, windigen Morgen hinaus und machte sich auf den Weg zu den Co-Op-Büros.

Hier in der Enklave hatten die Straßen terranische Namen – Washington Street, Second Avenue, Sutter-Platz, Regenbogenterrasse –, und auch die Architektur war irdisch: viel Glas, Plastik und Glasfiber, viele arrogant vorstehende, scharfe Ecken, alles so hoch wie nur eben möglich, mit nichts in Aei vergleichbar, mit nichts auf ganz »Lisle«. Die hohe Mauer, die die Enklave umgab, schuf Sicherheit, indem sie jede Sicht auf die fremde Stadt draußen verhinderte. Farber konnte sich fast vorstellen, er sei hier noch auf der Erde, während er über den schwarzen Asphalt der Washington Street zu den futuristischen ABC-Blocks ging, in denen die Hauptbüros der Co-Operative untergebracht waren; New York, Frankfurt, Chikago, Tokio – auf der Erde gab es Dutzende von Städten, die nicht anders aussahen.

In den Büros herrschte geschäftiges Treiben wie immer, wenn nicht eines der einheimischen Feste stattfand, aber Farber argwöhnte immer mehr, daß von diesen vielfältigen Aktivitäten nicht sehr viele zu irgend etwas führten. Jeden Tag brachten die Cian Waren aus allen Teilen des Planeten hierher, aber sie taten es auf eine vergnügte Art, als sei alles nur ein großes Spiel – die Cian fanden die ganze terranische Handelsmission ungeheuer komisch, genau wie die meisten terranischen Bräuche, und Farber fragte sich, ob sie nicht einfach ihren Spaß daran hatten, unnütze oder möglicherweise sogar beleidigende Objekte Tausende von Meilen weit zu schleppen, um sie vor den müden Augen der Evaluationsteams zu plazieren. Jeden Tag ging es dort lärmend, stinkend, bunt und vielfältig zu. Die Büros waren vollgestopft mit fremden Artefakten, Stoffballen, Metallmustern, stinkenden Gewürzen, Kunstobjekten, Pflanzen jeder Art (Früchte, Muster von Getreide-Gräsern, blühende Ranken, Büsche, ganze Bäume, ja manchmal schienen es ganze Urwälder zu sein, die alle ihre verschiedenen Düfte, fein oder überwältigend, dem vielfältigen fremdartigen Gestank zugesellten, den selbst die nächtlichen antiseptischen Spray-Aktionen nie ganz beseitigen konnten), alle beschreiblichen und unbeschreiblichen tierischen Lebensformen (von einem sphärischen nachtschwarzen Ding von der Größe eines kleinen Elefanten zu kleinen zottigen Raubtieren, nicht größer als Hummer, die herumhuschten, um das Büropersonal anzuknabbern, nachdem sie seltsamerweise bei den Cian noch ganz zahm gewesen waren), von einigermaßen normal aussehenden Insekten bis zu »Vögeln«, die in Wirklichkeit »Eidechsen« waren (nichts davon war – auch nicht als exotisches Schoßtier – für den Export geeignet, und erst recht war nie ein gezähmtes Tier darunter), Muster von Drogen und Medikamenten und der haute cuisine der Cian, ja sogar jene seltsamen genetisch veränderten Wesen, die von den cianischen »Schneidern« produziert wurden. Und selbstverständlich waren auch die Cian selbst da und machten sich ganz offensichtlich auf Kosten der Terraner einen schönen Tag, wobei sie es schafften, ihr Theater zugleich vergnügt und würdevoll aufzuführen; »als habe man es mit einem Haufen Tabakladen-Reklameindianern zu tun«, wie einer der Evaluatoren es nannte.

Jacawen sur Abut, der cianische Beigeordnete der terranischen Handelsmission, erschien Farber als der einzige Cian, der wirklich so würdevoll war, wie die anderen immer vorgaben zu sein, und Jacawen wirkte nicht nur ehrwürdig, sondern regelrecht grimmig. Natürlich war er als »Vertragsvater« der Terraner – um den cianischen Ausdruck zu benutzen – persönlich für jeden Schaden an der cianischen Gesellschaft verantwortlich, der aus den irdischen Handelswaren oder der Konfrontation mit terranischen Sozialvorstellungen entstehen konnte. Aber Farber fühlte, daß hinter Jacawens Grimm tiefere seelische Abgründe lagen, als sie durch das Gewicht der administrativen Verantwortung erklärbar waren. Jacawen war ein Schattenmensch, flüsterten die alten einheimischen Handlanger, und obwohl Farber keine genaue Vorstellung davon besaß, was eigentlich ein Schattenmensch war oder was es bedeutete, einer zu sein, klang der Name sinister genug – besonders, wenn man dazu noch den drohenden Grimm des Fremden nahm –, um Farber zu veranlassen, Jacawen, so gut er konnte, aus dem Weg zu gehen.

In erster Linie war Jacawen mit der kleinen Kollektion von Waren befaßt, die bereits als Handelsgüter von potentiellem Wert für die Erde anerkannt worden waren – zumeist Kunstgegenstände, einige exotische Mineralien und Chemikalien, Gewürze und bizarre Genußmittel. Mehr war es im Augenblick noch nicht, denn der Handel zwischen den beiden Planeten befand sich erst in den Anfangsjahren. Von noch größerem Interesse waren natürlich aus Jacawens Sicht die von der Erde importierten Artikel, an denen die Cian aus was für unerklärlichen Gründen auch immer Gefallen gefunden hatten: Waren, so verschieden wie Harmonikas, Kugellager und englisches Gebäck. Jacawen arbeitete in erster Linie mit dem griesgrämigen Missionsdirektor Raymond Keane und dem ständig umherrennenden, Babbit ähnlichen Ethnologen Dr. Ferri zusammen, und diesen beiden machte er genug Ärger, um den Direktor griesgrämig und den Ethnologen ständig in Bewegung zu halten. Unter anderem erreichte er das, indem er den Terranern verbot, irgendwelche importierten mechanischen Transporter zu benutzen, um Waren zwischen der Enklave und den Lagerhäusern am Aome-Hafen zu befördern. Statt dessen bestand Jacawen darauf, daß alle Waren von vergnügten, singenden und schwitzenden Cian getragen oder in den einfachen, von Tausendfüßlern gezogenen Karren gefahren wurden, so daß ständig eine Horde lauter cianischer Arbeiter die Grenzen der Enklave niederrannte. All das führte letzten Endes dazu, daß Jacawen, Keane und Ferri die meiste Zeit in der Enklave zu tun hatten, und das wiederum ermöglichte es Farber, allen dreien die meiste Zeit aus dem Weg zu gehen.

Nachdem inzwischen Farbers einführende Sensi-Studien über das Leben in der Enklave und die Co-Op-Routinearbeiten fertig waren, konnte er sich den ganzen Tag über weit weg von den Büros aufhalten, wohl wissend, daß die Stunden, die er beim ›Sightseeing‹ in den Straßen von Aei verbrachte, offiziell sanktioniert und legitime Arbeitszeit waren – und daß man tatsächlich sogar genau solche Spaziergänge von ihm erwartete.

Farber war graphischer Künstler und hielt sich auch selbst für einen, wenn er auch wie die meisten Künstler seiner Zeit kaum je Pinsel, Farben oder Leinwand berührt hatte. Statt dessen arbeitete er mit jenem raffinierten Gerät, das man Sensi-Krone nannte. Die Terraner importierten es von den Jejun, den Meisterkünstlern dieses Spiralarmes der Galaxis. Die Krone erlaubte es Farber, seine inneren Phantasien und Visualisationen direkt auf einen holographischen Film zu übertragen. Die Produkte dieses Prozesses, im allgemeinen Sprachgebrauch schlicht »Sensi« genannt, konnten entweder als Film vorgeführt oder als Photo-Vergrößerungen ausgestellt werden (was nun die angemessenere Betrachtungsweise war, so gab es dazu unterschiedliche Standpunkte), und sie verdrängten allmählich die alten Künste des Malens, der Bildhauerei und der Photographie in den höherzivilisierten Kulturen der Erde, Künste, die von den neuen Jungtürken als hoffnungslos passe und unerträglich primitiv betrachtet wurden. Mit dem Auftauchen der Sensis kam es zu einer Kreuzung zwischen der Landschaftsmalerei und den Reisetagebüchern der Entdeckungszeitalter, und es wurde üblich, Sensi-Künstler zu den Handelsmissionen draußen im All zu senden, um den Zuhausegebliebenen durch ihre künstlerisch geschulten Augen einen Blick auf die fremden Welten zu vermitteln. Farbers Aufgabe auf »Lisle« bestand eben darin, aber bisher war er nicht sehr produktiv gewesen. Das würde sich jetzt ändern, hoffte er. Die Nacht mit Liraun hatte ihm viel von seinen Hemmungen genommen, allein durch die fremde Stadt zu ziehen, und sein Kopf war voller Bilder und Erfahrungen aus dem Alàntene. Von guten Vorsätzen beflügelt, ging er los, um sich seine Sensi-Ausstattung abzuholen. Janet LaCorte warf ihm einen entrüsteten Blick zu, als er sich ins Verwaltungsbüro B 2 schlich.

Mit einem säuerlichen Gefühl im Magen schnappte er sich seine Sensi-Krone und seinen Geräte-Rucksack und machte schnell, daß er aus den Büros zum Enklaven-Tor kam. Zu seinem Mißvergnügen lief er hinter dem Archiv-Gebäude ausgerechnet Dale Brody in die Arme. Schon vorher hatte er einige zweideutige Blicke aufgefangen und begann sich zu fragen, wer alles in der Enklave etwas von seinem nächtlichen Abenteuer mitbekommen hatte. Brody sah ekelerregend und gepflegt zugleich aus, als habe man ihn an den Haaren zur Konservierung kurz in schnelltrocknenden Lack gehalten, aber erst, nachdem er schon tot war und einige Tage Zeit zum Verwesen gehabt hatte. Er ging steif und langsam, bewegte Arme und Beine kaum vom Körper fort, und seine Augen waren klein, rot und böse.

»Hallo, Junge!« rief Brody heiser, »’ne Nacht bei ’n Niggern, was?« Seine Stimme tropfte von vorgetäuschter Kameradschaft. Farber nickte dümmlich und reflexhaft und wurde dann plötzlich in einer seltsamen Mischung aus Verwunderung und Wut rot bis über beide Ohren. Brody sprach noch immer, träge und erinnerungsvoll: »Weißt du, ich habe mich schon immer gefragt, wie diese Nigger-Fotzen sind, ein bißchen quer, sagen sie ja – aber, verdammt, wie wirst du bloß mit dem Geruch fertig? Das turnt mich immer völlig ab. Ich kapier’ einfach nicht, wie du das, verdammt noch mal, schaffst, es sei denn, du hast gar keine Nase.« Er grinste ohne Wärme und Humor mit seinen gelblichen, verrotteten Zähnen.

Weit weg, irgendwo von seinem Hinterkopf aus, beobachtete Farber fasziniert seine eigene Reaktion. Ein Teil Farbers sprach definitiv auf die Umkleidekabinen-Töne von Brody an, und zwar mit einer beschämenden, unterwürfigen Peinlichkeit, die ihn sogar in seiner Demütigung noch zu einem Teil des sozialen Mechanismus werden ließ, wenn auch nur in der Rolle des Sündenbocks, einfach weil er diese Demütigung zuließ. Ach, zum Teufel, Dale, müßte er nun sagen, in einem jammernden, halb wütenden Tonfall. Ich war betrunken. Kennst du doch, Dale – du weißt schon –, bist du nie besoffen, verdammt?! Mensch, ein Mann ist manchmal nicht mehr zu halten, wenn er blau ist. Komm schon, Dale, das ist doch so

Und Brody würde ihn noch ein bißchen weiter demütigen, während sie in dieser beleidigend vertraulichen Umkleidekabinen-Atmosphäre »befreit« zusammen lachen würden, Farber in stiller Übereinkunft mit seinem Peiniger, der sich an Sätzen hochziehen würde wie: Verdammt, Alter – Mensch, wenn du einen geladen hast, Alter, dann vögelst du alles und jeden, was? Ziegen oder Tauknoten, ist dir alles egal. Und Farber würde ein falsches, unterwürfiges Lächeln lächeln, symbolisch den Unterkörper vorschieben und seine verwundbarsten Teile dem stärkeren Tier zeigen – und schließlich würde Brody ihm einen letzten symbolischen Klaps geben, bastinado, und verschwinden, um Farber allein zu lassen, damit er seine Wunden lecken und sich mit dem Wissen trösten konnte, daß er immer noch zum Rudel gehörte.

Farber kannte dieses Spiel gut – in seiner Heimatstadt Treuchlingen hätte es einen etwas anderen Akzent gehabt, eine andere Sprache, andere Redewendungen, aber die Regeln wären die gleichen gewesen.

Andererseits könnte er wütend und beleidigt aufbrausen, Brody obszöne Dinge an den Kopf werfen, ihn vielleicht sogar schlagen – und Brody würde wahrscheinlich sogar das Weite suchen. Aber von da an wäre Farber ein Paria, ein Ausgestoßener. Unberührbar.

Farber entschied sich für keine der Alternativen. Statt dessen wählte er – vielleicht feige – den neutralen Weg: »Mensch, Dale«, sagte er gequält, »mach mich heute bloß nicht an, klar? Ich habe einen ganz beschissenen Kater, einen ganz wahnsinnig dicken Kopf.« Und hinter seinem gequälten Ausdruck ließ er ein winziges, spöttisches Lächeln aufblitzen, als wolle er sagen: Oh, Mann, war das eine Nacht. Du würdest es mir nie abnehmen

Brody starrte Farber unsicher an, durch dieses andere Umkleidekabinen-Spiel aus dem Gleichgewicht gebracht, bei dem er noch nicht wußte, wie er darauf zu reagieren hatte. Nach einer kurzen Pause meinte er vorsichtig: »Habe die Dame vorhin gesehen, die du gestern nacht hast sitzen lassen, unsere Kathy. Da wirst du es schwer haben, bis die noch mal die Beine für dich breit macht.«

»Scheiß drauf«, antwortete Farber, indem er halb unbewußt Brodys Worte vom gestrigen Abend wiederholte. »Es gibt genug Fotzen auf der Welt, oder?«

»Klar«, knurrte Brody, unfreiwillig zu einem Einverständnis gezwungen und damit zu einem schwachen, ungewollten Gefühl von Kameraderie – er war nun noch unsicherer geworden und keine große Gefahr mehr. Schon ein paar Minuten später konnte Farber von ihm loskommen und ließ einen Brody zurück, der sich mit der Hand über sein stoppeliges, lackiertes Gesicht fuhr und Farber verwirrt hinterhersah.

Als Farber forteilte, setzte seine innere Reaktion auf den Dialog ein. Er war von sich selbst tief enttäuscht und erstaunt, daß er es für notwendig befunden hatte, mit Brody selbst diesen kleinen Kompromiß zu schließen, daß er auf das Spiel überhaupt eingegangen war – ein Teil seines Ichs baute fleißig Entschuldigungen auf, die der andere mit Schuldgefühlen wieder einriß –, selbst wenn er es nur defensiv gespielt hatte.

Schlangengleich bäumten sich hinter ihm schwarze Sturmwolken auf – fast zu gut zu seiner Stimmung passend –, während er seinen Weg hinunter zur Neustadt fortsetzte und sich selbst bis ins Mark verfluchte. Scham und Wut stiegen in ihm so dunkel und drohend auf wie die Wolken über seinem Kopf.

Der Regen setzte ein, als er fast die Uferpromenade erreicht hatte, ein kalter, stechender Regen, durch den er hartnäckig weitertrottete, ohne je zu versuchen, irgendwo Unterschlupf zu finden. Glücklich über die Unbequemlichkeit und Kälte, ließ er sich von dem Regen durchpeitschen, als wollte er sich damit selbst kasteien. Als der Guß vorüber war und man ihn draußen über die Bucht hinaus auf das Alte Meer fegen sah, war Farbers Wut zu einem säuerlichen Rest Melancholie geschrumpft, der ihm den Magen verkrampfte und einen fauligen Geschmack im Mund hinterließ. Er war bis auf die Haut durchnäßt und kalt bis auf die Knochen, doch er lief weiter, und seine Stimmung wurde bei jedem Schritt schwärzer und schlechter. Auf seine Umgebung achtete er längst nicht mehr, wußte nicht, ob er allein war oder durch eine Menschenmenge stapfte, wußte nicht, wo er gerade war oder wohin er ging.

Das Meer-Fluß-Haus tauchte vor ihm auf, ehe ihm überhaupt bewußt wurde, daß er den Weg von gestern nacht wiederholt hatte. Er spottete über seine Sentimentalität. Erwartete er etwa, hier Liraun wiederzufinden? Den Alàntene, die ganze Nacht noch einmal zu erleben? Nun, das würde er nicht, sagte er sich mit dumpfer, absoluter Sicherheit der erkannten Niederlage, die in ihrer Endgültigkeit fast schon wieder angenehm war. Er würde nichts, absolut nichts dort finden.

Und vielleicht wollte er auch gerade das – sehen, daß es dort nichts zu finden gab. Das riesige L-förmige Gebäude lag leer und still da, ein gigantischer Glaskasten, den jemand hier leer liegen gelassen hatte. Der Tag war immer noch grau und naß, die Luft so feucht wie Schwamm und der Strand öde und verlassen. Er ging den Strand entlang. Nasser Sand knirschte unter seinen Schuhen. Der Nebel kondensierte sich zu Tröpfchen in seinem Haar, auf seiner Oberlippe. So weit das Auge reichte, gab es nichts Lebendiges am Nordstrand von Shasine. Das Alte Meer sah flach und müde aus, als fühle es sich in dem Regen nicht wohl. Unruhig kräuselten sich die Wellen gegen den Strand, nur ein leises, seniles Murmeln in der Kehle des Meeres.

Das Meer-Haus war von hier aus noch schwach zu erkennen, die Fensterfront glitzerte durch den Nebel, und als Farber vom Strand aus hinübersah, dachte er wieder an den Alàntene, die unermüdlichen Tänzer, die genau an der Stelle, an der er jetzt stand, den Boden gestampft hatten; dachte an Lirauns Erklärung, daß dieses Fest zur gleichen Zeit mit jedem Augenblick des Universums koexistierte. War er hier, der Alàntene, hier irgendwo hinter dem Nieselregen, dem Nebel und der Leere? Koexistent – Liraun irgendwo hier, Farber selbst, die leidenschaftlichen Tänzer am Meer, durchdrangen sie ihn genau in diesem Moment, fuhren durch ihn hindurch wie Geisterschiffe auf dem Weg zu insubstanziellen Meeren? Er lauschte den nassen, mürrischen ›Vögeln‹, die ihre schlechte Laune durch den Nebel schrien, und fühlte, wie seine Füße tiefer in den kiesigen Sand einsanken, und er schüttelte den Kopf: nein. Hier war für ihn nichts mehr zu finden. Wenn überhaupt etwas hier war, dann nicht für ihn – oder wenn doch, dann gab es niemanden mehr, der ihn hätte hinbringen können, der Führer war verschwunden, nicht da, würde nicht mehr kommen. Nicht zu ihm.

Er fühlte sich getäuscht und bestohlen, aber auch angenehm verdrießlich darüber, als er schließlich weiter den Strand entlangging, hatte er doch hier den Grund für seine schlechte Laune endlich vor sich.

Der Himmel riß auf, als Farber über den Weg des Dritten-toten-Ahnen in den Winterkind-Bezirk ging. Ein scharfer Wind war aus dem Osten aufgekommen und trieb flusige, blaue Wolken wie Kätzchen über den Himmel, der noch kalt und feucht aussah. Feuerfrau, die Sonne von Weinunnach, spähte blaß durch die fliegenden schwarzen Schatten, die langgezogen und fahl wirkten. Selbst Farbers brennende Verzweiflung war inzwischen zu einer dumpfen geistigen Erschöpfung geworden, wie eine auf den Boden eines Aquariums gesunkene Schnecke. Sooft er an diesem Nachmittag den Hügel von Winterkind nach Brundane hinauftrottete, nahm er pflichtschuldig die Sensi-Krone heraus, setzte sie auf und sah sich nach einer geeigneten Szene um. Er hatte sich schließlich doch an den ursprünglichen Zweck dieses durchweichten, miserablen Spazierganges erinnert. Aber nach der von Leidenschaften und Geheimnissen erfüllten Alàntene-Nacht, die gerade hinter ihm lag, nach den emotionalen und physischen Stürmen, erschien ihm der Tag unwirklich: flach, substanzlos, stumpf, die Farben weniger bunt als sonst, die Szenerie von Aei weniger aufregend und selbst die Luft schal.

In schwarze Melancholie eingehüllt wie eine Elster in nasse schwarze Federn, durchnäßt und übellaunig, kam Farber gegen Ende des Tages zurück in die Enklave. Er ging durch die Tore, an den Büros vorbei, den Steinstreifen entlang, der das Fundament von Farbers Apartment-Haus begrenzte, und sie war da, eine kleine Frau, die geduldig im Schatten wartete, still wie ein Zaunpfahl.

»Liraun«, sagte er in beinahe dümmlichem Erstaunen, fühlte dabei Glück und etwas anderes – Furcht? – mit einem metallischen Geschmack in seiner Kehle aufsteigen.

Sie sagte nichts. Ihre Augen glitzerten in der Dunkelheit wie Perlen, und sie blickte ihn ruhig an.

»Ich wußte nicht, ob ich dich wiedersehen würde«, sagte er schließlich unbeholfen.

»Ich auch nicht«, sagte sie. Sie war ruhig, rätselhaft, ohne jedes Lächeln. »Das Volk Unter Dem Meer entscheidet über diese Dinge, die kleinen Dinge, Geburten, Tode, Freuden …« Sie lächelte. »Wie Kleider weben sie unsere Leben, und wer sind wir, daß wir wissen können, was sie uns hineinweben?«

Dann kam sie zu ihm, über die Steine, durch das sterbende Licht, und sie berührten sich, drehten sich, stießen aneinander wie fallende Blätter.