1_022_13828_Garcia.tifDie ultimative Waffe

18.10.

An der Tür von Macons Arbeitszimmer hüstelte ich und Macon sah auf. Meine Befürchtung, dass wir ihn aufwecken könnten, war unbegründet gewesen. An seinem Tisch saß schon Link und sah einfach erbärmlich aus.

Macon winkte mich zu sich. »Link hat mir schon alles berichtet. Zum Glück ist er gleich zu mir gekommen, ehe er jemanden verletzen konnte.« Daran, welchen Schaden ein vor Wut tobender Inkubus anrichten konnte, hatte ich gar nicht gedacht.

»Was heißt alles?«, fragte ich und ging zu ihm.

»Dass meine Nichte sich aus dem Haus geschlichen hat.« Macon sah mich scharf an. »Keine sehr weise Entscheidung.«

»Nein, Sir.« Macon war bereits verärgert, da wollte ich nicht auch noch Öl ins Feuer gießen.

Er verschränkte die Arme. »Und dass Ridley es irgendwie geschafft hat, einen Furor hervorzubringen.«

Das klang schon bedeutend ungehaltener.

»Ich weiß, dass Sie wütend sind, aber wir müssen Ihnen etwas sehr, sehr Wichtiges erzählen.« Ich blickte zur Tür. »Am besten sehen Sie es sich selbst an.«

»John Breed.« Macon machte ein finsteres Gesicht. »Das ist in der Tat eine äußerst unerwartete Wendung der Dinge, in Anbetracht aller Umstände.«

John war einen Schritt neben der Tür stehen geblieben, so als wollte er sich den Fluchtweg sichern wie ein Sterblicher. In Macons Gegenwart war von seiner angeberischen Lässigkeit nicht mehr viel übrig.

Link starrte ihn an, als würde er ihn am liebsten in Stücke reißen. »Was zum Teufel hat der hier zu suchen?«

Link tat mir leid, weil er zusammen mit John im selben Raum sein musste. Er hasste John wahrscheinlich noch mehr als ich, falls das überhaupt möglich war.

Lena konnte weder ihrem Onkel noch Link in die Augen schauen. Sie schämte sich für Ridley und auch dafür, dass sie es nicht früher herausgefunden hatte. Vor allem aber machte sie sich schreckliche Sorgen um ihre Cousine, egal was sie getan hatte. »Ridley hat John im Bogenlicht eingesperrt und es dann aus deinem Grab gestohlen, nachdem wir es dort vergraben hatten, Onkel Macon. Sie hat John freigelassen, und sie hat seinen Gürtel als Bindeglied benutzt, damit er seine Kräfte für sie einsetzen konnte.«

»Seinen Gürtel?«

Liv holte ihr kleines rotes Notizbuch hervor. »Der Gürtel, den Lena jetzt trägt. Dieses scheußliche Ding mit dem eingeschlossenen Skorpion.«

Macon streckte die Hand aus. Lena öffnete die Schließe und reichte ihm den Gürtel.

Link fragte John vorwurfsvoll: »Was hast du mit ihr gemacht?«

»Nichts. Im Gegenteil. Seit Ridley mich aus dem Bogenlicht befreit hat, kommandiert sie mich herum.«

»Und warum hast du dir das gefallen lassen?« Auch Macon war skeptisch. »Du hast dich bisher nicht gerade durch Selbstlosigkeit hervorgetan.«

»Mir blieb nichts anderes übrig. Ich sitze jetzt schon seit Monaten in diesem Haus fest, und es gelingt mir einfach nicht, herauszukommen.« John lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. »Ridley wollte mir nicht helfen, es sei denn, ich würde einen Weg finden, wie sie wieder Caster-Kräfte bekommt. Also hab ich einen gefunden.«

»Wir sollen allen Ernstes glauben, dass sich ein mächtiger Zwitter-Inkubus von einem sterblichen Mädchen in ihrem Zimmer einsperren lässt?«

John schüttelte entnervt den Kopf. »Wir sprechen hier von Ridley. Ihr macht alle den Fehler, sie zu unterschätzen. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann bekommt sie das auch.« Wir wussten alle, dass er recht hatte.

»Er sagt die Wahrheit, Onkel Macon«, mischte sich Reece ein, die neben dem offenen Kamin stand.

»Bist du dir wirklich ganz sicher?«

Reece war Macon gegenüber viel zahmer. Mir hätte sie bei dieser Frage den Kopf abgerissen.

»Ja.«

John sah erleichtert aus.

Liv trat vor, in der Hand ihr Notizbuch. Es war ihr egal, wieso Ridley etwas getan hatte oder auch nicht getan hatte. Ihr ging es um Tatsachen. »Wir haben dich gesucht, aber das weißt du bestimmt«, sagte sie zu John.

»Ach ja? Ich wette, da wart ihr nicht die Einzigen.«

Liv und Macon überredeten John, sich mit uns an den Tisch zu setzen. Link weigerte sich natürlich und stellte sich schmollend neben dem Kamin an die Wand. Wenn man mal den ganzen Linkubus-Hype wegließ, dann hatte John Link in einer Weise verändert, die ich wohl niemals ganz verstehen würde. Aber ich wusste etwas, das John nicht wusste.

Sosehr es Link auch schmeichelte, dass alle Mädchen verrückt nach ihm waren, im Grunde bedeutete es ihm nichts. Es gab nur ein Mädchen, das für ihn zählte, und keiner von uns wusste, wo sie war.

»Abraham hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, um herauszufinden, wo du bist, und dabei hat er die Stadt buchstäblich auseinandergenommen. Ich möchte wissen, warum. Abraham tut nie etwas ohne Grund.« Macon stellte die Fragen und Liv notierte die Antworten. Reece saß John gegenüber und achtete auf jedes Anzeichen einer Lüge.

John zuckte die Schultern. »Ich weiß es auch nicht. Er hat mich zwar gefunden, als ich noch ein Kind war, aber eine Vaterfigur war er nicht gerade für mich, wenn ihr wisst, was ich meine.«

Macon nickte. »Du sagst, er hat dich gefunden. Was war mit deinen Eltern?«

John rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. »Ich weiß nicht. Sie sind verschwunden. Ich bin ziemlich sicher, dass sie mich loswerden wollten, weil ich … anders war.«

Liv hielt mit dem Schreiben inne. »Kein Caster ist wie der andere.«

John lachte. »Ich bin kein normaler Caster. Meine Kräfte haben sich nicht erst im Teenager-Alter gezeigt.«

Liv starrte ihn an. Er deutete auf ihr Notizbuch. »Was ist, willst du das nicht aufschreiben?«

Sie zog eine Augenbraue hoch. Befragter nimmt aggressive Haltung an. Ich konnte es förmlich auf der Seite lesen.

»Ich bin schon so auf die Welt gekommen, meine Kräfte sind im Laufe der Zeit immer stärker geworden. Wisst ihr, wie das ist, wenn man Dinge tun kann, die sonst kein Gleichaltriger tun kann?«

»Ja.« Irgendetwas schwang in Livs Stimme mit, es war eine Mischung aus Traurigkeit und Mitgefühl. Sie war schon immer klüger gewesen als alle anderen, sie hatte Apparate gebaut, mit denen man die Anziehungskraft des Mondes messen konnte, oder andere Dinge, für die sich niemand interessierte oder die niemand verstand.

Macon musterte John, und man sah geradezu, wie der einstige Inkubus den seltsamen neuen Inkubus einzuschätzen versuchte. »Und was genau sind das für Kräfte, über die du verfügst, einmal abgesehen davon, dass dir das Tageslicht nichts anhaben kann?«

»Die ganz normale Inkubus-Ausstattung. Riesenkräfte, scharfes Gehör, feiner Geruchssinn. Ich kann raumwandeln. Und die Mädchen fliegen auf mich.« John hielt inne und sah Lena an, als hätten die beiden ein Geheimnis miteinander. Lena schaute weg.

»Nicht so sehr, wie du denkst«, sagte ich.

Er lächelte mich an und genoss es, dass mir hier, in Macons Gegenwart, die Hände gebunden waren. »Ich kann auch noch andere Dinge.«

Liv sah ihn an. »Zum Beispiel?«

Link hatte die Arme verschränkt, starrte stur in Richtung Tür und tat so, als interessierte ihn das alles nicht. Aber ich wusste, dass er zuhörte. Ob er wollte oder nicht, er und John waren für alle Zeiten aneinandergekettet. Je mehr Link über John wusste, desto besser wusste er über sich selbst Bescheid.

John blickte Reece an, dann Lena. Was immer es auch war, er wollte nicht damit herausrücken. »Belangloses Zeug.«

Macons Augen flackerten. »Was soll das heißen, belangloses Zeug? Könntest du das vielleicht etwas genauer erläutern?«

John lenkte ein. »Es klingt bedeutender, als es ist. Also gut. Ich kann die Kräfte anderer Caster aufsaugen.«

Liv hielt mit dem Schreiben inne. »Wie ein Empath?« Lenas Großmutter konnte sich für kurze Zeit der Kräfte anderer Caster bedienen, aber sie hatte nie davon gesprochen, dass sie sie in sich »aufsaugen« könnte.

John schüttelte den Kopf. »Nein. Ich behalte diese Kräfte.«

Liv riss die Augen auf. »Heißt das, du stiehlst sie?«

»Nein, die Caster behalten ihre Kräfte, aber ich verfüge dann ebenfalls über deren Magie. Sie geben mir sozusagen etwas davon ab.«

»Und wie funktioniert das?«, wollte Liv wissen.

Macon lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Die Antwort auf diese Frage interessiert auch mich brennend, Mr Breed.«

Johns Blick wanderte zu Lena. Ich wäre am liebsten über den Tisch gesprungen. »Ich muss einfach nur ihre Haut berühren.«

»Wie bitte?« Lena sah aus, als hätte er ihr ins Gesicht geschlagen. War das der Grund, weshalb er beim Tanzen im Exil die Hände nicht von ihr gelassen hatte? Oder als sie damals am See auf den Beifahrersitz seines blöden Motorrads geklettert war? Hatte er da wie ein Parasit ihre Kräfte in sich aufgesogen?

»Ich mache das nicht absichtlich. Es passiert einfach. Ich kann mit den meisten Kräften nicht mal etwas anfangen.«

»Aber ich bin sicher, Abraham kann das.« Macon goss sich eine dunkle Flüssigkeit aus einer Karaffe ein, die plötzlich auf dem Tisch aufgetaucht war. Das verhieß nichts Gutes.

Liv und Macon tauschten einen Blick in stillem Einvernehmen aus. Sie verstanden sich auch ohne Worte.

Ich sah, wie es in Livs Gehirn arbeitete. »Was hat Abraham damit vor?«

»Mit einem Zwitter-Inkubus, der die Kräfte anderer Caster aufnehmen kann?«, fragte Macon zurück. »Ich bin mir nicht ganz sicher, aber wenn er diese Möglichkeiten nutzen könnte, dann hätte Abraham die ultimative Waffe. Kein Sterblicher könnte sich einer solchen Macht widersetzen.«

John wirbelte herum und starrte Macon an. »Was haben Sie gesagt?«

»Ich wiederhole meine Worte gern noch einmal …«

»Halt!« John ließ Macon nicht ausreden. Er schloss die Augen und konzentrierte sich. »Caster sind eine unvollkommene Spezies. Sie besudeln unsere Blutlinien und nutzen ihre Kräfte, um uns zu unterdrücken. Doch der Tag wird kommen, an dem wir die ultimative Waffe einsetzen und sie von der Erde tilgen werden.«

»Was ist das denn für ein Quatsch?« Jetzt hatte John es geschafft, sogar Link aus der Reserve zu locken.

»Als ich noch klein war, haben Abraham und Silas das oft gesagt. Manchmal, wenn ich etwas ausgefressen hatte, ließ mich Silas diesen Satz immer und immer wieder schreiben, stundenlang.«

»Silas?« Macon versteifte sich, als der Name seines Vaters fiel. Ich dachte daran, was meine Mutter mir in der Bogenlichtvision über Silas erzählt hatte. Sie hatte ihn als wahres Ungeheuer geschildert, das seinen Hass an seine Söhne weitergeben wollte – und allem Anschein nach auch an John.

Macon sah John an, und seine Augen wurden so dunkel, dass das Grün fast schwarz wirkte. »Woher kennst du meinen Vater?«

John richtete seine unergründlichen grünen Augen auf Macon und hielt seinem Blick stand. Als er schließlich antwortete, klang seine Stimme anders – nicht mehr selbstbewusst oder überheblich, gar nicht mehr wie John Breed.

»Er hat mich großgezogen.«