1_022_13828_Garcia.tifZerbrochene Flaschen

21.12.

Als ich nach Hause kam, saß Amma am Küchentisch. Sie war ganz allein, ohne Karten und ohne Kreuzworträtsel, ohne Zimtpastillen und ohne die Schwestern. Nur eine alte, angeschlagene Colaflasche stand auf dem Tisch. Sie war von unserem Flaschenbaum, der den Geist, den Amma einfangen wollte, nie gefangen hatte. Meinen.

Seit ich wusste, dass ich und nicht John der Crucible war, hatte ich dieses Gespräch im Geiste geprobt. Ich hatte mir hundert verschiedene Möglichkeiten überlegt, dem Menschen, der mich genauso wie meine Mutter liebte, zu erklären, dass ich sterben würde.

Was sagt man bei so einer Gelegenheit?

Ich wusste es immer noch nicht, und jetzt stand ich in Ammas Küche, sah ihr in die Augen, und es schien mir vollkommen unmöglich, auch nur ein Wort zu sagen. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass sie es längst wusste.

Ich setzte mich auf den Stuhl ihr gegenüber. »Amma, ich muss mit dir reden.«

Sie nickte und drehte die Flasche zwischen den Fingern. »Hab alles falsch gemacht diesmal, schätze ich. Ich dachte, du wärst derjenige, der ein Loch ins Universum macht. Dabei war ich es.«

»Das ist nicht deine Schuld.«

»Wenn ein Hurrican zuschlägt, dann ist weder der Wetterbericht daran schuld noch Gott – egal was Wesleys Mutter dazu sagt. Den Menschen, die danach kein Dach mehr über dem Kopf haben, ist das sowieso egal.« Sie sah mich unendlich traurig an. »Aber wir beide wissen, dass ich schuld bin. Und das Loch ist zu groß, um es zu flicken.«

Ich nahm ihre kleinen Hände in meine großen. »Genau das wollte ich dir sagen. Ich kann es nämlich flicken.«

Amma setzte sich in ihrem Stuhl aufrecht, die Kummerfalten auf ihrer Stirn vertieften sich. »Wovon redest du, Ethan Wate?«

»Ich kann es aufhalten. Die Hitze und die Dürre, die Erdbeben und dass die Caster ihre Kräfte nicht mehr beherrschen können – das alles kann ich stoppen. Aber das weißt du ja längst, stimmt’s? Deshalb bist du ja bei dem Bokor gewesen.«

Die Farbe wich aus ihrem Gesicht. »Sprich mir nicht in meinem Haus von diesem Teufel! Du weißt ja gar nicht …«

»Ich weiß, dass du bei ihm warst, Amma. Ich bin dir gefolgt.« Es war jetzt keine Zeit mehr für Spielchen. Ich konnte nicht gehen, ohne ihr Lebwohl gesagt zu haben. Auch wenn sie es nicht hören wollte. »Du hast es in den Karten gelesen. Und du hast versucht, es abzuwenden, aber das Rad des Schicksals zermalmt uns alle.«

In der Küche war es so still, als hätte jemand die Luft abgesaugt.

»Das waren doch deine Worte, oder?«

Keiner von uns beiden bewegte sich, keiner atmete. Einen Moment lang war sie so entgeistert, dass ich fürchtete, sie würde entweder auf und davon rennen oder das ganze Haus mit Salz überschütten.

Aber dann verzog sie das Gesicht und packte mich an den Armen, wie um Verstand in mich zu schütteln. »Nicht du! Du bist mein Junge. Das Rad hat mit dir nichts zu schaffen. Das ist meine Schuld. Ich werde es wieder in Ordnung bringen.«

Ich legte meine Hände auf ihre schmalen Schultern. Tränen liefen über ihr Gesicht. »Das kannst du nicht, Amma. Nur ich kann das. Ich ganz allein …«

»Sei still! Kein Wort mehr!«, schrie sie und umklammerte meinen Arm wie eine Ertrinkende.

»Amma, hör mir zu …«

»Nein! Du hörst mir zu!«, flehte sie fast panisch. »Ich hab’s mir genau überlegt. Es gibt eine Möglichkeit, die Karten zu ändern, du wirst sehen. Ich habe eine Abmachung getroffen. Du musst nur abwarten.« Sie murmelte vor sich hin wie eine Irre. »Ich hab’s mir genau überlegt. Du wirst schon sehen.«

Amma täuschte sich. Keine Ahnung, ob sie es wusste, aber ich wusste es genau. »Ich muss es tun. Wenn nicht, werdet ihr sterben, du und Dad, die ganze Stadt.«

»Was kümmert mich diese Stadt?«, zischte sie. »Soll sie doch niederbrennen! Meinem Jungen wird nichts passieren! Hörst du?« Sie sprang auf und sah sich hektisch um, als suche sie in den dunklen Ecken nach jemandem.

Plötzlich versagten ihre Beine und sie schwankte gefährlich. Sie war kurz davor, ohnmächtig zu werden. Ich packte Amma am Arm und stützte sie. Sie sah mir in die Augen. »Ich habe schon deine Mutter verloren. Ich darf dich nicht auch noch verlieren.«

Ich half ihr, sich wieder auf den Stuhl zu setzen. Dann kniete ich mich neben sie und wartete, bis sie sich wieder gefangen hatte. »Tief durchatmen.« Das hatte Thelma zu Tante Mercy gesagt, als sie einen ihrer Schwächeanfälle hatte. Aber tief durchzuatmen half uns nicht weiter.

Amma winkte ab. »Mir fehlt nichts. Solange du mir versprichst, keine Dummheiten zu machen. Ich werde die Risse wieder flicken. Ich brauche nur noch den richtigen Faden.« Einen Faden, der in die schwarze Magie des Bokors eingetaucht worden war, darauf hätte ich wetten können.

Ich wollte nicht, dass mein letztes Wort an Amma eine Lüge war. Aber sie war nicht mehr ansprechbar. Es war unmöglich, sie davon zu überzeugen, dass das, was ich tat, richtig war. Wie Lena glaubte sie fest daran, dass es ein Schlupfloch geben musste.

»Schon gut, Amma. Ich bringe dich in dein Zimmer.«

Sie stützte sich beim Aufstehen auf meinen Arm. »Du musst es mir versprechen, Ethan Wate.«

Ich blickte ihr fest in die Augen. »Ich werde keine Dummheiten machen. Das verspreche ich.« Das war nur halb gelogen. Denn wenn man die Menschen, die man liebt, rettet, dann ist das keine Dummheit. Man hat gar keine andere Wahl.

Trotzdem sollte mein letztes Wort an Amma so wahr sein wie die Tatsache, dass die Sonne am Morgen aufgeht. Deshalb führte ich sie zu ihrem Lieblingssessel, drückte sie fest an mich und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich hab dich lieb, Amma.«

Wenn überhaupt etwas wahr war, dann dies.

Die Haustür fiel krachend zu, gerade als ich die Tür zu Ammas Zimmer schloss.

»Hallo zusammen. Ich bin wieder da«, rief mein Vater. Ich wollte ihm schon antworten, als ich bereits das vertraute Geräusch einer anderen Tür vernahm. »Ich bin im Arbeitszimmer. Ich muss viel lesen.« Was für eine Ironie. Mein Vater verbrachte den ganzen Tag damit, über den Achtzehnten Mond zu forschen, und ich wusste mehr davon, als mir lieb war.

Als ich die Küche wieder betrat, fiel mein Blick auf die alte Cola-Flasche, die vom Tisch gefallen war. Jetzt war es zu spät, darin etwas zu fangen, aber ich hob sie trotzdem auf.

Ich fragte mich, ob dort, wo ich bald hingehen würde, auch Flaschen in den Bäumen hingen.

Auf dem Weg in mein Zimmer kam ich am Arbeitszimmer vorbei. Mein Vater saß am Schreibtisch meiner Mutter, das Licht fiel in den Raum, auf seine Arbeit und den koffeinhaltigen Kaffee, den er ins Haus geschmuggelt hatte. Ich machte den Mund auf, um etwas zu sagen, aber ich wusste nicht, was – und im selben Moment kramte er in einer Schublade nach seinen Ohrstöpseln und stecke sie sich in die Ohren.

Mach’s gut, Dad.

Schweigend lehnte ich mich mit der Stirn gegen die Tür. Dann sollte es eben so sein. Er würde alles früh genug erfahren.

Ich saß auf meinem Bett und las ein letztes Mal in Von Mäusen und Menschen. In den letzten Monaten hatte ich so viel vergessen, dass ich manches gar nicht mehr wusste. Aber an eine Stelle erinnerte ich mich noch: an den Schluss. Es verstörte mich jedes Mal, wenn ich las, wie George Lennie erschoss, während er ihm von der Farm erzählte, die sie sich eines Tages kaufen würden. Die Farm, die Lennie niemals sehen würde.

Als wir den Roman im Englischunterricht durchgenommen hatten, waren alle der Meinung gewesen, dass George ein großes Opfer brachte, indem er seinen besten Freund erschoss. Dass er ihn aus Mitleid tötete, weil er genau wusste, dass man Lennie hängen würde, nachdem er das Mädchen auf der Ranch aus Versehen getötet hatte. Ich war schon immer anderer Meinung gewesen. Seinem besten Freund eine Kugel in den Kopf zu jagen, statt mit ihm abzuhauen, war kein Opfer. Wenn einer ein Opfer gebracht hatte, dann Lennie, ob nun bewusst oder unbewusst. Am bedrückendsten war der Gedanke, dass Lennie sich garantiert, ohne zu zögern, für George geopfert hätte. Er wollte, dass George die Farm bekam und glücklich wurde.

Mein Opfer würde niemanden glücklich machen, aber es würde Leben retten. Und das war genug. Mir war klar, dass keiner der Menschen, die ich liebte, es zulassen würde, dass ich dieses Opfer für sie brachte, deshalb zog ich bereits in der Stille der Nacht meine Jeans wieder an.

Ich sah mich ein letztes Mal in meinem Zimmer um, ließ den Blick über die Schuhschachteln an der Wand schweifen, die alles enthielten, was mir wichtig war; über den Stuhl in der Zimmerecke, auf dem meine Mutter gesessen hatte, als sie mich vor zwei Monaten besucht hatte; über die Stapel meiner Lieblingsbücher unter meinem Bett und den Schaukelstuhl, der kein bisschen geschaukelt hatte, als Macon Ravenwood darin gesessen war. Ich wollte mich an alles ganz genau erinnern. Als ich meine Beine über das Fensterbrett schwang, fragte ich mich beklommen, ob es mir gelingen würde.

Der Wasserturm von Summerville ragte im Mondschein über mir auf. Kaum jemand hätte sich diesen Ort freiwillig ausgesucht, aber hier war es in meinen Träumen passiert, deshalb wusste ich, dass es der richtige Ort war. In letzter Zeit hatte ich vieles einfach so hingenommen. Das Wissen, dass einem nicht mehr viel Zeit bleibt, verändert alles. Man wird irgendwie philosophischer. Wird sich über einiges klar – oder besser gesagt einige Dinge klären sich selbst – und alles ist auf einmal ganz logisch.

Der letzte Kuss ist viel wichtiger als der erste.

Der Mathe-Test ist überhaupt nicht wichtig.

Der Auflauf dagegen schon.

Das, was man gut kann, und das, was man nicht gut kann, sind nur zwei Seiten derselben Medaille.

Das Gleiche gilt für die Menschen, die du liebst, und die Menschen, die du nicht liebst – und die Menschen, die dich lieben, und die, die es nicht tun.

Wichtig ist, dass du ein paar Menschen hast, die dir wirklich wichtig sind.

Das Leben ist verdammt kurz.

Ich zog Lenas Halskette mit den Glücksbringern aus meiner Hosentasche und warf einen letzten Blick darauf. Dann ließ ich sie durch das offene Fenster des Volvo auf den Fahrersitz gleiten. Ich wollte nicht, dass die Kette kaputtging. Ich war froh, dass Lena sie mir geschenkt hatte. Sie gab mir das Gefühl, als wäre sie hier bei mir.

Aber ich war allein. Ich hatte es so gewollt. Keine Freunde, keine Familie. Kein Reden, kein Kelting. Nicht einmal Lena.

Ich wollte, dass sich alles so anfühlte, wie es tatsächlich war.

Es fühlte sich schrecklich an. Und in Wirklichkeit war alles noch viel schrecklicher.

Jetzt spürte ich es. Mein Schicksal kam auf mich zu. Mein Schicksal und noch etwas anderes.

Ein paar Meter von mir entfernt riss der Himmel auf. Fast rechnete ich damit, dass Link mit einer Packung Twinkies in der Hand auftauchte. Aber es war John Breed.

»Was ist los? Geht es Macon und Liv nicht gut?«, fragte ich.

»Doch. Soweit man das unter diesen Umständen sagen kann, geht es allen gut.«

»Was suchst du dann hier?«

Er zuckte mit den Schultern und schnippte den Deckel seines Sturmfeuerzeugs auf und zu. »Ich dachte, du könntest vielleicht einen Helfer brauchen.«

»Wozu? Um mich über die Kante zu stoßen?«, fragte ich halb im Scherz.

Er klappte den Feuerzeugdeckel zu. »Sagen wir mal, es ist schwieriger, als du denkst, wenn du erst mal oben stehst. Außerdem warst du auch mit mir da oben, oder?«

Es war eine total verquere Logik, genauso verquer wie die ganze Situation. Mir fiel keine Antwort darauf ein. Er war so ganz anders als der Fiesling, der mich auf dem Jahrmarkt gelinkt hatte, um mir meine Freundin auszuspannen. Jetzt war er ein halbwegs anständiger Typ. Das kann die Liebe aus einem machen. »Danke, Mann. Wie ist es denn so? Ich meine, wenn es abwärts geht.«

John schüttelte den Kopf. »Glaub mir, das willst du nicht wirklich wissen.«

Wir machten uns auf zum Wasserturm, der wie ein riesiger weißer Mond das Licht des echten Mondes abhielt. Die rostige Eisenleiter war nur noch ein paar Schritte von uns entfernt.

Ich wusste, dass sie hinter mir war, ehe John es bemerkte und sich umdrehte.

Amma.

Niemand außer ihr roch nach Bleistiftminen und Zimtpastillen.

»Ethan Wate! Ich war da, als du auf die Welt gekommen bist, und ich werde da sein, wenn du stirbst, ob von dieser Welt aus oder von jener.«

Ich ging einfach weiter.

Ihre Stimme wurde lauter. »Wie auch immer, heute ist jedenfalls nicht dieser Tag.«

»Verdammt noch mal, Wate. Für einen Sterblichen hast du eine ziemlich gespenstische Familie«, sagte John leicht belustigt.

Ich machte mich darauf gefasst, einer mit Perlen und Figürchen, vielleicht auch mit einer Bibel bewaffneten Amma gegenüberzustehen. Aber als ich mich umdrehte, fiel mein Blick auf die geflochtenen Zöpfe und den Schlangenhautstab des Bokor.

Er grinste. »Wie ich sehe, hast du dein Ti-bon-ange nicht gefunden. Oder etwa doch? Es ist leichter zu finden als festzuhalten, nicht wahr?«

»Sprich nicht mit ihm«, fuhr ihn Amma an. Keine Ahnung, wozu der Bokor hergekommen war, jedenfalls bestimmt nicht, um mir in letzter Sekunde den Sprung auszureden.

»Amma!«, sagte ich laut. Sie drehte sich zu mir und sah mich an, und da begriff ich, wie verzweifelt sie war. Ihre klugen braunen Augen blickten wirr und nervös, ihre Haltung war nicht mehr aufrecht und stolz, sondern gebeugt und gebrochen. »Ich weiß nicht, wieso du diesen Typen mitgebracht hast, aber du solltest dich nicht mit jemandem wie ihm abgeben.«

Der Bokor warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Wir haben einen Handel getätigt, die Seherin und ich. Und ich habe die Absicht, meinen Teil des Handels zu erfüllen.«

»Welcher Handel?«, fragte ich.

Amma warf dem Bokor einen unmissverständlichen Blick zu. Dann winkte sie mich zu sich, so wie sie mich als Kind immer herbeizitiert hatte. »Das geht niemanden etwas an außer mich und meinen Schöpfer. Du kommst jetzt sofort mit nach Hause, und er geht dorthin zurück, wo er hergekommen ist.«

»Das klingt nicht gerade nach einer freundlichen Bitte«, sagte John. »Was, wenn Ethan nicht mitkommen will?«, fragte er Amma.

Sie kniff die Augen zusammen. »Ich wusste, dass du hier sein würdest. Du bist der Teufel, der meinen Jungen reitet. Das eine oder andere kann ich immer noch sehen, zum Beispiel dass du dunkel bist wie ein Stück Kohle im Schnee – ganz gleich, welche Farbe deine Augen haben. Deshalb habe ich selbst ein bisschen Dunkelheit mitgebracht.«

Der Bokor war nicht wegen mir und meiner zerbrochenen Seele da, er war hier, damit John Amma nicht in die Quere kam.

John hob beschwichtigend die Hände. »Ich versuche gar nicht, Ethan zu irgendetwas zu überreden. Ich bin als Freund gekommen.«

Ich hörte etwas klirren. Erst da fiel mir auf, dass am Gürtel des Bokors eine Schnur mit Flaschen hing, wie man sie an den Flaschenbäumen findet.

Der Bokor hielt eine der Flaschen hoch, seine Hand lag auf dem Korkverschluss. »Auch ich habe Freunde mitgebracht.«

Er entkorkte die Flasche. Ein dünner dunkler Rauchfaden stieg in die Luft und kräuselte sich fast hypnotisierend langsam, bis schließlich eine verschwommene Gestalt vor uns stand.

Sie sah ganz anders aus als die Schemen, die ich kannte. Die Glieder waren zerschunden und unnatürlich verrenkt, die Gesichtszüge fratzenhaft, ganze Teile davon fehlten, als wären sie bereits verwest. Der Schemen sah aus wie ein Zombie aus einem Horrorfilm – zerfetzt und verfallen. Seine Augen waren unstet und leer.

John wich einen Schritt zurück. »Ihr Sterblichen seid ja noch durchgeknallter als Übernatürliche.«

»Was zum Teufel ist das?«, fragte ich und starrte wie gebannt auf die Schreckgestalt.

Der Bokor verstreute irgendein Pulver auf den Boden um sich herum. »Eine Seele der Unberufenen. Wenn die Familien sich nicht um ihre Toten kümmern, dann komme ich und hole sie.« Lächelnd schüttelte er die Flasche.

Mir wurde schlecht. Ich hatte es immer für Ammas verrückten Aberglauben gehalten, dass man Geister in Flaschen einfangen könnte. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass sich tatsächlich bösartige Voodoo-Priester mit alten Cola-Flaschen auf Friedhöfen herumtrieben.

Der gequälte Geist kam auf John zu, den Mund zu einem stummen, entsetzlichen Schrei aufgerissen. John spreizte die Hände, so wie Lena es immer tat. »Hau ab, Ethan. Keine Ahnung, was dieses Ding vorhat.«

Da schossen auch schon Flammen aus Johns Händen. Ich wich stolpernd zurück. Er verfügte zwar nicht über die gleichen Kräfte wie Lena oder Sarafine, aber für ein Feuer reichte es. Die Flammen ergriffen den Schemen und hüllten ihn ein. Ich sah seine lodernden Umrisse und das zu einer Grimasse erstarrte Gesicht. Dann verzog sich der Dunst und die Gestalt war verschwunden. Blitzschnell kräuselte sich der dunkle Rauch außerhalb des Feuers und gleich darauf trat der Schemen ein paar Schritte von uns entfernt wieder in Erscheinung.

»Schätze, das ging daneben.« John wischte sich die Hände an seiner Jeans ab. Ich hab nicht …«

Der Unberufene schnellte auf John zu, blieb jedoch nicht vor ihm stehen, sondern flog mitten in ihn hinein. Er verschwand, weil John im selben Moment raumwandelte und ihn mit Gewalt von sich stieß. Es sah aus, als würde der Geist von einem Vakuum verschlungen.

John materialisierte sich ein paar Schritte entfernt. Entsetzt tastete er sich ab, wie um sich zu vergewissern, dass nichts von ihm fehlte. Das Wesen tauchte wieder auf und ballte sich ungerührt in einer Dunstspirale.

»Was hat das Ding mit dir gemacht?«

John versuchte immer noch, etwas Unsichtbares von sich abzuschütteln. »Es wollte in mich eindringen. Böse Geister müssen von einem Körper Besitz ergreifen, wenn sie wirklichen Schaden anrichten wollen.«

Wieder klirrte Glas. Der Bokor öffnete einen weiteren Korken und aus einer Flasche quoll eine dunkle Wolke.

»Er hat noch mehr davon.«

»Dann sind wir geliefert«, sagte John.

»Amma, tu was dagegen!«, rief ich, aber sie reagierte nicht.

Sie stand mit verschränkten Armen da und wirkte entschlossener und verrückter denn je. »Wenn du schön brav mit mir nach Hause gehst, verschließt er die Flaschen schneller wieder, als du ein Glas Milch verschütten kannst.«

Amma war so sehr ins Dunkle gereist, dass ich nicht wusste, wie ich sie erreichen oder gar zurückholen konnte.

Ich wandte mich an John. »Kannst du diese dunklen Geister nicht verschwinden lassen oder sie in irgendwas verwandeln?«

John schüttelte den Kopf. »Die Kräfte, die ich habe, wirken nicht bei zornigen Unberufenen.«

Rauchkringel wehten an uns vorbei, als plötzlich jemand aus der Dunkelheit hervortrat. »Zum Glück verfüge ich über einige sehr wirkungsvolle Mittel.« Macon Ravenwood paffte Zigarrenwölkchen in die Luft. »Amarie, ich bin enttäuscht. Heute ist nicht dein bester Tag.«

Die Flaschen am Gürtel des Bokors klirrten gefährlich, als Amma sich an ihm vorbeidrängte. Mit ihrem dürren Finger deutete sie auf Macon. »Für deine Nichte würdest du das Gleiche tun, Melchizedek, und zwar flinker, als ein Sünder das Geld vom Kollektenteller stiehlt! Tu nicht so großspurig, weil ich weder mitansehen noch zulassen werde, dass mein Junge dein Opferlamm spielt!«

Der Bokor ließ eine weitere unberufene Seele hinter Amma frei. Macon beobachtete, wie sie in die Luft stieg. »Entschuldigen Sie, Sir. Ich muss Sie bitten, Ihre Habseligkeiten einzupacken und sich davonzumachen. Meine Freundin hier war nicht Herrin ihrer Sinne, als sie sich Ihrer Dienste versicherte. Kummer benebelt den Verstand, wissen Sie.«

Der Bokor lachte, zeigte mit seinem Stab auf einen der Geister und lenkte ihn in Macons Richtung. »Ich bin kein Handlanger, Caster. Den Handel, den sie mit mir geschlossen hat, kann man nicht rückgängig machen.«

Der Geist, dessen schlaffer Mund grotesk verzerrt war, drehte sich einmal um sich selbst und griff Macon an.

Macon schloss die Augen – und ich hielt die Hand schützend vor meine, um mich gegen das grüne Licht zu wappnen, das schon bei Hunting so zerstörerisch gewirkt hatte. Aber es kam kein Licht, sondern das genaue Gegenteil. Das völlige Fehlen von Licht. Absolute Dunkelheit.

Über dem Unberufenen formte sich ein weiter Kreis allertiefster Finsternis. Es sah aus wie das Satellitenfoto eines Hurrikans, nur dass nirgends ein Wirbelsturm war. Denn das hier war ein echtes Loch im Himmel.

Der Unberufene drehte sich wieder um sich selbst und wurde von dem schwarzen Loch wie ein Magnet angezogen. Als er den äußeren Rand des Loches erreicht hatte, verschwand er nach und nach, so als würde er langsam von einem Strudel aufgesaugt. Es sah so aus wie damals, als ich meine Hand in das Gitter vor der Lunae Libri gesteckt hatte, nur dass es diesmal keine Sinnestäuschung war. Als die Leere schließlich auch die geisterhaft schimmernden Füße des Unberufenen verschluckt hatte und von ihm nichts mehr zu sehen war, schloss sich das Loch und löste sich in Nichts auf.

»Hast du eine Ahnung, wie er das gemacht hat?«, fragte mich John leise.

»Ich weiß ja nicht mal genau, was er gemacht hat.«

Der Bokor riss verblüfft die Augen auf, ließ sich jedoch nicht beirren. Er zeigte mit seinem Stab nacheinander auf die anderen geschundenen Gestalten, die sich daraufhin gemeinsam in Macons Richtung wandten. Aber im selben Moment taten sich hinter ihnen pechschwarze Löcher auf und zogen sie in sich hinein. Dann verschwanden die Löcher wie ein Feuerwerk, das verpufft.

Dem Bokor rutschte eine der leeren Flaschen aus der Hand und sie zerschellte auf der ausgetrockneten Erde. Macon öffnete die Augen und blickte ihn gelassen an.

»Wie ich schon sagte, Ihre Dienste sind hier nicht länger vonnöten. Ich schlage vor, Sie verschwinden in Ihrem eigenen Erdloch, ehe ich eines für Sie schaffe.«

Der Bokor öffnete seinen Beutel aus grobem Stoff und nahm eine Handvoll des kalkweißen Staubs heraus, mit dem er schon den Boden ringsum bestreut hatte. Amma wich zurück und hob vorsichtshalber den Saum ihres Kleides an. Der Bokor streckte die Hand aus und blies die feinen Körner auf Macon.

Der Staub flog durch die Luft wie Asche, erreichte Macon jedoch nicht, denn sofort öffnete sich ein schwarzes Loch und verschluckte die Körner.

Macon rollte seine Zigarre zwischen den Fingern. »Sir – und ich benutze diese Anrede offenbar allzu großzügig –, solange Sie nichts Besseres zu bieten haben, rate ich noch einmal, Sie gehen mit Ihrem Spazierstöckchen nach Hause.«

»Oder was, Caster?«

»Oder das nächste Loch wird für Sie bestimmt sein.«

Die Augen des Bokors blitzten in der Dunkelheit. »Das war ein Fehler, Ravenwood. Die alte Frau steht in meiner Schuld, und sie wird sie bezahlen – in diesem Leben oder im nächsten. Du hättest dich nicht einmischen sollen.« Er warf etwas auf den Boden, von dem Rauch aufstieg. Als er sich verzogen hatte, war auch der Bokor verschwunden.

»Er kann raumwandeln?«, fragte ich verdattert.

Macon kam auf uns zu. »Taschenspielertricks eines drittklassigen Zauberers.«

John sah Macon bewundernd an. »Wie haben Sie das nur hingekriegt? Ich wusste ja, dass Sie Licht schaffen können, aber was war das gerade eben?«

»Dunkle Flecken. Löcher im Universum, schätze ich«, erwiderte Macon. »Nichts besonders Angenehmes jedenfalls.«

»Aber Sie sind ein Lichter Caster. Wie können Sie Dunkelheit erschaffen?«

»Jetzt bin ich ein Lichter Caster, aber zuvor war ich lange Zeit ein Inkubus. Und in einigen von uns wohnen das Lichte und das Dunkle nebeneinander. Das solltest du am besten wissen, John.«

John wollte noch etwas sagen, aber Amma kam ihm zuvor.

»Melchizedek Ravenwood!«, rief sie. »Das war das letzte Mal, dass ich dich gebeten habe, dich nicht in meine Angelegenheiten zu mischen. Kümmere du dich um deine Familie und ich gebe auf meine acht. Ethan Wate! Du kommst augenblicklich mit!«

Ich schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht.«

Amma warf Macon einen giftigen Blick zu. »Daran bist du schuld. Das werde ich dir nie verzeihen, hörst du? Weder heute noch morgen und auch nicht, wenn wir uns wegen unserer Sünden in der Hölle wiedersehen – und wegen der Sünde, die ich gleich begehen werde.« Sie verstreute etwas im Kreis. Die weißen Kristalle glitzerten wie Schneeflocken. Salz.

»Amarie!«, rief Macon, aber seine Stimme war sanft. Er wusste, dass sie am Ende ihrer Kräfte war.

»Tante Delilah, Onkel Abner, Tante Ivy, Großmutter Sulla. Ich brauche eure Hilfe!« Amma blickte zum schwarzen Himmel hinauf. »Ich bin Blut von eurem Blut, und ich rufe euch, damit ihr mir helft, jene abzuwehren, die bedrohen, was ich am meisten liebe.«

Sie rief die Ahnen, sie wollte, dass sie sich gegen Macon verschworen. Ich spürte, was das für sie bedeutete, spürte ihre Verzweiflung, ihren Wahnsinn, ihre Liebe. Und doch war es nicht richtig, denn sie legte zu viel vom Falschen mit hinein. Aber sie war im Augenblick zu verblendet, um das zu begreifen.

»Sie werden nicht kommen«, flüsterte ich Macon zu. »Sie hat kürzlich schon einmal versucht, sie zu rufen, da haben sie sich auch nicht blicken lassen.«

»Nun ja, vielleicht hat es ihnen seinerzeit an der richtigen Motivation gefehlt.« Ich folgte Macons Blick über den Wasserturm hinaus und sah die Gestalten im Mondlicht aufschimmern. Die Ahnen – Ammas Vorfahren aus dem Jenseits. Endlich hatten sie Amma gehört.

Amma zeigte auf Macon. »Er ist derjenige, der meinem Jungen wehtun und ihn von dieser Welt nehmen will. Haltet ihn auf! Tut, was richtig ist!«

Die Ahnen starrten auf Macon herab und ich hielt gespannt den Atem an. Sulla hatte sich Perlenschnüre ums Handgelenk gebunden, der Rosenkranz einer Religion, die nur sie allein kannte. Neben ihr standen Delilah und Ivy und musterten Macon.

Nur Onkel Abner sah mich an. Unsere Blicke trafen sich. Seine Augen waren groß und braun und ich las viele Fragen darin. Ich wollte sie beantworten, aber ich wusste nicht genau, was er wissen wollte.

Er bekam die Antworten auch so, denn er wandte sich an Sulla und sprach mit ihr in Gullah.

»Tut, was richtig ist!«, rief Amma in die Dunkelheit hinaus.

Die Vorfahren blickten sie an und reichten sich die Hände. Dann kehrten sie ihr langsam den Rücken zu. Sie taten, was richtig war.

Mit einem erstickten Schrei sank Amma auf die Knie. »Nein!«

Sich an den Händen haltend und den Blick zum Mond gerichtet, verschwanden die Ahnen wieder.

Macon legte mir die Hand auf die Schulter. »Ich werde auf Amarie aufpassen. Ob sie es will oder nicht.«

Ich ging zu der rostigen Eisenleiter.

»Soll ich mitkommen?«, rief mir John hinterher.

Ich schüttelte den Kopf. Das war etwas, was ich allein tun musste. So allein, wie man sein kann, wenn einen die Hälfte der eigenen Seele auf Schritt und Tritt verfolgt.

»Ethan …«, rief Macon.

Ich hielt mich an der Seitenstrebe der Leiter fest. Ich schaffte es nicht, mich umzudrehen.

»Bis dann, Mr Wate.« Das war’s. Ein paar dürre Worte. Mehr war nicht zu sagen.

»Sie werden an meiner Stelle auf sie aufpassen.« Das war nicht als Frage gemeint.

»Das werde ich, mein Sohn.«

Ich fasste die Leiter fester.

»Nein! Mein Junge!«, hörte ich Amma schreien. Und ich hörte, wie sie versuchte, sich aus Macons Griff zu winden, der sie jetzt offenbar festhielt.

Ich kletterte die Sprossen hinauf.

»Ethan Lawson Wate …« Mit jedem erstickten Schrei zog ich mich höher und dabei ging mir immer wieder ein Gedanke durch den Kopf.

Der richtige Weg ist nicht immer der bequeme.