1_022_13828_Garcia.tifDer Eine, der Zwei ist

24.10.

Während Macon und Liv John weiter über Abraham und Silas und wer weiß noch alles ausfragten, wälzten Lena und ich jedes Buch, das in Macons Arbeitszimmer stand. Macon hatte alte Briefe von Silas aufgehoben, in denen er Macon aufforderte, sich dem Kampf seines Vaters und seines Bruders gegen die Caster anzuschließen. Aber abgesehen davon fanden sich keine Hinweise auf Johns Vergangenheit oder dass es jemals einen Caster oder Inkubus gegeben hätte, der auch nur annähernd solche Fähigkeiten besaß wie er.

Bei den wenigen Malen, die wir uns an der Befragung beteiligen durften, ließ Macon Lena und John nicht aus den Augen. Ich glaube, er befürchtete, dass die Anziehungskraft, die John in der Vergangenheit auf Lena ausgeübt hatte, wieder aufleben könnte. Aber Lena war jetzt stärker und sie ärgerte sich genauso über John wie wir anderen. Ich machte mir eher Sorgen um Liv. Ich hatte ja gesehen, wie die Mädchen auf John reagiert hatten, als er zum ersten Mal im Dar-ee Keen aufgetaucht war. Aber zum Glück schien Liv immun gegen ihn zu sein.

Ich war an die Höhen und Tiefen gewöhnt, die ein Leben zwischen der Welt der Caster und der Welt der Sterblichen mit sich brachte, aber zurzeit gab es nur noch Tiefen. In derselben Woche, in der John Breed wieder aufgetaucht war, verschwanden Ridleys sämtliche Kleider aus ihrem Zimmer, so als wäre sie für immer gegangen. Aber vor allem verschlimmerte sich der Zustand von Tante Prue.

Als ich das nächste Mal ins Bezirkskrankenhaus fuhr, bat ich Lena nicht, mitzukommen. Ich wollte mit Tante Prue allein sein. Ich wusste selbst nicht, wieso, aber ich wusste ja auch sonst nicht, was mit mir los war. Vielleicht verlor ich allmählich den Verstand. Vielleicht war ich die ganze Zeit schon verrückt gewesen und hatte es nur nicht gemerkt.

Es war eiskalt. Man hätte meinen können, dass sämtliche Energie aller Klimaanlagen in Gatlin hierher ins Krankenhaus umgeleitet worden wäre. Von mir aus hätte es überall so kalt sein können, nur nicht hier, wo die Kälte um die Patienten herumkroch wie um die Leichen in einem Kühlhaus.

Eine solche Kälte war niemals angenehm und sie roch auch nicht gut. Wenn man schwitzte, spürte man wenigstens, dass man noch am Leben war; es war der menschlichste Geruch, den man ausströmen konnte. Vielleicht hatte ich aber auch nur zu sehr über die metaphysischen Auswirkungen von Hitze nachgedacht.

Wie gesagt, vielleicht war ich auch einfach verrückt.

Als ich zum Empfangstresen kam, sagte Bobby Murphy kein Wort, er schaute mich nicht einmal an. Er gab mir einfach das Klemmbrett und eine Besucherkarte. Ich war mir nicht sicher, ob Lenas Halt-die-Klappe-Bann dauerhaft wirkte oder nur, wenn ich in seiner Nähe war. Das eine war mir so recht wie das andere. Mir war sowieso nicht nach Reden zumute.

Diesmal machte ich keinen Abstecher in das Zimmer des anderen John und auch nicht in das Stickerei-Zimmer oder das Traurige-Geburtstagsparty-Zimmer. Als ich an dem Raum mit dem Essen, das gar kein Essen war, vorbeiging, hielt ich den Atem an, bevor mir der Geruch der künstlichen Nahrung in die Nase steigen konnte.

Dann roch ich Lavendel und war bei Tante Prue angekommen.

Leah saß auf einem Stuhl neben dem Bett, die Stiefel auf den Abfalleimer für Sondermüll gestützt, und las ein Buch in irgendeiner Caster- oder Dämonensprache. Sie trug heute nicht die normale pfirsichfarbene Uniform des Krankenhauspersonals. Anscheinend hatte sie die Rolle der Krankenschwester aufgegeben.

»Hallo, ihr zwei.«

Sie blickte hoch und war sichtlich überrascht. »Selber hallo. Das wird aber auch Zeit. Ich habe mich schon gewundert, wo du bleibst.«

»Weiß auch nicht. Hatte zu tun. Blöde Sachen.«

Ausflippen, Zwitter-Inkubi jagen, Ridley, meine Mutter und Mrs English, verrücktes Zeug über ein verrücktes Rad …

Sie lächelte. »Na, ich freue mich jedenfalls, dich zu sehen.«

»Ich mich auch.« Mehr brachte ich nicht heraus. Ich zeigte auf ihre Stiefel. »Hast du keine Angst, dass sie dir hier deswegen die Hölle heiß machen?«

»Nö. Ich gehöre nicht zu den Mädchen, denen die Leute die Hölle heiß machen.«

Ich schaffte es nicht, einfach ein bisschen zu plaudern. Es fiel mir von Tag zu Tag schwerer, mich mit Menschen zu unterhalten, sogar mit denen, die ich mochte.

»Macht es dir was aus, wenn ich ein bisschen bei Tante Prue bleibe? Ich meine, allein?«

»Natürlich nicht. Ich werde so lange eine Runde mit Bade drehen. Wenn sie nicht bald stubenrein ist, muss sie im Freien schlafen, dabei ist sie doch wirklich eine Hauskatze.« Leah warf ihr Buch auf den Stuhl und war mit einem Zischen aus dem Zimmer verschwunden.

Ich war allein mit Tante Prue.

Seit meinem letzten Besuch war sie noch kleiner geworden. Überall waren Infusionsschläuche, wo früher keine gewesen waren – als würde sie sich nach und nach ganz in eine Maschine verwandeln. Sie sah aus wie ein Apfel, der in der prallen Sonne verschrumpelte, so faltig war sie inzwischen. Eine Weile hörte ich auf das rhythmische Pulsieren der Plastikmanschetten, die man ihr um die Fußgelenke gelegt hatte und die sich aufbliesen und wieder zusammenzogen, aufbliesen und zusammenzogen.

Als könnten sie wiedergutmachen, dass Tante Prue nicht mehr gehen und nicht mehr sehen konnte, nicht mehr mit ihren Schwestern Jeopardy! schauen und sich über alles beschweren konnte, obwohl sie es eigentlich mochte.

Ich nahm ihre Hand. Der Schlauch in ihrem Mund gurgelte bei jedem Atemzug, nass und keuchend. So als würde sie an ihrem eigenen Atem ersticken.

Lungenentzündung. Ich war zufällig in der Küche gewesen, als Amma mit dem Arzt telefoniert hatte. Statistisch gesehen war es die Lungenentzündung, die Komapatienten am häufigsten den Tod brachte. Ich fragte mich, ob der Schlauch, den Tante Prue im Mund hatte, ein Zeichen dafür war, dass auch ihr statistisch voraussagbares Ende näher rückte.

Bei dem Gedanken, dass meine Tante eine Zahl in einer Statistik war, hätte ich am liebsten den Eimer für den Sondermüll aus dem Fenster geworfen. Stattdessen drückte ich sanft die winzige Hand von Tante Prue, mit Fingern so klein wie dürre Zweige im Winter. Dann nahm ich auch ihre andere Hand und schlang meine kräftigen Finger um ihre zerbrechlichen.

Ich legte die Stirn auf unsere Hände und schloss die Augen. Ich stellte mir vor, dass ich den Kopf heben und sie mich anlächeln würde und dass alle Schläuche und Verbände verschwunden wären. Ich überlegte, ob Wünschen und Beten dasselbe war. Ob etwas tatsächlich geschah, wenn man es nur inständig genug hoffte.

Ich dachte immer noch darüber nach, als ich die Augen wieder aufmachte in der Annahme, ich befände mich in Tante Prues Zimmer, neben dem trostlosen Krankenhausbett, umgeben von niederschmetternd pfirsichfarbenen Wänden. Stattdessen stand ich in hellem Sonnenlicht vor einem Haus, in dem ich schon Hunderte von Malen gewesen war …

Das Haus der Schwestern sah genauso aus, wie ich es in Erinnerung hatte, bevor die Vexe es zerstört hatten. Die Wände, das Dach und auch der Teil des Hauses mit Tante Prues Zimmer – alles, jedes weiße Kiefernbrett, jede Dachschindel war noch an Ort und Stelle.

Der Weg, der zur Veranda führte, war rechts und links mit Hortensien bepflanzt, ganz so, wie es Tante Prue am liebsten mochte. Über den Rasen spannte sich die Wäscheleine für Lucille. Auf der Veranda saß ein Hund, ein Yorkshire Terrier, der Harlon James auffallend ähnlich sah. Er war es aber nicht. Sein braunes Fell glänzte goldener. Ich bückte mich und las das Schild an seinem Halsband. Darauf stand »HARLON JAMES III.«.

»Tante Prue?«

Auf der Veranda standen drei weiße Schaukelstühle, dazwischen die Korbtischchen. Auf einem stand ein Tablett mit zwei Gläsern Limonade. Ich setzte mich in den zweiten Schaukelstuhl und nicht in den ersten. Der Stuhl gleich neben dem Eingang war Tante Prues Lieblingsstuhl, und ich nahm an, sie würde sich bestimmt dorthin setzen wollen, wenn sie käme.

Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass sie kommen würde.

Sie hatte mich doch hierhergebracht, oder nicht?

Ich kraulte Harlon James III., was ziemlich merkwürdig war, denn eigentlich saß er ja ausgestopft in unserem Wohnzimmer. Ich blickte wieder auf.

»Tante Prue!« Ich zuckte erschrocken zusammen, obwohl ich sie erwartet hatte. Sie sah auch nicht besser aus als in ihrem Krankenhausbett. Sie hustete und ich hörte das fast schon vertraute rhythmische Geräusch der Kompressionen. Sie hatte die Plastikmanschetten an den Knöcheln, die sich zusammenzogen und wieder aufbliesen, als läge sie noch immer im Krankenhaus.

Sie lächelte. Ihr Gesicht war wie Pergament, ihre Haut so dünn und bleich, dass darunter die bläulich-violetten Venen durchschienen.

»Du hast mir gefehlt. Tante Grace, Tante Mercy und Thelma sind aufgeschmissen ohne dich. Und Amma vermisst dich auch.«

»Amma besucht mich fast jeden Tag und an den Wochenenden kommt dein Daddy. Sie kommen regelmäßig und sprechen mit mir – im Gegensatz zu bestimmten anderen Leuten.« Sie schniefte.

»Tut mir leid. Irgendwie läuft zurzeit alles schief.«

Sie winkte ab. »Ich laufe nirgendwohin. Noch nicht. Sie haben mir Hausarrest aufgebrummt, wie einem dieser Verbrecher aus den Fernsehserien.« Sie hustete und schüttelte den Kopf.

»Wo sind wir, Tante Prue?«

»Das kann ich dir selbst nicht sagen. Aber ich habe nicht viel Zeit. Sie halten einen ganz schön auf Trab hier.« Sie öffnete die Schließe ihrer Halskette und nahm etwas davon ab. Im Krankenhaus war mir gar nicht aufgefallen, dass sie eine Kette trug, aber ich erkannte sie gleich wieder. »Von meinem Vater und vom Vater seines Vaters, lange bevor an dich auch bloß zu denken war.«

Es war eine Rose, aus Gold gehämmert.

»Die ist für dein Mädchen. Damit ich für dich ein Auge auf sie haben kann. Sag ihr, sie soll sie immer tragen.«

»Machst du dir denn Sorgen um Lena?«

»Das braucht dich nicht zu kümmern. Tu nur, was ich dir gesagt habe.« Sie schniefte wieder.

»Aber Lena geht es gut. Ich passe immer auf sie auf. Das weißt du doch.« Der Gedanke, dass sich Tante Prue um Lena sorgte, ängstigte mich mehr als alles, was in den vergangenen Monaten passiert war.

»Wie auch immer, gib sie ihr.«

»Das tue ich.«

Aber Tante Prue war schon verschwunden, nur ein halbes Glas Limonade stand noch da und ein Schaukelstuhl, der immer noch schaukelte.

Ich schlug die Augen auf und blinzelte, weil es so hell war. Die Strahlen der Sonne fielen von der Seite ins Zimmer, sie stand jetzt viel tiefer als bei meiner Ankunft. Ich warf einen Blick auf mein Handy. Drei Stunden waren vergangen.

Als ich zum ersten Mal mit Tante Prue in dieser merkwürdigen anderen Welt gesprochen hatte, schien überhaupt keine Zeit verstrichen zu sein, außerdem saß damals eine machtvolle Naturgeborene an meiner Seite.

Ich hörte, wie hinter mir die Tür aufging.

»Alles in Ordnung mit dir, Junge?« Leah stand im Rahmen.

Ich öffnete die Faust, die ich um die winzige goldene Rose geschlossen hatte. Das ist für dein Mädchen. Nichts war in Ordnung mit mir. Überhaupt nichts war in Ordnung, so viel stand fest.

Ich nickte. »Danke. Nur müde. Bis bald, Leah.« Sie winkte mir zum Abschied zu. Mit einer Zentnerlast auf den Schultern ging ich hinaus.

Als ich ins Auto stieg und das Radio zu spielen anfing, war ich nicht überrascht, die vertraute Melodie zu hören. Nach dem Besuch bei Tante Prue war ich sogar erleichtert. Denn da war er – so klar wie der Regen, der seit Monaten nicht mehr gefallen war. Mein Shadowing Song.

Eighteen Moons, eighteen years,

The Wheel of Fate herself appears,

Then the One who is Two

Will bring back Order anew …

The One who is Two? Der Eine, der Zwei ist, war derjenige, der die Ordnung wiederherstellen sollte.

Aber was hatte das mit dem Rad des Schicksals zu tun – das Rad, das eine Sie war? Welches Wesen war so mächtig, dass es die Ordnung der Dinge wiederherstellen und menschliche Gestalt annehmen konnte, die Gestalt einer Frau?

Es gab Lichte und Dunkle weibliche Caster, Sukkubi und Sirenen, Sybillen und Diviner. Ich dachte an die vorangegangene Strophe des Shadowing Songs und an die Dämonen-Königin. Diese Demon Queen war ein Wesen, das Menschengestalt annehmen konnte, indem es sich in den Körper einer Sterblichen einnistete. Und ich kannte nur eine Dämonin, die dazu fähig war: Sarafine.

Endlich hatte ich etwas, woran sich meine Gedanken klammern konnten. Obwohl Liv und Macon die vergangene Woche mit John verbracht hatten und ihn je nach Laune mal wie Frankensteins Monster, mal wie einen König auf Staatsbesuch und mal wie einen Kriegsgefangenen behandelt hatten, hatte er ihnen nichts enthüllen können, was seine Rolle in dem Spiel erklärt hätte.

Von meinen Besuchen bei Tante Prue hatte ich nur Lena erzählt, sonst niemandem. Aber allmählich hatte ich das Gefühl, dass alles zusammengehörte, so wie alles, was in die Schüssel kommt, schließlich zu einem Kuchen wird, wie Amma sagen würde.

Das Rad des Schicksals. Der Eine, der Zwei ist. Amma und der Bokor. John Breed. Der Achtzehnte Mond. Tante Prue. Der Shadowing Song.

Ich musste nur herausfinden, wie alles zusammenpasste, ehe es zu spät war.

Als ich nach Ravenwood kam, saß Lena auf der Veranda und sah mir zu, wie ich durch das schiefe Eisentor fuhr.

Ich dachte an das, was Tante Prue gesagt hatte, als sie mir die goldene Rose gab. Die ist für dein Mädchen. Damit ich für dich ein Auge auf sie haben kann.

Eigentlich wollte ich gar nicht daran denken.

Ich setzte mich neben Lena auf die oberste Stufe. Sie streckte die Hand aus, nahm den Anhänger und fädelte ihn wortlos an ihre Halskette.

Für dich. Von Tante Prue.

Ich weiß. Sie hat es mir gesagt.

»Ich bin auf dem Sofa eingeschlafen, und plötzlich war sie da«, sagte Lena. »Es war genau so, wie du es beschrieben hast – ein Traum, der sich nicht wie ein Traum angefühlt hat.« Ich nickte und sie lehnte ihren Kopf an meine Schulter. »Es tut mir leid, Ethan.«

Ich blickte auf den Garten hinaus, der trotz der Hitze, der Heuschrecken und allem anderen immer noch grün war. »Hat sie dir noch etwas gesagt?«

Lena nickte und streichelte meine Wange. Als sie zu mir blickte, sah ich, dass sie geweint hatte.

Ich glaube, sie hat nicht mehr viel Zeit.

Warum?

Sie sagte, sie sei gekommen, um Auf Wiedersehen zu sagen.

Ich schaffte es in dieser Nacht nicht, nach Hause zu gehen. Stattdessen setzte ich mich allein auf die Treppe vor Marians Haus. Obwohl sie drinnen war und ich draußen, fühlte ich mich bei ihr immer noch besser als bei mir daheim.

Bisher jedenfalls. Ich wusste ja nicht, wie lange sie noch hier sein würde, und ich wollte mir gar nicht erst ausmalen, wie es ohne sie wäre.

Ich schlief auf ihrer sauber gefegten Veranda ein. Und falls ich in dieser Nacht irgendetwas träumte, dann erinnerte ich mich später nicht mehr daran.