Die Karten der
Vorsehung
7.12.
Als ich nach Hause kam, war Mitternacht schon längst vorbei. Alle im Haus schliefen – nur eine nicht. Bei Amma brannte noch Licht, der Schein fiel durch die blauen Fensterläden. Ich fragte mich, ob sie wohl wusste, dass ich weggegangen war und auch wohin. Ich hoffte es beinahe. Das, was ich jetzt vorhatte, würde dann hundertmal einfacher sein.
Amma war kein Mensch, mit dem man sich so ohne Weiteres auf eine Auseinandersetzung einließ. Denn im Grunde war sie die Konfrontation in Person. Sie lebte nach ihren eigenen Regeln und Gesetzen, und die Dinge, an die sie glaubte, waren für sie so sicher und wahr wie die Tatsache, dass die Sonne am nächsten Tag wieder aufging. Sie war die Einzige, die wie eine Mutter für mich war, und meistens vertrat sie sogar beide Elternteile. Die Vorstellung, mit ihr zu streiten, machte mich ganz schwach und krank.
Aber nicht so schwach wie der Gedanke, dass ich nur zur Hälfte ich selbst war. Nur die Hälfte des Menschen, der ich immer gewesen war. Amma wusste Bescheid, hatte mir aber nie etwas davon gesagt.
Und wenn sie etwas gesagt hatte, dann war es gelogen gewesen.
Ich klopfte an ihre Zimmertür, ehe ich es mir anders überlegen konnte. Sie machte sofort auf, als hätte sie mich erwartet. Sie trug das weiße Hauskleid mit den pinkfarbenen Rosen, das ich ihr letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte.
Sie schaute mich nicht an, sondern blickte an mir vorbei, als sähe sie noch etwas außer der Wand hinter mir. Vielleicht tat sie das ja auch. Vielleicht lagen überall Stücke von mir verstreut wie die Scherben einer zersprungenen Flasche.
»Hab schon auf dich gewartet«, sagte sie mit leiser, matter Stimme und machte mir Platz, damit ich eintreten konnte.
Ammas Zimmer sah immer noch verwüstet aus, aber eines hatte sich geändert. Auf dem kleinen runden Tisch vor dem Fenster lagen Karten. Ich ging hin und nahm eine in die Hand. Die Blutige Klinge. Das waren keine Tarotkarten.
»Legst du wieder Karten? Was sagen sie heute Abend, Amma?«
Sie kam zu mir an den Tisch und schob die Karten auf einen Stoß zusammen. »Nicht viel. Was man sehen kann, das habe ich gesehen.«
Eine weitere Karte stach mir ins Auge. Ich hielt sie Amma vor die Nase. »Was ist mit der hier? Die Zerbrochene Seele. Was bedeutet diese Karte?«
Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie drei Anläufe brauchte, um mir die Karte wegzunehmen. »Du glaubst, du wüsstest etwas, aber ein Stück von etwas ist so gut wie nichts. Weder das eine noch das andere ist von großem Nutzen.«
»Du meinst, ein Stück von meiner Seele? Ist das so gut wie nichts?« Ich sagte es, um ihr wehzutun, um ihre eigene Seele aufzuwühlen, damit sie merkte, wie sich das anfühlte.
»Wo hast du das gehört?« Ihre Stimme bebte. Ihre Finger rieben fahrig das abgegriffene goldene Amulett um ihren Hals.
»Von deinem Freund in New Orleans.«
Amma taumelte einen Schritt zurück und hielt sich an der Stuhllehne fest. An ihrer Reaktion konnte ich ablesen, dass sie in ihren Karten alles Mögliche gesehen hatte, aber ganz bestimmt nicht, wie ich zusammen mit dem Bokor Seelen heraufbeschwor. »Sagst du mir wirklich die Wahrheit, Ethan Wate? Hast du diesen Teufel aufgesucht?«
»Ich bin zu ihm gegangen, weil du mir nicht die Wahrheit gesagt hast. Mir ist nichts anderes übrig geblieben.«
Amma hörte mir nicht zu. Sie mischte hektisch die Karten und ließ sie von einer Hand in die andere gleiten. »Tante Ivy, zeige mir etwas. Sage mir, was das zu bedeuten hat«, murmelte sie.
»Amma!«
Sie ließ sich nicht beirren und legte die Karten immer wieder neu. »Ich kann nichts sehen. Es muss eine Möglichkeit geben. Es gibt immer eine. Ich muss nur weitersuchen.«
Ich fasste sie sachte an den Schultern. »Amma. Leg die Karten weg. Sprich mit mir.«
Sie hielt eine Karte hoch, auf der ein Sperling mit gebrochenem Flügel abgebildet war. »Die Vergessene Zukunft. Weißt du, wie man diese Karten nennt? Die Karten der Vorsehung. Denn sie können mehr als nur die Zukunft vorhersagen. Sie sagen das Schicksal voraus. Kennst du den Unterschied?«
Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte Angst, etwas zu sagen, um Amma nicht noch mehr zu verstören.
»Die Zukunft kann sich ändern.« Ihre dunklen Augen füllten sich mit Tränen. »Vielleicht kann man auch das Schicksal ändern.«
Sie fing an zu weinen und schüttelte wie besessen den Kopf. »Das Rad des Schicksals zermalmt uns alle.«
Nicht schon wieder dieser Satz. Amma reiste nicht nur ins Dunkle, sie verlor allmählich den Verstand. Und ich stand daneben und sah zu.
Amma riss sich von mir los und fiel auf die Knie. Mit geschlossenen Augen wandte sie das Gesicht zur Zimmerdecke. »Onkel Abner, Tante Ivy, Großmutter Sulla, ich brauche eure Fürsprache. Vergebt mir meine Schuld, wie auch der Herr uns unsere Schuld vergibt.« Ich sah zu, wie sie wartete und dabei die Worte immer wieder vor sich hinsprach.
Erst nach einer guten Stunde hörte sie damit auf, völlig erschöpft und niedergeschlagen.
Die Ahnen waren nicht gekommen.
Als ich klein war, hatte meine Mutter immer gesagt, dass man alles, was man über die Südstaaten wissen müsse, entweder in Savannah oder in New Orleans lernen könnte. Anscheinend traf das Gleiche auch auf mein Leben zu.
Lena war allerdings anderer Meinung. Am nächsten Morgen saßen wir im Geschichtsunterricht in der hinteren Reihe und stritten uns.
»Eine zerbrochene Seele sind nicht zwei Dinge, L. Es ist ein und dasselbe, nur eben in zwei Hälften gespalten.«
Als ich angefangen hatte, ihr etwas von meinen »zwei Seelen« zu erzählen, hatte Lena zur »zwei« gehört und war sofort davon ausgegangen, dass ich mich selbst als der Eine, der Zwei war, opfern wollte.
»Jeder von uns könnte es sein. Wenn überhaupt, dann bin ich die Eine, die Zwei ist. Schau dir nur meine Augen an!« Ich spürte geradezu ihre wachsende Angst.
»Ich behaupte ja gar nicht, dass ich dieser Eine bin, L. Ich bin nur ein Sterblicher. Nur eine mächtige Caster war in der Lage, die Ordnung der Dinge zu zerstören. Da wird es schon mehr als einen schwachen Sterblichen brauchen, um sie wiederherzustellen, meinst du nicht auch?«
Sie wirkte nicht sonderlich überzeugt, auch wenn sie tief in ihrem Innersten bestimmt wusste, dass ich recht hatte. Im Guten wie im Bösen war ich eben nur ein Sterblicher, mehr nicht. Das war die Ursache für alle Probleme zwischen uns. Der Grund, warum wir uns kaum berühren, geschweige denn uns körperlich richtig nahekommen konnten. Wie sollte ausgerechnet ich die Caster-Welt retten, wo ich mich doch kaum in ihr behaupten konnte?
»Link«, sagte Lena. »Er ist zwei – ein Inkubus und ein Sterblicher.«
»Pssst.« Ich schaute zu Link hinüber, aber er hatte nichts mitbekommen. Geistesabwesend versuchte er, mit einem Stift »LINKUBUS« in seine Tischplatte zu ritzen. »Ich bin ziemlich sicher, dass er sich weder bei dem einen noch bei dem anderen besonders hervortut.«
»John ist zweierlei: ein Caster und ein Inkubus.«
»L.«
»Ridley. Sie könnte auch als Sterbliche noch Spuren einer Sirene in sich tragen. Also ist sie auch zwei.« Lena stellte immer wildere Vermutungen an. »Amma ist eine Seherin und eine Sterbliche. Und damit zwei.«
»Amma ist es nicht!« Ich war wohl ziemlich laut geworden, denn die ganze Klasse drehte sich zu uns um. Lena sah mich beleidigt an.
»Tatsächlich nicht, Mr Wate? Dabei dachten wir alle, sie wäre es.« Mr Evans wartete nur darauf, den kleinen Block zu zücken, in den er alle eintrug, die nachsitzen mussten.
»Tut mir leid, Sir.«
Ich versteckte mich hinter meinem Geschichtsbuch und senkte die Stimme. »Es klingt vielleicht schräg, aber es hat auch sein Gutes. Jetzt weiß ich wenigstens, wieso diese ganzen verrückten Sachen mit mir passieren und wieso ich diese unheimlichen Träume habe und überall meine andere Hälfte sehe. Jetzt ergibt das alles einen Sinn.«
Das stimmte zwar nicht ganz, und Lena war auch nicht wirklich davon überzeugt, aber sie schwieg, und ich sagte ebenfalls nichts mehr dazu. Es gab auch so schon mehr als genug, was uns Kopfzerbrechen bereitete, da brauchte es nicht noch geteilte Seelen.
Das versuchte ich mir zumindest einzureden.
LASST ES SCHNEIEN!
ZEIT FÜR EINEN WETTERUMSCHWUNG!
SICHERT EUCH EURE KARTEN!
Überall hingen Plakate, als brauchte es tatsächlich noch eine Ankündigung. Der Winterball stand vor der Tür, und in diesem Jahr hatte das Festkomitee, das aus Savannah Snow und ihrem Gefolge bestand, beschlossen, den Ball »Schneeball« zu nennen. Savannah behauptete steif und fest, dass der Name nichts mit ihr zu tun hatte, sondern ausschließlich mit der Hitzewelle, weshalb ihn auch alle als Matschball bezeichneten. Und Lena und ich würden dabei sein.
Eigentlich wollte Lena gar nicht hingehen, sie wusste ja nur zu gut, was sich dort im letzten Jahr abgespielt hatte. Als ich ihr die Karten gab, verriet mir ihr Blick, dass sie die Tickets am liebsten angezündet hätte. »Das soll ein Witz sein, oder?«
»Nein, soll es nicht.« Ich saß ihr beim Mittagessen gegenüber und stocherte mit einem Strohhalm im zerstoßenen Eis meiner Cola herum. Das war kein guter Anfang.
»Nenn mir einen Grund, warum ich zu diesem Ball gehen sollte.«
»Um mit mir zu tanzen.«
»Wir können in meinem Zimmer tanzen.« Sie streckte mir die Hand hin. »Oder jetzt sofort, hier in der Cafeteria.«
»Das ist nicht dasselbe.«
»Ich gehe nicht zu dem Ball.« Lena schaltete auf stur.
»Dann gehe ich mit jemand anderem«, sagte ich.
Sie kniff die Augen zusammen.
»Zum Beispiel mit Amma.«
Lena schüttelte den Kopf. »Warum willst du unbedingt hin? Und sag jetzt bloß nicht wieder, weil du mit mir tanzen willst.«
»Es ist vielleicht unsere letzte Gelegenheit.« Außerdem wäre es eine angenehme Abwechslung, sich über etwas so Belangloses wie einen bescheuerten Ball den Kopf zu zerbrechen, anstatt dauernd über den Weltuntergang nachdenken zu müssen. Ich war beinahe enttäuscht, weil Ridley nicht da war, die den Ball mit Stil hätte ruinieren können.
Schließlich hatte Lena doch nachgegeben, obwohl sie noch immer empfindlich auf alles reagierte, was auch nur im Entferntesten mit dem Ball zu tun hatte. Aber das war mir egal. Ich würde mit ihr zusammen hingehen. Angesichts dessen, was gerade um uns herum passierte, konnte man nicht wissen, ob es jemals wieder einen Ball an der Jackson High geben würde.
Wir saßen auf den heißen Metallsitzen am Spielfeld und aßen unser Mittagessen, obwohl heute laut Kalender eigentlich ein kalter Dezembertag sein sollte. Lena und ich wollten Mrs English nicht in die Arme laufen, und Link wollte Savannah aus dem Weg gehen, deshalb hatten wir die Tribüne zu unserem Rückzugsort erkoren.
»Und, bist du immer noch dabei morgen?« Ich warf die Rinde meines Sandwichs auf Link. Morgen Abend war der Schneeball, aber wenn man in Gesellschaft von Link und Lena hingehen wollte, bestand bestenfalls eine Fifty-Fifty-Chance, dass man es überhaupt schaffte.
»Klar doch. Ich überlege nur noch, ob ich mir die Haare hochgelen soll oder nicht. Ich kann’s gar nicht erwarten, euch meinen heißen neuen Anzug zu zeigen.« Link warf die Rinde zu mir zurück.
»Warte erst mal, bis du mich siehst.« Lena zog ein Haargummi vom Handgelenk und band ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. »Ich komme in Regenmantel und Gummistiefeln und bringe einen Regenschirm mit, falls irgendjemand die Sache mit dem Matschball allzu wörtlich nimmt.« Sie versuchte gar nicht erst, den Sarkasmus in ihrer Stimme zu verbergen.
So ging das jetzt schon, seit ich sie überredet hatte, auf den Ball zu gehen. »Keiner zwingt euch dazu. Aber vielleicht ist das die letzte Party in Gatlin – vielleicht die letzte Party überhaupt. Ich gehe auf jeden Fall.«
»Hör auf damit. Es ist nicht die letzte Party.« Lena war frustriert.
»Genau, Alter, mach dir die Hosen nicht voll.« Link boxte mich an die Schulter, eine Spur zu heftig. »Alles läuft bestens. Lena kriegt die Sache in den Griff.«
»Ach ja?« Lena lächelte schief. »Vielleicht hat dich John heftiger gebissen, als wir bisher geglaubt haben.«
»Im Ernst. Kennst du nicht irgendeinen Lass-diesen-Ball-nicht-so-lahm-werden-Bann?« Seit Ridleys Verschwinden war Link einfach nur deprimiert. »Ach nein, so einen Bann gibt es gar nicht. Weil der Ball lahm wird, egal ob mit oder ohne Magie.«
»Warum versuchst du es nicht mal mit einem Bleib-zu-Hause-und-halt-die-Klappe-Bann? Du bist doch derjenige, der mit Savannah Snow auf den Ball geht.« Ich knüllte das Sandwichpapier zusammen.
»Sie hat mich eingeladen.«
»Sie hat dich auch nach dem Spiel auf ihre Party eingeladen, und du hast ja gesehen, wie gut das ausgegangen ist.«
Fang jetzt nicht davon an, Ethan.
Na ja, ist doch wahr.
Lena zog die Augenbrauen hoch.
Du schaffst es, dass er sich noch schlechter fühlt.
Glaub mir, Savannah schafft das noch viel besser.
Link seufzte. »Was meint ihr, wo sie jetzt wohl ist?«
»Wer?«, fragte ich, obwohl wir beide genau wussten, wen er meinte.
Link achtete nicht auf mich. »Wahrscheinlich macht sie gerade irgendwo Ärger.«
Lena faltete ihre Lunchtüte immer kleiner zusammen. »Ganz bestimmt macht sie irgendwo Ärger.«
Die Schulglocke läutete.
»Es ist wahrscheinlich besser so.« Link stand auf.
»Es ist garantiert besser so«, stimmte ich ihm zu.
»Schätze, es hätte schlimmer kommen können. Es ist ja nicht so, als würde ich ihretwegen durchdrehen. Als wäre ich in sie verknallt oder so.«
Ich fragte mich, wen er damit überzeugen wollte, aber bevor ich etwas sagen konnte, vergrub er die Hände in den Hosentaschen und stapfte quer übers Spielfeld davon.
»Ja, das wäre echt schlimm.« Ich drückte Lenas Hand, ließ sie aber wieder los, ehe mir schwindlig wurde.
»Er tut mir so leid.« Sie blieb stehen und fasste mich um die Hüfte. Ich zog sie an mich und sie schmiegte den Kopf an meine Brust. »Ich würde alles für dich tun, das weißt du, oder?«
Ich grinste. »Du würdest mir zuliebe sogar auf einen dämlichen Ball gehen.«
»Das würde ich. Und das werde ich.«
Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn, solange ich es aushalten konnte.
Sie blickte zu mir hoch. »Vielleicht sollten wir uns vornehmen, morgen Spaß zu haben. Damit Link mal für kurze Zeit Ridley vergessen kann.«
»Davon rede ich doch die ganze Zeit.«
»Ich habe auch schon eine Idee. Ich weiß etwas, womit wir ein gebrochenes Linkubus-Herz heilen können.«
Die Spitzen ihres Pferdeschwanzes begannen sich zu kräuseln, und auf dem Weg übers Spielfeld wünschte ich mir, dass es tatsächlich einen solchen Bannspruch gäbe.