In den folgenden Tagen sahen sie sich regelmäßig. Doch selbst nachdem er eine, dann zwei Wochen ihr Liebhaber war, wußte er so gut wie nichts über sie. Sie zeigte durchaus Bereitschaft, über ihr Volk und ihre Gesellschaft zu sprechen, aber nur solange sich das Gespräch auf einer ganz allgemeinen und theoretischen Ebene bewegte. Manchmal unterhielten sie sich sogar über Philosophie, aber nur in sehr begrenztem Umfang, und alle tiefergehenden Einzelheiten des cianischen Lebens waren tabu. Auch über sich selbst verlor sie kein Wort. Er wußte nicht, was sie den Tag über machte, wenn sie sich am Morgen von ihm verabschiedet hatte, wohin sie ging oder warum. Noch immer wußte er nicht einmal, wo sie wohnte – sie nahm ihn niemals mit zu sich, und in ihrem Verhalten lag etwas, das ihn davon abhielt, sie nach ihrem Zuhause zu fragen. Immer verließ sie ihn beim Morgengrauen wie das verzauberte Mädchen aus dem Märchen.
Aber immer kehrte sie zu ihm zurück. Manchmal kam sie spät in der Nacht zu seinem Apartment, schwebte stumm wie ein Gespenst, das ein Windhauch fortwehen mochte, wie eine körperlose Inkarnation der Nacht selbst, vor seiner Tür, bis er sie sanft hereinzog, wo sie vom Licht wieder Fleisch, Leben, Wärme und Substanz erhielt. Manchmal traf sie ihn am späten Nachmittag, und sie spazierten in der langen Dämmerung hinunter nach Aei, während Feuerfrau schmerzhaft langsam hinter den kahlen westlichen Hügeln versank.
Einer unausgesprochenen Übereinkunft gemäß führten sie diese Wanderungen nur in die Neustadt. Die aufragenden, drohenden Steintürme der Altstadt von Aei mieden sie, obwohl die monolithische Skyline und manchmal die langen, kalten Schatten den Horizont beherrschten, wohin sie sich in der Neustadt auch wandten. Von Zeit zu Zeit erwachte in Farber touristisches Interesse, das seine Schritte in Richtung der Altstadt lenkte, aber irgendwie gelang es Liraun immer rechtzeitig, ihm ihre Abneigung gegen einen Besuch dort zu übermitteln – ohne das je ein Wort darüber gesprochen wurde, so daß sie anderswohin spazierten.
Einmal nahm Farber seine Sensi-Ausrüstung mit, und sie schlenderten über die Porzellanplätze und breiten Avenuen der Neustadt, vorbei an der Straße des Häßlichen Mannes durch ein Netz von schmalen Gassen hinunter zu dem Viertel, das als Fischkopf-Bucht bekannt war. Die Straßen waren hier schmal und mit ausgelassenen Cian überfüllt. An den Hauswänden rankten sich üppige, dichte schwarze Efeugewächse empor, aus denen überall rote, orangene und silberne Blüten schimmerten; die Mauern waren von Baikonen, Gesims und Fenstern übersät, und in jeder Öffnung saßen Cian, beugten sich vor, winkten, riefen zum Nachbarn hinüber oder auf die Straße hinab, sangen und schwatzten, so daß der Weg zwischen den Häusern einer Gasse in einer alten Höhlenstadt in Arizona glich, vervollständigt durch bunt gekleidete, fröhliche Geister der Indianer, die dort einst lebten. Hin und wieder huschten kleine Gruppen von spielenden Kindern an ihnen vorbei, die einzigen Wesen hier, die es eilig zu haben schienen. Manchmal öffneten sich die Gassen zu kleinen Terracotta-Höfen im Schatten von schiefergrünen Geisterfingerbäumen oder rotgoldenen wellá, und hier waren Grillöfen aufgebaut, geformt wie das offene Maul eines Fisches, auf denen Rotfisch und Sandkriecher brutzelten, oder man traf auf Stände, an denen Schneenektar, Blauwein und Essenzen verkauft wurden, und das Zwielicht war vom Geruch gegrillten Fleisches, von Holzrauch und seltsamen Gewürzen erfüllt. Dazu gesellte sich das kristalline Klimpern einer tikan, die irgendwo außer Sicht in einem Dachgarten oder einem versteckten Hof gespielt wurde.
Sie wanderten Seite an Seite am Aome entlang und betrachteten eine Weile die Boote, das Treiben im geschäftigen Flußhafen und das wirbelnde silberne Wasser, das – für Farber jedenfalls – Gesichter und Stimmen und phosphoreszierende Schaumkönigreiche zu enthalten schien. Schließlich blieben sie an einem Stand stehen, um Streifen scharfen, marinierten Schnapperfleisches zu kaufen. An einem anderen Stand kauften sie Schädelbecher – wie sich herausstellte, handelte es sich dabei um große, Melonen ähnelnde silberne Früchte, die in heißer Asche gebacken wurden. Die ledrige Rinde fühlte sich in der Hand warm an, aber wenn man die Frucht aufbrach, war das Fleisch darin kühl und fest; es glich Marmor oder Schildpatt in der Farbe und schmeckte wie eine überraschend gelungene Kombination von Warzenmelone, Yamwurzel und Passionsfrucht. Nach dem Essen schlenderten sie zurück durch Ethran, Vandermont und Lothlethren, vorbei an dem die Sinne verwirrenden, gewundenen, fünfhundert Meter langen Scharlach- und Gold-Mosaik in der Schlangenstraße.
Im Eisfrauenweg, nahe der Kuppe des Hügels vom Kalten Turm, blieb Farber stehen und nahm seine Sensi-Gerätschaft vom Rücken. Es gab hier eine schwarze Steinbrücke über einen tiefen Bergeinschnitt, und im Norden erhob sich die Altstadt wie eine gefrorene schwarze Woge über den hochgiebligen, pastellfarbenen Dächern von Brundane. Eine dünne Wasserfontäne sprudelte hier aus der Altstadt herab, wurde vom Wind verbogen und zerrissen. Liraun sah zu, wie Farber seinen Rucksack mit der Sensi-Ausrüstung abnahm, die Sensi-Krone aufsetzte, sie auf dem Kopf justierte und an das Aufzeichnungsgerät anschloß, dann an Schaltern und Knöpfen die Feineinstellung vornahm. Sie sah ihm schweigend zu, wie sie es schon bei seinen vorausgegangenen Sensi-Aufzeichnungen getan hatte. Und diesmal fragte sie ihn schließlich zögernd, fast gegen ihren Willen, was er da eigentlich tat, und er erklärte es ihr.
Überraschend runzelte sie die Stirn. »Können die Menschen sich selbst nichts ansehen?«
»Natürlich können sie sich selbst etwas ansehen – sie sind nicht blind. Aber die meisten Menschen können niemals hierher nach Lisle kommen und diese Szene hier selbst sehen, deshalb muß ich es für sie tun.«
»Und sie sind damit einverstanden? Etwas durch deine Augen zu sehen?« Sie sprach mit leichtem Ekel. »Sie sehen sich die Welt durch die Augen von jemand anders an? Warum tun sie so etwas?«
Farber war über ihre heftige Reaktion verwirrt. »Vielleicht, weil sie es sonst überhaupt nie sehen würden – die Altstadt dort oben, die Brücke, das Wasser …«
»Sollen sie doch hierherkommen, wenn sie es unbedingt sehen wollen! Besser überhaupt nichts zu sehen als eine Lüge! Wie können sie die Welt oder sich selbst kennen oder den rechten Weg durch das Leben, wenn sie so dumm sind, daß sie andere Menschen für sich sehen lassen?«
Ein wenig verletzt, konzentrierte Farber sich darauf, die Szene aufzunehmen, vertiefte sich in seine Arbeit. Er bemühte sich, das Bild in seiner Vorstellung mit dem wirklichen Anblick zur Deckung zu bringen, ein Vorgang, nicht unähnlich dem Fokussieren eines inzwischen überholten Kameraobjektivs. So konnte er ein Bild produzieren, das die Wirklichkeit gemäß seiner Vorstellung ergänzte und abwandelte. Er mischte seine subjektive Sicht des Lichtes hinein, akzentuierte den Bogen der Brücke ein wenig stärker, fügte eine drohend über der Altstadt aufragende Gewitterwolke hinzu, dann fixierte er sein Gedankenbild und betätigte den Recorder. Er hatte Liraun mit in das Bild einbezogen und ihre Pose subtil geändert, um sie etwas dramatischer wirken zu lassen. Sie spielte die Vordergrundfigur und merkte es: Sie grimassierte, ein langer Fangzahn schimmerte feucht, sie trat von einem Fuß auf den anderen und runzelte wieder die Stirn. Für einen Augenblick dachte Farber in einem überraschenden Anfall amüsierter Überlegenheit, sie fürchtete sich, ein »Bild« von sich machen zu lassen – wie gewisse primitive Eingeborene auf der Erde –, hätte Angst davor, daß die Maschine ihr ein Stückchen Seele stehlen könnte. Doch dann erkannte er, fast widerstrebend, daß dem nicht so war: Ihre Reaktion spiegelte viel komplexere Gefühle, ihre Ablehnung hatte eher ästhetische als abergläubische Gründe, die sich von einer unverständlichen Lebenseinstellung herleiteten, einem Mystizismus, der jenseits von Farbers Begriffsvermögen lag. Nun war er es, der die Stirn runzelte. Er hatte damit begonnen, sie fast als menschliche Frau zu betrachten – auf eine vage Art und Weise angesichts der Fremdartigkeit von Aei auf Farbers Seite stehend – und nun zertrümmerte die fremde Unergründlichkeit ihrer Gedanken diese Illusion, und er blieb fröstelnd und elend zurück.
Schweigend gingen sie den Hügel vom Kalten Turm hinab zurück nach Lothlethren, während das Licht hinter ihnen in schwarzen und lavendelfarbenen Streifen am blaßblauen Himmel erstarb.
Als sie die Ausläufer von Brundane erreichten, stießen sie im Hof der Glasbläser auf eine Art zeremonielle Aufführung. Sechs oder sieben Cian-Männer in bizarren Kostümen tanzten in der Mitte des Hofes zur schrillen Musik einer tikan und einer Nasenflöte, umgeben von einem Ring von etwa dreißig Zuschauern. Einige Tänzer schlugen trunkene Kapriolen mit großen, flatternden Fledermausflügeln auf dem Rücken, andere wanden sich rastlos wie knochenlose Würmer auf dem Bauch über die blauen Kacheln, wieder andere hüpften, wirbelten und sprangen ziellos umher. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand ein riesiger, grotesk Gigue tanzender, künstlicher Kopf, auf Stelzen wie einige der Tänzer, mit drei geschnitzten und bemalten Gesichtern: Eines blickte gerade nach vorn, eines nach links, eines nach rechts. Die Gesichter wirkten wild und unnahbar, so verzerrt und stilisiert, daß es kaum zu sagen war, ob sie Menschen oder Dämonen oder Tiere oder eine Mischung aus allen dreien darstellen sollten. Das nach vorn schauende Gesicht, in stumpfem Grau und Braun gehalten, hatte beide Augen geschlossen; das Gesicht links, mit einer orangenen Zeichnung auf Silber und Schwarz, richtete die Augen nach oben zum Himmel; das rechts, blaßgrün, blau und gelb, schaute zu Boden. Das mittlere Gesicht war mit weißem Bein ausgelegt, das linke mit Feuerstein und Obsidian, das rechte mit Federn und Jade. Der große, dreigesichtige Kopf tanzte seinen dröhnenden Stelzen-Gigue über den Hof, während ein Twizan am Rand der Zuschauerschar stand und in einem singenden Dialekt etwas deklamierte, dem Farber kaum folgen konnte.
Lirauns Stimmung änderte sich blitzartig, und sie wurde vergnügt, aufgeschlossen und begeistert. Sie bestand darauf, Farber die »Zeremonie« zu erklären.
Als erstes erklärte sie ihm, daß es sich hier überhaupt nicht um eine Zeremonie handelte. Es war eine weltliche Aufführung, kein religiöses Fest – eine Interpretation von Danau sur Nestres klassischem Versdrama Die Erhebung der kleinen toten Kriecher. Der Held – oder die Heldin, das Cianische machte da keinen Unterschied – war ein kleiner Wurm, der im Schlamm auf dem Grund der Alten See lebte. Aus Gründen, die Farber nicht begriff, verwandelte sich der Wurm eines Tages in ein kriechendes Insekt und das kriechende Insekt darauf in einen Fisch (genauer, in eine Art von springendem Aal). Der Fisch (oder Aal) hätte ein langes, friedliches Leben im Ozean führen können, aber es stellte sich heraus, daß er ein »Seeherz« besaß. Farber bekam nie genau heraus, weder aus dem Gesang des Twizan noch aus Lirauns kryptischen Kommentaren, was genau ein »Seeherz« war – möglicherweise bedeutete es, daß der Fisch »von Verlangen erfüllt« war, möglicherweise »Ruhelosigkeit«, ja vielleicht auch »außerordentliche Frömmigkeit« oder »Segnung«, aber genausogut »Unvorsichtigkeit«, ja »Dummheit«. Jedenfalls besaß er ein »Seeherz«, und weil dies so war, mußte er von einem Ende des großen Nordmeeres bis zum anderen schwimmen. Und das tat er dann auch, aber als er den jenseitigen Strand erreichte, war seine Geschwindigkeit so groß, daß es ihn aufs Land hinaufriß und seine Flossen sich an den Felsen zu Füßen schliffen.
Dieser Teil des Versdramas war sehr lang und für Farber ausgesprochen ermüdend; das Verlassen des Ozeans wurde mit unglaublicher Genauigkeit bis ins belangloseste und alltäglichste Detail beschrieben: die Schlammsorte, durch die der Fisch gekrochen war, ihre Zusammensetzung, wo die Felsen lagen und wie groß sie waren, woraus sie bestanden, wie sie aussahen; wo es festen Sand gab, wo Seegras wuchs, die Richtung und Stärke der Strömungen, die Temperatur des Wassers, die anderen Fische, die es zur besagten Zeit in diesem Gebiet gab, alle aufgezählt, abgezählt und beschrieben, wie die Wasseroberfläche von unten aussah, gerade bevor der Fisch sie durchbrach und in die Luft hinausschoß, wie der Himmel aussah, als der Fisch ihn zum ersten Mal erblickte, die Temperatur der Luft, wie stark der Wind war und aus welcher Richtung er wehte … und so weiter. Wenn die stelzenlosen Tänzer während der Rezitation nicht einige spektakuläre gymnastische Übungen vorgeführt hätten, wäre Farber wahrscheinlich im Stehen eingeschlafen.
Als der Fisch es erst einmal bis auf das Land geschafft hatte, wurden die Dinge dann doch etwas interessanter. Das erste, was der Fisch – nun zum Sandkriecher geworden – auf dem Land tat, war, einen Wurf kleiner Sandkriecher hervorzubringen oder sich in viele Teile aufzuspalten, aus denen dann Sandkriecher-Kinder heranwuchsen – der Dialekt machte es Farber schwer, den Vorgang eindeutig zu begreifen. Die Kinder (oder Teile) führten einen seltsamen, faszinierenden Tanz auf, und dann erschienen kwians – geflügelte Beuteltiere, die allerdings gleichbedeutend mit oder stellvertretend für übernatürliche Geschöpfe auftraten. Sie schleppten den Mutter-Sandkriecher (oder einen der Teile) fort und setzten ihn auf einer öden schwarzen Felsebene aus. Hier wurde der Mutter-Sandkriecher (oder sein Teil) von einer Person der Macht besucht, jadeschwarz und wabernd, die erklärte, er müsse sich noch einmal verändern, diesmal zum letzten Mal, um seine Kinder (oder Sippenteile) vor der Ödnis der Welt und der Wut der Sonne zu schützen. Die Person der Macht bot ihm drei Möglichkeiten: Er konnte sich in einen Stein verwandeln, einen hohen, unzerstörbaren Felsen, und die anderen mit seiner diamantenen Härte vor Raubtieren schützen; er konnte sich in ein Moos verwandeln, kühl und saftig, und die anderen mit seiner Feuchtigkeit, seiner Kühle und seiner Weichheit vor der Sonne, scharfen Felsen und dem beißenden Wind schützen; oder er konnte sterben und zu einer Blutlache werden, die den anderen lebenserhaltende Nahrung bot.
Damit endete der Tanz, und die Cian schnippten mit den Fingern Applaus und zischten wie Teekessel.
»Aber wie hat er sich nun entschieden?« fragte Farber. »In was von den dreien hat er sich verwandelt?«
»In alles, in alle drei Dinge zugleich«, sagte Liraun und lächelte.
»Aber das geht nicht! Sie schließen sich doch ausdrücklich gegenseitig aus – er mußte sich entweder in das eine oder in das andere verwandeln. Sie können unmöglich alle drei gleichzeitig wahr sein!«
»Aber das sind sie! Selbstverständlich sind sie das«, versicherte Liraun, noch immer lächelnd, sah ihn dabei aber mit einem seltsamen, eindringlichen Ausdruck an. »Er verwandelte sich sofort in alle drei Dinge auf einmal, genau das. Darin liegt der Sinn der ganzen Geschichte – wenn nur eines daraus geworden wäre, hätte die Geschichte überhaupt keine Bedeutung. Verstehst du? Siehst du es jetzt? Es ist wichtig, daß du es verstehst!«
Farber murmelte eine höfliche Zustimmung, ohne auch nur das Geringste zu verstehen. Als sie den Hof verließen – sie noch immer in Hochstimmung, er verwirrt und aufgewühlt –, sah er noch einmal zurück, gerade im rechten Augenblick, um die beiden Tänzer, die unter dem riesigen Kopf gesteckt hatten, darunter hervorkriechen zu sehen, wie Parasiten aus dem zerrissenen und gelähmten Körper ihres Wirtes krabbeln, und Farber bemerkte, daß die Gesichter der Tänzer nicht weniger verschlossen und fremd waren wie die bunten Masken des großen Totems, hinter dem sie gesteckt und mit dem sie umhergegeistert waren, das sie sich bemüht hatten, mit Leben zu erfüllen, einem Leben, das nur für wenige hingebungsvolle, flüchtige und völlig transzendente Sekunden Wirklichkeit geworden war.
Hüfte an Hüfte, dicht aneinandergedrängt wegen der Abendkälte, wanderten sie zurück zur Enklave, während um sie herum schimmernde Pastell-Laternen wie durchscheinende Feuerfliegen in der fremden Nacht aufleuchteten.