1_022_13828_Garcia.tifAbseits von Route 9

7.9.

Link blieb nach der Schule noch da, um mit seinen Freunden Basketball zu spielen. Und Ridley wollte nicht ohne ihn gehen, jedenfalls nicht solange die Cheerleader noch in der Turnhalle waren. Aber das hätte sie natürlich niemals zugegeben.

Ich stand in der Tür zur Turnhalle und sah Link zu, wie er über das Spielfeld dribbelte, ohne auch nur im Geringsten ins Schwitzen zu kommen. Ich sah ihm zu, wie er den Ball von der Mitte der Zone, vom Rand der Zone, von der Dreipunktlinie und von der Center-Position aus im Korb versenkte. Ich sah zu, wie den anderen Jungs der Mund offen stehen blieb. Ich sah zu, wie der Trainer sich auf die Tribüne setzte und vergaß, die Trillerpfeife aus dem Mund zu nehmen. Ich genoss jede Minute fast so wie Link.

»Vermisst du es?«, fragte Lena, die mich beobachtet hatte.

Ich schüttelte den Kopf. »Überhaupt nicht. Ich habe keine Lust, mit den Jungs rumzuhängen.« Ich lächelte. »Und es hat den Vorteil, dass ausnahmsweise mal niemand auf uns achtet.« Ich streckte meine Hand nach ihrer aus. Sie war warm und weich.

»Lass uns von hier verschwinden«, sagte sie.

Neben dem Stoppschild an der Ausfahrt des Parkplatzes saß Boo Radley, Macons Hund, und hechelte, als gäbe es auf der ganzen Welt nicht genug Luft, um ihn abzukühlen. Ich überlegte, ob Macon uns und alle anderen immer noch durch die Augen des Caster-Hundes beobachtete. Wir hielten neben ihm und machten die Autotür auf. Ohne zu zögern, sprang Boo herein.

Wir fuhren auf der Route 9, ließen die Häuser von Gatlin hinter uns und zuckelten die Felder entlang. Zu dieser Jahreszeit waren sie sonst immer grün und braun – Getreide und Tabak. Aber in diesem Jahr sah man, so weit das Auge reichte, nur Schwarz und Gelb; ein Meer aus abgestorbenen Pflanzen und Heuschrecken, die sich bis zur Straße durchfraßen. Ich hörte, wie sie unter den Reifen zerquetscht wurden. Es war ein unheimliches Geräusch.

Das war das zweite Thema, über das wir nicht sprachen: die Apokalypse, die statt des Herbstes über Gatlin hereingebrochen war. Links Mutter war davon überzeugt, dass die Hitzewelle und das Ungeziefer Zeichen für den Zorn Gottes waren, aber ich wusste es besser. An der Weltenschranke hatte Abraham Ravenwood prophezeit, dass Lenas Entscheidung sowohl die Welt der Caster als auch die Welt der Sterblichen beeinflussen würde. Und er war kein Mann, der zu Scherzen neigte.

Lena starrte zum Fenster hinaus, ihr Blick schweifte über die verwüsteten Felder. Es gab nichts, was ich ihr hätte sagen können, damit sie sich besser fühlte und nicht länger glaubte, an allem schuld zu sein. Ich konnte sie höchstens ablenken.

»Der Tag heute war total verrückt, sogar für einen ersten Schultag.«

»Mir tut Ridley leid.« Lena band ihre langen schwarzen Locken, die ihr über die Schultern fielen, zu einem losen Knoten zusammen. »Sie ist nicht sie selbst.«

»Das heißt, sie ist keine böse Sirene mehr, die im Auftrag von Sarafine unterwegs ist? Och, das tut mir aber wirklich leid.«

»Sie kommt mir so verloren vor.«

»Willst du wissen, was ich denke? Sie wird Link wieder den Kopf verdrehen.«

Lena kaute auf ihrer Unterlippe. »Hm, ja. Ridley hält sich immer noch für eine Sirene. Andere Leute zu manipulieren, gehört praktisch zu ihrem Job.«

»Ich wette, sie lässt nicht locker, bis sie die gesamte Cheerleader-Truppe aufgemischt hat.«

»Wenn sie das macht, fliegt sie von der Schule«, sagte Lena.

An der Kreuzung bog ich von der Route 9 in die Straße ein, die nach Ravenwood führte. »Nicht bevor sie die Jackson High bis auf die Grundmauern niedergebrannt hat.«

Die Eichen, die ihre Äste über die Straße spannten, sorgten für ein bisschen Kühlung, und der Wind, der durch die offenen Autoscheiben hereinkam, spielte mit den losen Strähnen um Lenas Gesicht.

»Ich glaube, Ridley hält es bei uns nicht mehr aus«, sagte sie. »Die ganze Familie spielt verrückt. Tante Del weiß manchmal nicht mehr, ob sie gerade erst gekommen ist oder ob sie gehen wollte.«

»Das ist doch nichts Neues.«

»Gestern hat sie Ryan irrtümlich für Reece gehalten.«

»Und Reece?«

»Sie ist auch völlig durcheinander. Manchmal schaut sie mich an und flippt aus, aber ich weiß nicht, ob deshalb, weil sie in meinem Gesicht etwas gelesen hat, oder deshalb, weil sie darin nichts mehr lesen kann.«

Schon zu normalen Zeiten war Ridleys Schwester Reece, die als Sybille in den Gesichtern anderer lesen konnte, ziemlich schräg. Aber was Lena erzählte, schien tatsächlich noch eine Steigerung zu sein.

»Du hast wenigstens deinen Onkel.«

»Ja und nein. Onkel Macon verschwindet jeden Tag in den Tunneln und schweigt sich darüber aus, was er dort unten treibt. Ich habe den Verdacht, er will es vor mir verheimlichen.«

»Wundert dich das? Er und Amma wollen nie, dass wir etwas erfahren.« Ich tat so, als würde mich das nicht im Mindesten beunruhigen, genauso wenig wie die Tatsache, dass die Reifen jetzt über noch mehr Heuschrecken rollten.

»Er ist schon seit ein paar Wochen wieder hier, und ich weiß immer noch nicht genau, was für eine Art Caster er ist. Ich weiß bloß, dass er Licht ist. Er spricht nicht darüber, mit niemandem.« Nicht einmal mit mir – das war es, was sie eigentlich damit sagen wollte.

»Vielleicht weiß er es selbst nicht.«

»Das glaube ich niemals.« Sie starrte aus dem Fenster und ich nahm ihre Hand. Uns beiden war so heiß, dass ich kaum spürte, wie sehr die Berührung brannte.

»Kannst du wenigstens mit deiner Großmutter darüber sprechen?«

»Gramma ist die meiste Zeit in Barbados und stellt Nachforschungen an.« Lena sprach nicht aus, was sie wirklich meinte. Ihre Familie suchte einen Weg, um die Ordnung wiederherzustellen – um die Hitze und die Heuschrecken zu vertreiben und was der Welt der Sterblichen sonst noch alles bevorstand. »Auf Ravenwood liegen mehr Bannsprüche als auf einem Caster-Gefängnis. Es ist so beengend, dass ich mich selbst schon wie ein Sträfling fühle; das Wort Hausarrest bekommt eine ganz neue Bedeutung für mich.« Lena schüttelte den Kopf. »Ich kann nur hoffen, dass wenigstens Ridley nicht mehr darunter leidet, jetzt wo sie eine Sterbliche ist.«

Ich sagte nichts, aber ich war mir ziemlich sicher, dass Ridley es trotzdem spürte, denn ich spürte es ja auch. Je näher wir Ravenwood kamen, desto stärker fühlte ich den Bann. Es war wie das Summen einer Starkstromleitung, wie ein dichter Nebel, der nichts mit dem Wetter zu tun hatte.

Es war das Knistern von Caster-Magie, Dunkler und Lichter.

Seit wir von der Weltenschranke zurückgekehrt waren, konnte ich es fühlen. Während ich auf die schmiedeeisernen Tore zufuhr, die die Grenzen von Ravenwood markierten, knisterte die Luft um uns herum beinahe so spannungsgeladen wie ein Gewittersturm.

Aber die Tore waren nicht die eigentliche Grenze. So verwahrlost der Garten von Ravenwood während Macons Abwesenheit auch gewesen war, jetzt war er der einzige Ort im ganzen County, der Zuflucht vor Hitze und Ungeziefer bot. Vielleicht war es ein Beweis für die Macht, über die Lenas Familie verfügte, denn als wir die Tore passierten, spürte ich, dass irgendeine Kraft von außen an uns zerrte, während Ravenwood uns in die andere Richtung zog.

Ravenwood behauptete sich tapfer – das sah man schon allein daran, dass das endlose Braun der Landschaft innerhalb der Umgrenzungsmauern von einem satten Grün abgelöst wurde und dass der Garten nicht kahl gefressen, sondern unberührt war. Macons Blumenbeete blühten in aller Pracht, die Bäume waren gestutzt und gepflegt, die weiten Rasenflächen, die sich vom Herrenhaus bis zum Santee-Fluss erstreckten, waren kurz geschnitten und ordentlich. Sogar die Wege waren mit neuem Kies geschottert. Aber die Welt draußen drängte gegen die Tore und stemmte sich gegen die Schutzmagie und Bannsprüche von Ravenwood. Wie Wellen, die im endlosen Rhythmus an die Felsen brandeten und doch höchstens ein paar Körner Sand mit sich forttragen können.

Aber auch Wellen bahnen sich mit der Zeit ihren Weg. Wenn die Ordnung der Dinge wirklich zerstört war, dann konnte selbst Ravenwood nicht mehr lange der Außenposten einer untergegangenen Welt sein.

Ich hielt vor dem Haus an. Ehe ich ein Wort sagen konnte, waren wir schon aus dem Leichenwagen ausgestiegen und in der feuchten Luft. Lena warf sich ins kühle Gras und ich ließ mich neben sie fallen. Den ganzen Tag lang hatte ich auf diesen Augenblick gewartet. Mir taten Amma, mein Vater und der Rest von Gatlin leid, die in der Stadt unter dem sengend blauen Himmel eingeschlossen waren. Ich fragte mich, wie lange ich das alles noch aushalten würde.

Ich weiß.

Mist. Ich wollte nicht …

Du gibst mir ja nicht die Schuld. Es ist okay.

Sie rückte näher, tastete mit der Hand nach meinem Gesicht. Ich riss mich zusammen. Mein Herz raste, sobald wir uns berührten. Aber mittlerweile war es weit mehr als das. Ich spürte, wie die Kraft aus mir wich, als würde sie aus mir herausgesogen. Zögernd ließ Lena die Hand sinken. »Aber es ist meine Schuld. Ich weiß, du willst es nicht aussprechen, deshalb tue ich es.«

L.

Sie drehte sich auf den Rücken und starrte in den Himmel. »Wenn ich nachts im Bett liege, dann schließe ich die Augen und nehme meine ganze Kraft zusammen. Ich versuche, die Wolken festzuhalten und die Hitze zu vertreiben. Du ahnst nicht, wie schwer das ist. Wie viel es uns alle kostet, Ravenwood so zu erhalten.« Sie zupfte einen Grashalm aus. »Onkel Macon sagt, er wüsste nicht, was als Nächstes geschieht. Gramma sagt, dass man es gar nicht wissen könnte, weil so etwas noch nie zuvor passiert ist.«

»Und glaubst du ihnen?«

Macon war Lena gegenüber genauso mitteilsam wie Amma mir gegenüber. Wenn sie etwas hätte anders machen sollen, dann war er der Letzte, der ihr das sagen würde.

»Ich weiß nicht. Aber es geht um mehr als um Gatlin. Was immer ich getan habe, es betrifft auch die Caster, die nicht zu meiner Familie gehören. Ihre Magie ist ebenso unberechenbar geworden wie meine.«

»Deine Magie war noch nie berechenbar.«

Lena blickte weg. »Wenn etwas von sich aus zu brennen anfängt, dann ist das mehr als unberechenbar.«

Sie hatte recht. Gatlin schwankte gefährlich über einem unsichtbaren Abgrund, und keiner wusste, wie tief er war. Aber das konnte ich ihr nicht sagen – vor allem weil sie es ja gewesen war, die Gatlin in diese Lage gebracht hatte. »Wir werden schon noch herausfinden, was vor sich geht.«

»Da bin ich mir nicht so sicher.« Sie streckte die Hand zum Himmel, und ich musste daran denken, wie ich ihr zum ersten Mal in den Garten von Greenbrier gefolgt war und ihr dabei zugesehen hatte, wie sie die Wolkenformen mit den Fingern nachfuhr und Figuren in den Himmel zeichnete. Damals hatte ich nicht gewusst, worauf ich mich einließ, und selbst wenn, es wäre mir egal gewesen.

Alles hatte sich geändert, sogar der Himmel. Heute war nicht einmal eine Wolke da, deren Konturen man nachfahren konnte. Nichts war da, nur die drohende blaue Hitze.

Lena hob die andere Hand und sah mich von der Seite an. »Das wird nicht aufhören. Es wird schlimmer werden. Wir müssen uns darauf gefasst machen.« Sie zupfte gedankenverloren am Himmel, knetete die Luft zwischen ihren Fingern wie weiche Karamellbonbons. »Sarafine und Abraham werden nicht einfach wieder verschwinden.«

Ich bin darauf gefasst.

Sie fuhr mit dem Finger durch die Luft. »Ethan, ich möchte, dass du weißt, dass ich mich vor gar nichts mehr fürchte.«

Ich auch nicht. Nicht solange wir zusammen sind.

»Das ist es ja. Wenn etwas passiert, dann bin ich daran schuld. Und ich bin auch diejenige, die es wieder in Ordnung bringen muss. Verstehst du, was ich meine?« Sie hielt den Blick fest auf ihre Finger gerichtet.

Nein.

»Verstehst du nicht oder willst du nicht verstehen?«

Ich verstehe es nicht.

»Erinnerst du dich, wie Amma gesagt hat, du sollst kein Loch in den Himmel bohren, damit nicht das ganze Weltall hindurchfällt?«

Ich lächelte. »B.E.G.L.E.I.T.E.R.S.C.H.E.I.N.U.N.G. Achtzehn senkrecht.« Amma zitierte mit Vorliebe Begriffe aus ihren geliebten Kreuzworträtseln. »Sprich: Zieh ruhig an dem Faden, aber beschwer dich nachher nicht, wenn sich die ganze Welt aufdröselt wie ein Pullover, Ethan Wate.«

Ich wollte Lena damit zum Lachen bringen, aber sie verzog keine Miene. »Ich habe an diesem Faden gezogen, als ich das Buch der Monde benutzt habe.«

»Du hast es für mich getan.« Ich musste die ganze Zeit daran denken. Sie war nicht die Einzige, die an dem Faden gezogen hatte, der ganz Gatlin zusammenhielt, sowohl über als auch unter der Oberfläche.

»Ich habe mich selbst berufen.«

»Du musstest es tun und du solltest stolz darauf sein.«

»Das bin ich auch.« Sie zögerte.

»Aber?« Ich sah sie aufmerksam an.

»Ich muss einen Preis dafür bezahlen und ich bin bereit dazu.«

Ich schloss die Augen. »Sprich nicht so.«

»Ich sage nur die Wahrheit.«

»Du rechnest damit, dass etwas Schlimmes passiert«, sagte ich widerwillig, weil ich am liebsten gar nicht darüber nachdenken wollte.

Lena spielte mit den Anhängern an ihrer Halskette. »Es geht nicht um die Frage ob, sondern wann.«

Ich warte – das stand auf dem Schreibblock.

Auf welchem Schreibblock?

Ich wollte nicht mit ihr darüber sprechen, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Und ich konnte auch nicht so tun, als würde alles wieder so werden wie früher.

Alles, was falsch gewesen war, stürzte plötzlich auf mich ein. Der Sommer, Macons Tod, Lena, die sich wie eine Fremde benommen hatte und die mit John Breed weggelaufen war, weg von mir. Und auch alles andere, was passiert war, bevor ich Lena kennengelernt hatte – meine Mutter, die nicht mehr nach Hause gekommen war, ihre Schuhe, die immer noch da standen, wo sie sie zuletzt ausgezogen hatte, ihr Handtuch, das noch feucht vom Morgen gewesen war. Ihre Seite des Betts, die unberührt geblieben war, der Duft ihrer Haare, der immer noch an den Kissen haftete. Die Post, die immer noch an sie adressiert war.

Die Schnelligkeit, mit der das alles geschehen war. Und die Unumkehrbarkeit. Die erbarmungslose Wahrheit – nämlich dass der wichtigste Mensch im Leben plötzlich aufgehört hat zu sein. An schlechten Tagen kam es einem so vor, als wäre sie nie da gewesen, aber an einem guten Tag schlich sich eine ganz andere Angst ein. Denn auch wenn man sich zu hundert Prozent sicher war, dass es diesen Menschen gegeben hatte, war man vielleicht der Einzige, dem es etwas ausmachte oder der sich erinnerte.

Wie kann ein Kissen nach jemandem riechen, der nicht mehr in derselben Welt lebt wie man selbst? Und was soll man tun, wenn eines Tages das Kissen genauso riecht wie jedes andere x-beliebige Kissen auch? Wie bringt man sich dazu, die Schuhe wegzuräumen?

Aber ich hatte es getan. Und ich hatte den Geist meiner Mutter auf dem Bonaventura-Friedhof gesehen. Zum ersten Mal in meinem Leben glaubte ich wirklich, dass etwas mit einem geschah, wenn man starb. Meine Mutter war nicht allein in der Erde des Gartens des Immerwährenden Friedens, wie ich immer gefürchtet hatte. Und deshalb konnte ich sie loslassen. Weil ich ihr trotzdem nahe war.

Ethan, was ist los?

Ich wünschte, ich wüsste es.

»Ich lasse nicht zu, dass dir irgendetwas passiert.« Ich sagte das, obwohl ich wusste, dass ich gar nicht in der Lage war, sie zu beschützen. Ich sagte das, weil mein Herz sich sonst selbst in Stücke reißen würde.

»Ich weiß«, log sie. Sonst sagte Lena nichts, aber sie wusste, was ich fühlte.

Sie zog den Himmel mit den Händen so fest zu sich herab, als wollte sie ihn von der Sonne wegreißen.

Ich hörte ein lautes Krachen.

Ich wusste nicht, wie sie es geschafft hatte und wie lange es andauern würde, aber der blaue Himmel riss auf, und obwohl weit und breit keine Wolke zu sehen war, fiel Regen auf unsere Gesichter.

Ich spürte das nasse Gras und die Regentropfen auf meinen Augen. Sie fühlten sich echt an. Ich zog Lena an mich und nahm ihr Gesicht in meine Hände. Dann küsste ich sie, bis ich nicht mehr der einzige Atemlose war, bis der Boden unter uns wieder trocknete und der Himmel wieder unerbittlich blau war.

Zum Abendessen gab es Ammas preisgekrönte Hühnerfleischpastete. Meine Portion war so groß wie der Teller, um nicht zu sagen so groß wie die Home Plate beim Basketball. Ich stocherte mit meiner Gabel in der Kruste herum, damit der Dampf entwich, und roch den guten Sherry, Ammas Geheimzutat. Sogar die Pasteten hatten in unserer Gegend ihre Geheimnisse – saure Sahne, Sojasoße, Cayennepfeffer oder Parmesankäse. Geheimnisse und Pasteten gehörten bei uns zusammen. Serviere eine Pastete, und die ganze Stadt wird um jeden Preis herausfinden wollen, was sich unter der Kruste verbirgt.

»Ah. Wenn ich das rieche, komme ich mir vor, als wäre ich acht Jahre alt.« Dad lächelte Amma an, die sowohl seine Bemerkung wie auch seine verdächtig gute Laune ignorierte. Jetzt wo das Semester an der Universität wieder begonnen hatte und er in dem seriösen Hemd am Tisch saß, das er immer bei seinen Vorlesungen trug, sah er fast normal aus. Man konnte das Jahr beinahe vergessen, in dem er tagsüber nur geschlafen und sich nachts in sein Arbeitszimmer eingeschlossen und ein Buch »geschrieben« hatte, indem er Hunderte von Seiten vollkritzelte. Während dieser Zeit hatte er kaum etwas gegessen und so gut wie nie gesprochen, aber dann hatte er den steilen und mühsamen Weg in die Normalität zurückgefunden. Vielleicht war es auch nur der Geruch der Pastete, der auch auf mich seine Wirkung tat. Ich stach jedenfalls noch mal kräftig in die Kruste.

»Hattest du einen guten ersten Schultag, Ethan?«, fragte Dad mit vollem Mund.

Ich betrachtete das aufgespießte Pastetenstück auf meiner Gabel. »Geht so.«

Unter der Kruste war alles fein gehackt, man konnte die Hühnchenwürfel nicht von den Gemüsewürfeln unterscheiden. Mist. Wenn Amma ihr Hackmesser hervorholte, dann hieß das nie etwas Gutes. Die Pastete war der beste Beweis dafür, wie düster Ammas Stimmung an diesem Nachmittag gewesen war, und den Grund dafür wollte ich mir lieber gar nicht ausmalen. Ihr verschrammtes Schneidebrett konnte einem richtig leidtun. Ein Blick auf Ammas leeren Teller sagte mir, dass sie nicht die Absicht hatte, sich zu uns zu setzen und Smalltalk zu machen. Oder zu erklären, warum sie diese Absicht nicht hatte.

Ich schluckte. »Wie geht’s dir, Amma?«

Sie stand an der Anrichte und mischte so energisch den Salat, dass ich Angst um unsere Glasschüssel bekam. »Geht so.«

Dad hob sachte sein Glas Milch in die Höhe. »Tja, ich hatte einen sensationellen Tag. Ich bin mit einer unglaublichen Idee aufgewacht, die mir einfach so gekommen ist, im Traum. Im Büro habe ich dann sofort ein Konzept entworfen. Ich werde wieder ein Buch schreiben.«

»Wirklich? Das ist toll.« Ich nahm die Salatschüssel und starrte interessiert auf eine ölige Tomatenscheibe.

»Über den Bürgerkrieg. Vielleicht kann ich sogar einige Forschungsergebnisse deiner Mutter verwenden. Ich werde mal mit Marian darüber sprechen.«

»Und wie soll das Buch heißen?«

»Das ist es ja, was mir aus heiterem Himmel eingefallen ist. Ich bin aufgewacht und hatte den Titel im Kopf. Der Achtzehnte Mond. Was hältst du davon?«

Die Schüssel glitt mir aus der Hand, streifte den Tisch und zerschellte am Fußboden; zerrupfte Salatblätter und glitzernde Scherben landeten auf meinen Chucks und auch überall sonst.

»Ethan Wate!« Ehe ich ein Wort sagen konnte, war Amma schon da und kehrte den durchweichten, glitschigen, gefährlichen Salatscherbenhaufen zusammen. So wie immer. Als ich mich auf allen vieren neben sie kauerte, hörte ich, wie sie mir leise etwas zuzischelte.

»Kein Wort mehr.«

Sie hätte mir genauso gut eine alte Pastetenkruste quer über den Mund kleben können.

Was, glaubst du, hat das zu bedeuten, L?

Ich lag wie betäubt auf dem Bett, den Kopf ins Kissen vergraben. Amma hatte sich nach dem Essen in ihr Zimmer eingeschlossen, für mich der Beweis dafür, dass nicht einmal sie wusste, was mit meinem Vater los war.

Ich weiß es nicht.

Wie üblich hörte ich Lena in meinem Kopf so klar und deutlich, als säße sie neben meinem Bett. Und wie üblich wünschte ich mir, sie säße wirklich da.

Wie ist er nur auf die Idee gekommen? Haben wir in seiner Gegenwart etwas über die Lieder gesagt? Haben wir es irgendwie vergeigt?

Und damit meinte ich mehr als nur die Sache mit dem Lied. Aber das konnte ich nicht sagen, wollte ich nicht denken. Die Antwort kam schnell.

Nein, Ethan, wir haben nie etwas gesagt.

Wenn er also vom Achtzehnten Mond spricht

Die Wahrheit ging uns beiden gleichzeitig auf.

Dann will jemand, dass er sich mit dieser Sache beschäftigt.

Es war einleuchtend. Die Caster hatten meine Mutter getötet. Mein Vater, der gerade eben wieder auf die Füße kam, war eine leichte Beute. Und sie hatten es ja schon einmal auf ihn abgesehen gehabt, in der Nacht von Lenas Sechzehntem Mond. Es gab keine andere Erklärung dafür.

Meine Mutter war tot, aber sie hatte eine Möglichkeit gefunden, mir zur Seite zu stehen. Sie hatte mir mit Sixteen Moons und Seventeen Moons zwei Shadowing Songs gesandt – Songs, die auf künftige Ereignisse hinwiesen; Ereignisse, die bereits ihre Schatten vorauswarfen. Songs, die sich in meinem Kopf festgesetzt hatten, bis ich bereit gewesen war, ihnen zuzuhören. Aber diese neue Botschaft kam nicht von meiner Mutter.

L? Glaubst du, dass es eine Art Warnung ist? Von Abraham?

Kann sein. Oder von meiner ach so wundervollen Mutter.

Sarafine. Lena sprach ihren Namen so gut wie nie aus, jedenfalls nicht wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. Ich konnte es ihr nicht verübeln.

Einer von beiden ist es gewesen, meinst du nicht?

Lena schwieg, und ich lag in meinem Bett in der stillen Dunkelheit und hoffte, dass es tatsächlich einer der beiden gewesen war: ein Teufel, den wir kannten, ein Mitglied der Caster-Welt, das uns nicht völlig fremd war. Denn die Dämonen, die man nicht kennt, sind noch viel fürchterlicher – von den unbekannten Welten ganz zu schweigen.

Bist du noch da, Ethan?

Ich bin da.

Liest du mir etwas vor?

Lächelnd griff ich unters Bett und zog das erste Buch hervor, das mir in die Hände kam. Robert Frost, einer von Lenas Lieblingsdichtern. Ich schlug aufs Geratewohl eine Seite auf. »Wir machen hinter Spott und Scherz / uns selber einen Platz abseits / doch oh, dies tief erregte Herz / bis einer uns zu finden weiß …«

Ich las einfach weiter. Lenas beruhigende Aufmerksamkeit schmiegte sich an mich, fast so, als wäre sie selbst hier und lehnte ihren Kopf an meine Schulter. Ich wünschte mir, dass es ganz lange so bleiben könnte, um mich nicht mehr so einsam zu fühlen. Jede Zeile schien sich direkt auf Lena zu beziehen, zumindest empfand ich es so.

Als Lena sich langsam von mir löste, lauschte ich dem Zirpen der Grillen – bis ich merkte, dass das Geräusch gar nicht von den Grillen kam. Es waren die Heuschrecken. Unsere Heimsuchung oder wie auch immer Mrs Lincoln dazu sagte. Je länger ich lauschte, desto mehr hörten sie sich an wie das Kreischen von einer Million Kreissägen, die meine Stadt und alles drum herum zerstörten. Dann verwandelte sich das hässliche Geräusch und machte einer leisen Melodie Platz, die ich überall wiedererkennen würde.

Ich hatte diese Melodie schon gehört, als ich Lena noch gar nicht begegnet war. Sixteen Moons hatte mich schließlich zu ihr geführt, der Song, der nur für mich allein bestimmt war. Ich konnte vor den Liedern nicht davonlaufen. So wenig Lena ihrem Schicksal entgehen konnte, so wenig konnte ich meinem entrinnen. Es waren Warnungen meiner Mutter – dem Menschen, dem ich am meisten auf der Welt vertraute.

Eighteen Moons, eighteen spheres,

From the world beyond the years,

One Unchosen, death or birth.

A Broken Day awaits the earth …

Wie immer versuchte ich, den Sinn der Worte zu verstehen. Die zweite Zeile deutete an, dass nicht die Welt der Sterblichen gemeint war. Aber was kam aus dieser anderen Welt jenseits von Tag und Jahr auf uns zu? War es der Achtzehnte Mond, oder war es jemand, der noch nicht berufen worden war – denn was sonst sollte »unchosen« bedeuten? Und wer war dieser Jemand?

Der einzige Mensch, der dafür nicht infrage kam, war Lena. Sie hatte ihre Wahl bereits getroffen. Was wiederum bedeutete, dass noch eine andere Berufung ausstand – von jemandem, der dies bisher noch nicht getan hatte.

Vor allem die letzte Zeile bereitete mir Unbehagen. A Broken Day – damit konnte so ziemlich alles und so ziemlich jeder Tag gemeint sein. So vieles war schon in die Brüche gegangen, konnte es denn wirklich noch schlimmer kommen?

Ich wünschte, ich hätte mehr Hinweise als nur das Lied. Ich wünschte, meine Mutter wäre hier und könnte mir sagen, was das alles zu bedeuten hatte. Und mehr als alles andere wünschte ich mir, ich wüsste, wie man das, was wir zerstört hatten, wieder in Ordnung bringen konnte.