1_022_13828_Garcia.tifBesuchszeiten

26.9.

Am nächsten Tag hatte Tante Grace herausgefunden, wo im Kühlschrank Mercy ihr Kaffeeeis versteckt hatte. Am Tag darauf hatte Tante Mercy herausgefunden, dass Grace das Eis gegessen hatte, und einen Anfall der schlimmsten Kategorie vorgetäuscht. Am Tag danach spielte ich mit den Schwestern den ganzen Nachmittag Scrabble, wobei sie nur unsinnige Wörter legten, bis ich derart durch den Wind war, dass ich ihnen JEDEWETTE als ein Wort und BAUMROLLE und GEWONN als korrekte Substantive durchgehen ließ.

Die Schwestern machten mich fix und fertig.

Doch eine fehlte. Eine, die nach Kupfer und Salz und Bratensoße roch. Eine, die vielleicht EINVALTSPINZEL gelegt hätte, obwohl sie genau das Gegenteil davon war. Eine, die aus dem Gedächtnis fast alle Caster-Tunnel im ganzen Süden aufzeichnen konnte.

Nach ein paar Tagen hielt ich es nicht mehr aus. Als Lena wieder einmal darauf drängte, endlich Tante Prue zu besuchen, weigerte ich mich nicht länger. Eigentlich wollte ich sie ja sehen. Ich wusste nur nicht, in welchem Zustand sie sich befand. Sah sie aus, als würde sie schlafen – so wie zu Hause auf dem Sofa? Oder sah sie so aus wie auf der Liege im Rettungswagen? Ich wusste es nicht und ich fühlte mich schuldig und ängstlich zugleich.

Aber vor allem wollte ich mich nicht länger einsam fühlen.

Das Bezirkskrankenhaus war eine Reha-Einrichtung, ein Zwischending zwischen einem Krankenhaus und einer Klinik, in der man beispielsweise nach einem schweren Unfall mit einem Geländefahrzeug landete. Oder wenn man sich mit einem Motocrossbike überschlagen hatte, in einen Lastwagen gerast oder von einem Sattelschlepper gestreift worden war. Manche Leute behaupten, man hätte Glück, wenn einem so etwas passiert, weil man bei einem Unfall mit dem richtigen Lastwagen eine ganze Menge Geld machen könnte. Man konnte aber auch tot sein. Oder beides, wie zum Beispiel Deacon Harrigan, der jetzt in einem der schönsten Gräber der ganzen Stadt ruhte, während seine Frau das Haus der Familie von Grund auf renovieren und für die Kinder sogar ein fest verankertes Trampolin springen ließ; seither gingen sie fünfmal pro Woche zum Essen zu Applebees nach Summerville. Carlton Eaton hatte es Mrs Lincoln erzählt, die hatte es Link gesagt und der hatte es mir verraten. Jeden Monat trudelte ein Scheck ein, der direkt von der Regierung in Columbia ausgestellt war, jahraus, jahrein. Das hat man davon, wenn man sich von einem Müllauto überfahren lässt.

Auf meinem Weg durch die Eingangshalle des Krankenhauses hatte ich nicht das Gefühl, dass Tante Prue Glück gehabt hatte. Daran änderte weder die plötzliche ungewohnte Stille etwas noch die Klimaanlage, die wie in allen Krankenhäusern auf vollen Touren lief. Überall lag ein widerlich süßer, fast pudriger Geruch in der Luft. Als wollte etwas Übelriechendes unbedingt seinen Gestank verbergen. Und was noch schlimmer war: Wie fast alles in Gatlin waren sowohl die Eingangshalle als auch die Gänge, ja sogar die grobkörnig verputzte Decke pfirsichfarben gestrichen. Es sah aus, als hätte jemand eine ganze Badewanne voll Thousand Island Dressing über Berge von Hüttenkäse gekippt und an die Decke geklatscht.

Oder doch eher French Dressing?

Es war ein Versuch, mich aufzuheitern.

Kann schon sein. Aber ich glaube, ich muss trotzdem gleich kotzen.

Komm schon, Ethan. Vielleicht wird es besser, wenn wir sie gesehen haben.

Was, wenn es schlimmer wird?

Es wurde schlimmer, und zwar keine drei Meter weiter. Bobby Murphy blickte vom Eingangstresen auf. Bei unserer letzten Begegnung waren wir beide noch in derselben Basketball-Mannschaft gewesen. Er hatte sich darüber kaputtgelacht, dass Emily Asher mir beim Schulball einen Korb gegeben hatte, weil aus ihrer glühenden Liebe für mich glühender Hass geworden war. Und ich hatte es hingenommen. Er war drei Jahre hintereinander Aufbauspieler der Auswahlmannschaft gewesen und niemand legte sich mit ihm an. Jetzt trug Bobby eine orangefarbene Krankenpfleger-Uniform und sah viel weniger taff aus. Er sah auch nicht so aus, als wäre er besonders erfreut, mich zu sehen. Dass auf seinem Namensschildchen BOOBY stand, machte die Sache nicht besser.

»Hey, Bobby. Dachte, du wärst im Summerville College.«

»Ethan Wate. Da bist hier und ich bin hier. Ich weiß nicht, wer von uns beiden schlimmer dran ist.« Er warf Lena einen kurzen Blick zu, aber er begrüßte sie nicht. Tratsch verbreitete sich wie Lauffeuer, daher hatte er mit Sicherheit sogar hier draußen im Krankenhaus alles mitbekommen, obwohl die Hälfte der Patienten keinen Laut von sich geben konnte.

Ich wollte lachen, aber es kam nur ein Gurgeln heraus, dann herrschte wieder Stille zwischen uns beiden.

»Ja. Es wird Zeit, dass du dich blicken lässt. Deine Tante Prudence hat schon nach dir gefragt.« Grinsend schob er mir ein Klemmbrett über den Tisch.

»Wirklich?« Ich erschrak, dabei hätte ich es eigentlich besser wissen müssen.

»Nö. War nur ’n Witz. Hier, unterschreib das, dann kannst du ab in den Garten.«

»In den Garten?« Ich gab ihm das Klemmbrett zurück.

»Klar. Hinten beim Wohntrakt. Wo wir das gute Gemüse anbauen.« Er grinste, und ich musste wieder daran denken, was er in der Umkleidekabine einmal zu mir gesagt hatte. Reiß dich zusammen, Wate. Du stehst voll unter der Fuchtel von der durchgeknallten Neuen. Wegen dir sehen wir noch alle alt aus.

Lena beugte sich über den Schalter. »Hast du nichts Besseres auf Lager, Booby

»Doch, klar.« Er stand auf. »Wie wär’s damit: Ich zeig dir meins, du zeigst mir deins?« Er starrte auf Lenas V-Ausschnitt. Ich ballte die Fäuste.

Lenas Haar kräuselte sich, als sie sich noch ein Stück weiter zu ihm beugte. »Ich glaube, du hältst jetzt besser die Klappe.«

Bobbys Mund ging auf und zu wie der eines Katzenfischs, der zappelnd auf dem ausgetrockneten Boden des Lake Moultrie lag. Er sagte kein Wort.

»Na also.« Lena lächelte und nahm unsere Besucher-Anstecker vom Tisch.

»Bis später, Bobby«, sagte ich, ehe wir uns in den hinteren Teil des Gebäudes aufmachten.

Je weiter wir den Gang entlanggingen, desto süßlicher wurde die Luft und desto aufdringlicher der Geruch. Manche Zimmertüren waren geöffnet, und mein Blick fiel auf Szenerien, die wie eingefroren wirkten, wie ein misslungenes Kitsch-Gemälde, auf dem nur widerliche Sachen abgebildet waren, verdichtet zu kleinen Schnappschüssen eines jämmerlichen Lebens.

Ein alter Mann saß auf seinem Krankenbett. Sein Kopf war mit weißen Binden umwickelt, was ihn riesig und surreal aussehen ließ. Ein Alien, der mit einem kleinen Jojo spielte, immer auf und ab, auf und ab. Vor ihm saß auf einem Stuhl eine Frau. Sie arbeitete an einer Stickerei, die er vermutlich nie zu Gesicht bekommen würde. Sie blickte nicht auf und ich ging schnell weiter.

In einem anderen Bett lag ein Junge, etwa in meinem Alter, er bewegte seine Hand über ein Blatt Papier, das auf einem Klapptischchen aus Holzimitat lag. Er starrte ins Leere, Speichel lief aus seinen Mundwinkeln, aber seine Hand schrieb und schrieb und schrieb, als könnte er nicht anders. Der Stift schien sich nicht zu bewegen, vielleicht schrieben sich die Buchstaben von selbst. Vielleicht war es die Geschichte seines Lebens. Vielleicht war es sein Meisterwerk. Wer weiß? Wen interessierte es? Bobby Murphy jedenfalls nicht.

Ich widerstand dem Drang, das Papier an mich zu nehmen und das Geschriebene zu entziffern.

Motorradunfall?

Wahrscheinlich. Ich will gar nicht darüber nachdenken, L.

Lena drückte meine Hand, und ich verdrängte den Gedanken daran, wie sie barfuß und ohne Helm auf dem Sozius von John Breeds Harley gesessen hatte.

Ich weiß, das war dumm.

Ich zog sie von der Tür weg.

Ein kleines Mädchen hatte das ganze Zimmer voller Besucher, aber es war die traurigste Geburtstagsgesellschaft, die ich jemals gesehen hatte. Auf dem Tisch standen ein Kuchen vom Stop & Steal und Schnabeltassen, gefüllt mit etwas, das aussah wie Preiselbeersaft. Das war alles. Auf dem Kuchen war eine Fünf aus Zuckerguss und die Familie sang halbherzig ein Lied. Die Kerzen waren nicht angezündet.

Wahrscheinlich darf man hier keine Kerzen anzünden, Ethan.

Was ist das für ein beschissener Geburtstag?

Der süßlich-klebrige Geruch wurde immer schlimmer. Ich schaute durch eine offene Tür in einen Raum, in dem sich offenbar die Etagen-Küche befand. Kartons mit Flüssignahrung stapelten sich vom Boden bis zur Decke. Daher kam der Geruch – von einem Essen, das kein Essen war. Für Leben, das kein Leben mehr war.

Für meine Tante Prue, die in das große Unbekannte entschwunden war, als sie eigentlich im Bett liegen und friedlich schlafen sollte. Meine Tante Prue, die eine Karte der unbekannten Caster-Tunnel angefertigt hatte mit der gleichen Präzision, mit der Amma ihre Kreuzworträtsel löste.

Das alles war zu entsetzlich, um wahr zu sein. Und doch war es das. Und es geschah nicht in irgendeinem Tunnel, wo Raum und Zeit anderen Gesetzen unterlagen als in der Welt der Sterblichen. Es geschah im Greater Gatlin County. Es geschah in meiner eigenen Heimatstadt, in meiner eigenen Familie.

Ich wusste nicht, ob ich das aushalten würde. Ich wollte Tante Prue nicht in diesem Zustand sehen. Ich wollte sie so nicht in Erinnerung behalten.

Trostlose Zimmer und eine angebrochene Packung Flüssignahrung in einem kotzpfirsichfarbenen Gang.

Beinahe hätte ich kehrtgemacht, aber dann waren wir am Ende des Gangs angelangt, und plötzlich lag ein anderer Geruch in der Luft. Wir waren da. Ich wusste es, denn durch die einen Spalt weit offene Tür schlug uns der unverkennbare Duft der Schwestern entgegen. Rosenwasser und Lavendel, es roch nach den kleinen Duftkissen, die die Schwestern in ihren Schränken und Schubläden aufbewahrten. Er war unverwechselbar, obwohl er mir nie bewusst aufgefallen war in den vielen Stunden, in denen ich ihren Geschichten zugehört hatte.

»Ethan.« Lena blieb vor mir stehen. Ich hörte das leise Summen von Maschinen im Zimmer hinter ihr.

»Komm.« Ich wollte die Tür ganz öffnen, aber sie legte mir die Hände auf die Schultern.

»Weißt du … vielleicht ist sie gar nicht da.«

Ich lauschte, das Geräusch irgendwelcher Apparate, die irgendwelche Sachen mit meiner lieben alten Tante anstellten, lenkte mich ab.

»Wovon redest du? Natürlich ist sie da. Hier an der Tür steht ihr Name.« Was tatsächlich stimmte. Ein Täfelchen, wie man es auch in College-Schlafräumen findet, war mit verblasstem Filzstift beschriftet: STATHAM, PRUDENCE.

»Ja, ihr Körper liegt da drinnen. Aber selbst wenn deine Tante Prue da ist, mit allem, was deine Tante Prue ausmacht – könnte sie trotzdem nicht da sein.«

Ich wusste, was sie meinte, auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte. Um keinen Preis wollte ich es mir eingestehen.

Ich legte die Hand auf die Türklinke. »Heißt das, du spürst etwas? So wie Link ihr Blut riechen und ihr Herz schlagen hören konnte? Könntest du sie auch … finden?«

»Was meinst du mit finden? Ihre Seele?«

»Können das Naturgeborene?« Sogar ich hörte die fast verzweifelte Hoffnung aus meiner Frage heraus.

»Ich weiß es nicht.« Lena sah aus, als würde sie gleich zu weinen anfangen. »Ich bin mir nicht sicher. Ich habe das Gefühl, dass ich etwas tun sollte. Aber ich weiß nicht, was.«

Sie wandte den Blick ab, aber ich sah die Träne, die ihre Wange hinunterlief.

»Das musst du auch nicht wissen, L. Es ist nicht deine Schuld. Sondern meine. Abraham hat etwas von mir gewollt.«

»Er ist nicht deinetwegen gekommen, sondern wegen John.« Mehr sagte sie nicht, aber ich hörte es trotzdem. Und der Grund dafür sind ich und meine Berufung. Ehe ich etwas erwidern konnte, wechselte sie das Thema. »Ich habe Onkel Macon gefragt, was mit Menschen geschieht, die im Koma liegen.«

Ich hielt gespannt den Atem an, auch wenn ich meine Zweifel hatte. »Und?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Er wusste es auch nicht genau. Caster glauben, dass der Geist unter gewissen Bedingungen den Körper verlassen kann, wie beim Raumwandeln. Onkel M hat es als eine Art von Freiheit beschrieben. Als ob man ein Schemen wäre.«

»Das wäre doch gar nicht so übel.« Ich dachte an den Jungen, der sinnlose Dinge schrieb, und an den älteren Mann mit seinem Jojo. Sie raumwandelten nicht und sie waren auch keine Schemen. Sie waren in der für einen Sterblichen schrecklichsten aller Lebenslagen. Gefangen in kaputten Körpern.

Und das konnte ich nicht ertragen. Nicht bei meiner Tante Prue. Ganz besonders nicht bei meiner Tante Prue.

Ohne ein weiteres Wort ging ich an Lena vorbei ins Krankenzimmer.

Tante Prue war der zierlichste Mensch auf der Welt, oder wie sie selbst es gerne ausdrückte: Sie wurde mit jedem Jahr, das verging, gebeugter und mit jedem Ehemann, der verstarb, kleiner. Deshalb reichte sie mir, wenn sie aufrecht stand, gerade bis zur Brust, trotz der Gesundheitsschuhe mit den dicken Sohlen.

Wie sie da in diesem großen Krankenhausbett lag, mit allen möglichen Schläuchen, die in sie hineingingen oder aus ihr herauskamen, sah Tante Prue noch viel zierlicher aus. Sie machte kaum eine Delle in die Matratze, so leicht war sie. Durch die Plastikfensterläden auf einer Seite des Zimmers fiel Sonnenlicht herein und malte Streifen auf ihr regloses Gesicht und ihren reglosen Körper. Beides zusammen erweckte den Eindruck, als befände sie sich auf der Krankenstation eines Gefängnisses. Ich konnte ihr nicht ins Gesicht sehen. Zumindest nicht gleich.

Ich machte einen Schritt in Richtung Bett und betrachtete die Monitore, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wozu sie gut waren. Sie piepsten ständig und zeigten den Verlauf irgendwelcher Kurven. In dem Raum befand sich nur ein einziger Stuhl, pfirsichfarben gepolstert und steinhart, daneben stand ein zweites, leeres Bett. Nach allem, was ich in den anderen Krankenzimmern gesehen hatte, kam mir dieses Bett wie eine Falle vor, die auf ihre Beute wartete. Ich fragte mich, welcher kaputte Mensch sich wohl darin verfangen hatte, wenn ich das nächste Mal wiederkam, um Tante Prue zu besuchen.

»Ihr Zustand ist stabil. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Sie hat es bequem. Sie ist im Moment nur nicht bei uns.« Eine Krankenschwester zog die Tür hinter sich zu. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber ich sah dichte schwarze Haare, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren. »Ich lasse euch für ein paar Minuten allein, wenn ihr wollt. Sie hat seit gestern keinen Besuch mehr gehabt. Es tut ihr sicher gut, wenn ihr etwas Zeit mit ihr verbringt.«

Die Stimme der Krankenschwester klang beruhigend, sogar vertraut, aber ehe ich sie richtig anschauen konnte, fiel die Tür schon hinter ihr ins Schloss. Am Tisch neben dem Bett meiner Tante stand eine Vase mit einem frischen Strauß Verbenen. Sie sahen aus wie die Blumen, die Amma hingebungsvoll im Haus gezogen hatte. »Sommerhitze« nannte sie sie. »Rot wie das Feuer.«

Aus einer Eingebung heraus ging ich zum Fenster und stieß die Läden auf. Licht strömte herein und die Gefängnisgitter verschwanden. Über das Fensterbrett zog sich eine dicke Linie aus weißem Salz.

»Amma. Sie war gestern hier, als wir mit Tante Grace und Tante Mercy zusammen waren.« Grinsend schüttelte ich den Kopf. »Wundert mich, dass sie nur Salz dagelassen hat.«

»Na ja …« Lena zog ein geheimnisvolles Leinensäckchen, das mit einem Zwirnfaden zugebunden war, unter Tante Prues Kissen hervor. Sie roch daran und verzog das Gesicht. »Lavendel ist das jedenfalls nicht.«

»Das ist bestimmt zu Tante Prues Schutz.«

Lena zog den Stuhl näher ans Bett. »Ich bin froh. Ich hätte Angst davor, hier alleine zu liegen. Es ist viel zu still.« Sie griff nach Tante Prues Hand, dann zögerte sie. Der Infusionsschlauch war über die schmalen Fingerknöchel geklebt.

Gesprenkelte Rosen, dachte ich, als ich die altersfleckigen, gekrümmten Hände sah. Diese Hände sollten ein Gebetbuch halten oder Gin-Rommé-Karten. Eine Katzenleine oder eine Landkarte.

Ich verdrängte die nagenden Gedanken und das Unbehagen.

»Ich denke, du kannst ihre Hand halten, L.«

Lena nahm Tante Prues winzige Hand in ihre beiden Hände. »Sie ist so friedlich, als würde sie schlafen. Schau dir ihr Gesicht an.«

Ich konnte es nicht. Ich streckte die Hand nach ihr aus, widerwillig, und berührte die Decke dort, wo ihr Fuß sie wie ein kleines Zelt wölbte.

Ethan, du brauchst keine Angst zu haben.

Ich habe keine Angst, L.

Denkst du, ich wüsste nicht, wie das ist?

Wie was ist?

Wenn man Angst hat, dass jemand, den man liebt, stirbt.

Lena beugte sich wie eine Caster-Krankenschwester über meine Tante.

Ich habe Angst, L. Immer.

Ich weiß, Ethan.

Marian. Mein Vater. Amma. Wer ist als Nächstes dran?

Ich sah Lena an.

Ich habe Angst um dich.

Ethan, nicht

Lass mich Angst haben um dich.

»Ethan, bitte.« Lena wechselte in die normale Unterhaltung, wie wir es dann taten, wenn das Kelting zu persönlich wurde. Es schuf Abstand zu bestimmten Gedanken und leitete zu anderen Themen über.

Aber ich ließ mich nicht abbringen. »Ich habe wirklich Angst um dich. Von dem Moment an, in dem ich aufwache, bis zu dem Augenblick, in dem ich einschlafe, und jede Sekunde dazwischen, sogar in meinen Träumen.«

»Ethan, schau sie dir an.«

Lena zog mich zu sich und legte meine Hand auf ihre, sodass wir beide die winzige, verbundene Hand berührten, die Tante Prue gehörte. »Schau sie dir an.«

Ich tat es.

Tante Prue sah verändert aus. Nicht fröhlich, nicht traurig. Ihr Blick war verschleiert, ins Unbestimmte gerichtet. Sie war abwesend. Genau wie die Krankenschwester gesagt hatte.

»Tante Prue ist nicht wie die anderen hier. Ich wette, sie ist ganz weit weg auf Erkundungsreise, wie sie es immer gewollt hat. Vielleicht vollendet sie gerade ihre Tunnel-Karte.« Lena küsste mich auf die Wange und stand auf. »Mal sehen, ob es hier irgendwo etwas zu trinken gibt. Soll ich dir was mitbringen? Vielleicht gibt es ja Schokomilch.«

Ich wusste, was sie vorhatte. Sie wollte mich eine Weile mit Tante Prue allein lassen. Aber ich sagte es ihr nicht, genauso wenig wie ich ihr sagte, dass ich Schokomilch nicht mehr ausstehen konnte. »Nein danke.«

»Sag Bescheid, wenn du mich brauchst.« Damit zog sie die Tür hinter sich zu.

Als Lena weg war, wusste ich nicht so recht, was ich machen sollte. Ich betrachtete Tante Prue in ihrem riesigen Bett, nahm ihre Hand vorsichtig in meine und achtete darauf, die Infusionsnadel nicht zu berühren. Ich wollte ihr nicht wehtun. Ich war davon überzeugt, dass sie Schmerzen wahrnehmen konnte. Sie war schließlich nicht tot – das rief ich mir immer wieder ins Gedächtnis.

Irgendwo hatte ich gelesen, dass man mit Menschen, die im Koma liegen, sprechen soll, und überlegte, was ich ihr sagen könnte. Aber mir gingen immer nur dieselben Worte durch den Kopf.

Es tut mir leid. Es ist meine Schuld.

Das stimmte ja auch. Die Schuld lastete so schwer, dass ich sie immerzu spürte.

Hoffentlich hatte Lena recht. Hoffentlich war Tante Prue jetzt irgendwo und zeichnete Karten oder stiftete Unruhe. Ich fragte mich, ob sie bei meiner Mutter war. Würden sie einander finden, wo immer sie jetzt auch waren?

Während ich darüber nachdachte, schloss ich die Augen …

Ich spürte immer noch Tante Prues Hand in meiner. Aber als ich auf das Bett schaute, war Tante Prue nicht mehr da. Ich blinzelte, dann war auch das Bett verschwunden, gleich darauf das ganze Zimmer. Ich war nirgends, sah nichts, hörte nichts.

Schritte.

»Ethan Wate, bist du das?«

»Tante Prue?«

Sie kam aus dem Nichts geschlurft. Sie war da und doch nicht da, sie verschwand vor meinen Augen und tauchte wieder auf, in ihrem besten Hauskleid, das grellbunt geblümte mit den perlmuttfarbenen Knöpfen. Ihre Pantoffel waren in den gleichen Brauntönen gehäkelt wie die Lieblingsdecke von Tante Grace.

»Was willst du denn schon wieder?« Sie winkte mit dem Taschentuch, das sie fest umklammerte. »Ich hab dir gestern Abend gesagt, dass ich einiges zu erledigen habe, und deshalb wegmuss. Du kannst nicht ständig angerannt kommen, wenn du eine Antwort auf irgendeine blöde Frage willst, die ich selber nicht weiß.«

»Wie bitte? Ich habe dich gestern Abend nicht besucht, Tante Prue.«

Sie runzelte die Stirn. »Willst du eine alte Frau auf den Arm nehmen?«

»Was hast du mir denn gesagt, Tante Prue?«, fragte ich.

»Was hast du denn gefragt?« Sie kratzte sich am Kopf, und ich bemerkte mit wachsender Panik, dass sie langsam entschwand.

»Kommst du wieder zurück, Tante Prue?«

»Das kann ich dir nicht sagen.«

»Kannst du nicht einfach mit mir mitkommen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Weißt du das nicht? Das hängt vom Rad des Schicksals ab.«

»Wovon?«

»Früher oder später zermalmt es uns alle. Das habe ich dir doch gesagt, erinnerst du dich nicht? Als du mich gefragt hast, wie es hier ist. Weshalb fragst du mich heute so viele Dinge? Ich bin hundemüde und muss mich ausruhen …«

Jetzt war sie schon fast weg.

»Lass mich, Ethan. Versuch gar nicht erst, hierherzukommen. Das Rad hat noch etwas vor mit dir.«

Ich sah zu, wie sich ihre gehäkelten Pantoffel in Nichts auflösten.

»Ethan?« Ich spürte, wie Lena mich wachrüttelte.

Mein Kopf war schwer und ich schlug nur zögernd die Augen auf. Helles Licht strömte ins Krankenzimmer. Ich war auf dem Stuhl neben Tante Prue eingeschlafen, so wie ich früher immer auf dem Stuhl meiner Mutter eingeschlafen war, wenn ich darauf gewartet hatte, dass sie mit ihrer Arbeit im Archiv fertig wurde. Tante Prue lag in ihrem Bett, als wäre nichts geschehen. Ich ließ ihre Hand fallen.

Ich muss ziemlich entgeistert ausgesehen haben, denn Lena fragte besorgt: »Ethan, was ist los?«

»Ich … ich habe Tante Prue gesehen. Ich habe mit ihr gesprochen.«

»Während du geschlafen hast?«

Ich nickte. »Ja. Aber es kam mir überhaupt nicht wie ein Traum vor. Und sie war auch gar nicht überrascht, mich zu sehen. Ich bin wohl schon einmal bei ihr gewesen.«

»Wovon sprichst du?«, fragte Lena verwundert.

»Letzte Nacht. Sie sagte, ich hätte sie besucht. Ich kann mich aber beim besten Willen nicht daran erinnern.« Das kam in letzter Zeit immer öfter vor, dass ich etwas vergaß. Auch eine Sache, die mich mehr und mehr beunruhigte. Irgendetwas passierte mit mir, aber ich wusste nicht, was.

Lena wollte gerade etwas sagen, da klopfte die Krankenschwester an die Tür und öffnete sie einen Spalt weit.

»Tut mir leid, aber die Besuchszeit ist vorüber. Deine Tante muss sich jetzt ausruhen, Ethan.«

Sie war freundlich, aber bestimmt. Eine halbe Minute später standen wir wieder in dem leeren Gang und mein Herz klopfte immer noch wie verrückt.

Draußen bemerkte Lena, dass sie ihre Tasche in Tante Prues Zimmer vergessen hatte. Während sie zurückging, um sie zu holen, wanderte ich langsam den Gang entlang. Vor dem Zimmer des Jungen blieb ich stehen. Er saß an dem Tischchen, seine Hand schrieb noch immer. Einen Augenblick stellte ich mir vor, ich wäre an seiner Stelle. Ich sah mich kurz um, dann huschte ich hinein.

»Hey, Mann. Bin gerade zufällig vorbeigekommen.«

Ich setzte mich auf die Kante des Besucherstuhls. Der Junge sah mich nicht an, nicht einmal für eine Sekunde, und seine Hand hielt nicht inne. Er hatte schon ein Loch in das Papier gekritzelt, auch in das darunterliegende Blatt.

Ich zog an dem Blatt und es rutschte ein klein wenig zur Seite.

Die Hand hielt still.

Ich zog wieder an dem Papier. »Komm. Schreib weiter. Ich lese. Ich will wissen, was du zu sagen hast. Zeig mir dein Meisterwerk.«

Die Hand bewegte sich. Ich zog an dem Blatt, Millimeter für Millimeter, und versuchte, mich seinem Schreibtempo anzupassen.

so endet die Welt so endet die Welt so endet die Welt so endet die Welt am Achtzehnten Mond am Achtzehnten Mond am Achtzehnten Mond am Achtzehnten Mond so endet die Welt

Die Hand verharrte, ein dünner Speichelfaden lief über den Stift und das Papier.

»Ich hab’s kapiert. Ich hab dich verstanden.«

Die Hand begann wieder zu schreiben, und diesmal ließ ich ihn immer wieder auf dieselbe Stelle schreiben, bis man nichts mehr lesen konnte.

»Danke«, sagte ich leise und warf einen Blick auf das kleine Schild, auf dem sein Name mit Textmarker geschrieben stand, sein Name, der nie an der Tür eines College-Zimmers stehen würde.

»Danke, John.«