Perfidia
13.12.
Wir wurden von der Menge fast erdrückt. Ich erkannte die Gewänder sofort wieder. Nur ich war groß genug, um über die Köpfe hinwegzusehen, aber es spielte keine Rolle. Ich wusste sowieso, wo wir waren.
Wir befanden uns tatsächlich mitten in einem Gerichtsverfahren. Livs Bleistift flog förmlich über die Seiten ihres roten Notizbuchs, als sie versuchte, alle Worte, die uns umschwirrten, festzuhalten.
»Perfidia ist lateinisch und heißt Verrat. Sie sagen, dass sie sie wegen Verrats anklagen.« Liv war blass, und bei dem Lärm, den die Leute um uns herum machten, konnte ich sie kaum verstehen.
Ich blickte mich um und erkannte die hohen Fenster mit den schweren goldenen Draperien wieder und auch die Holzbänke. Nichts hatte sich verändert – das dumpfe Raunen der Menschenmenge, die schier endlos hohen Wände, die Gewölbedecke. Ich packte Lenas Hand noch etwas fester und bahnte mir einen Weg zur Vorderseite der Halle, direkt unter der Holzempore. Liv und John schlängelten sich hinter uns her zwischen den wallenden Gewändern hindurch.
»Wo ist Marian?«, fragte Lena voller Angst. »Und Onkel Macon? Ich kann vor lauter Menschen nichts sehen.«
»Das gefällt mir nicht«, sagte Liv leise. »Irgendetwas stimmt hier nicht.«
Mich beschlich das gleiche Gefühl.
Wir standen inmitten derselben von Menschen bevölkerten Halle, in der ich bereits gewesen war, als ich zum ersten Mal die Temporis Porta durchschritten hatte. Damals hatte ich geglaubt, irgendwo im mittelalterlichen Europa zu sein, an einem Ort direkt aus dem Lehrbuch für Weltgeschichte, das wir an der Jackson High so gut wie niemals aufschlugen. Der Raum war so riesig, dass ich gedacht hatte, es sei das Innere eines Schiffs oder einer Kathedrale. Ein Platz, der einen weiterbrachte, entweder übers Meer oder ins Paradies, von dem die Schwestern dauernd sprachen.
Aber jetzt wirkte er verändert. Die Gestalten in den dunklen Roben – Caster, Sterbliche, Hüter oder was immer sie waren – sahen wie ganz normale Menschen aus. Es war die Art von Menschen, die ich kannte. Sie hätten ebenso gut in der Turnhalle der Jackson High sitzen und darauf warten können, dass der Disziplinarausschuss zu tagen begann. Egal ob auf den Bänken hier oder den Tribünensitzen dort, diese Leute warteten alle nur auf das eine. Auf die Sensation. Auf das Drama.
Schlimmer noch, sie wollten Blut sehen. Sie wollten einen Schuldigen, jemanden, den man bestrafen konnte.
Es war wie bei einem Jahrhundertprozess, bei dem eine Horde von Reportern im Gefängnis von South Carolina darauf wartete, dass ein Insasse des Todestrakts die Giftspritze erhielt. Die Hinrichtungen wurden von jedem Fernsehsender übertragen und standen in jeder Zeitung. Ein paar Leute wären da, um gegen die Hinrichtung zu protestieren, aber sie sähen so aus, als hätte man sie eigens für diesen Tag mit Bussen herangekarrt. Alle anderen waren gekommen, um dem Spektakel zuzusehen. Es war kein großer Unterschied zu den Hexenverbrennungen in Arthur Millers The Crucible.
Die Menge drängte sich murmelnd nach vorne, wie ich es bereits vorausgesehen hatte, dann hörte ich einen Hammer fallen. »Silentium.«
Lena packte meinen Arm.
Liv zeigte auf die andere Seite des Raums. »Macon. Er ist dort drüben.«
Ich schaute mich um. »Ich sehe Marian nicht.«
Vielleicht ist sie nicht hier, Ethan.
Sie ist hier.
Sie war ganz sicher da, denn ich wusste ja, was geschehen würde. Ich zwang mich, hochzuschauen.
Da oben …
Ich zeigte hinauf zu Marian, die wieder in Mantel und Kapuze gehüllt war und an den Handgelenken mit einer goldenen Schnur gefesselt war. Sie stand auf der Empore, hoch über den Köpfen, genau wie beim letzten Mal. Der groß gewachsene Bewahrer stand neben ihr.
Die Leute um uns herum flüsterten jetzt nur noch. Ich blickte Liv an, die für uns übersetzte. »Er ist der Oberste Bewahrer. Er wird …« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Das ist keine Verhandlung, Ethan. Das ist der Urteilsspruch.«
Ich hörte die lateinischen Worte, aber diesmal versuchte ich nicht, sie zu verstehen. Ich wusste, was sie bedeuteten, ehe der Oberste Bewahrer sie für uns verständlich wiederholte.
Marian wurde des Verrats schuldig gesprochen.
»Der Rat der Hohen Wacht, der einzig und allein der Ordnung der Dinge verpflichtet ist und keinem Menschen und auch sonst keiner Kreatur, keiner Macht, sei sie Dunkel oder Licht, befindet Marian von der Westlichen Wacht des Verrats schuldig.«
Ich erinnerte mich daran, wie ich diese Worte zum ersten Mal gehört hatte.
»Es sind die Folgen ihrer Tatenlosigkeit. Und dafür muss die Hüterin einstehen. Obwohl sie eine Sterbliche ist, wird sie in das Dunkle Feuer zurückkehren, aus dem alle Macht entstammt.«
Ebenso gut hätte ich derjenige sein können, den man zum Tode verurteilt hatte, so unerträglich war der Schmerz, der durch meinen Körper jagte. Ich sah, wie sie Marian die Kapuze vom kahl geschorenen Kopf rissen. Ich blickte in ihre Augen, die von dunklen Ringen umgeben waren, so als hätte man ihr wehgetan. Ich wusste nicht, ob es körperlicher Schmerz oder seelischer Schmerz oder sogar Todesschmerz war, den sie durchlitt. Ich stellte mir vor, dass es noch etwas Schlimmeres war.
Ich war der Einzige, der mit diesem Ausgang gerechnet hatte. Liv brach schluchzend zusammen. Lena taumelte gegen mich und ich musste sie stützen. Nur John stand aufrecht da, ungerührt, die Hände in den Hosentaschen vergraben.
Die Stimme des Obersten Bewahrers dröhnte durch den Saal. »Die Ordnung ist gestört. Bis die Neue Ordnung sich zeigt, muss dem Alten Recht Genüge getan und Sühne geleistet werden.«
»Immer diese Gerichtsdramen. Wenn ich dich nicht besser kennen würde, Angelus, dann würde ich glauben, dass du Werbung für eine billige Fernsehsendung machst.« Macons Stimme hallte durch die Versammlung, aber sehen konnte ich ihn nicht.
»Deine sterbliche Unbekümmertheit beschmutzt diesen geheiligten Ort, Macon Ravenwood.«
»Meine sterbliche Unbekümmertheit ist eines jener Dinge, die du nicht verstehst, Angelus. Und ich habe dich gewarnt, dass ich dies nicht dulden würde.«
Der Oberste Bewahrer rief über die Köpfe der Menge hinweg: »Du hast hier keine Macht.«
»Und du hast nicht das Recht, eine Sterbliche des Verrats gegen die Ordnung schuldig zu sprechen.«
»Die Hüterin gehört beiden Welten an. Die Hüterin kannte den Preis, der zu zahlen ist. Die Hüterin hat nichts dagegen unternommen, dass die Ordnung gestört wurde«, erwiderte der Bewahrer.
»Die Hüterin ist eine Sterbliche. Ihr Name ist Marian Ashcroft. Sie wurde bereits zum Tode verurteilt, wie jeder Sterbliche. In vierzig oder fünfzig Jahren wird dieses Urteil vollstreckt werden. So wie bei allen Sterblichen.«
»Es steht dir nicht zu, darüber zu sprechen.« Die Stimme des Obersten Bewahrers wurde lauter und unter den Zuschauern wuchs die Unruhe.
»Angelus, sie ist schwach. Sie hat keine Kräfte, sie kann sich nicht selbst verteidigen. Du kannst ein durchnässtes Kind nicht dafür bestrafen, dass es regnet.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Das Einzige, das sich nicht an die Gesetze der Mehrheit hält, ist das Gewissen eines Menschen.« Macon zitierte Harper Lee. Marians Zitate konnte ich nie zuordnen, aber dieses Zitat kannte ich, weil wir im letzten Schuljahr Wer die Nachtigall stört gelesen hatten.
John hatte sich zu Liv gebeugt und flüsterte ihr etwas zu. Als er sah, dass ich sie beobachtete, verstummte er. »Das ist doch absolute Scheiße«, sagte er.
Ausnahmsweise war ich der gleichen Meinung wie er. »Ja, und wir können nichts dagegen tun.«
»Warum nicht?«
Egal was ich sagte, er würde es ohnehin nicht verstehen. »Ich weiß, wie es enden wird. Sie haben sie des Verrats für schuldig befunden. Sie werden sie in das Dunkle Feuer zurückschicken oder wohin auch immer. Und wir müssen tatenlos zuschauen«, sagte ich kläglich. »Ich war schon einmal hier.«
»Ach ja? Ich aber nicht.« John trat vor und klatschte theatralisch in die Hände. Der ganze Raum verstummte, als sich John neben Macon stellte. Jetzt sah ich ihn auch. John hielt die Hand hoch, als warte er darauf, dass Macon ihn abklatschte. »Nicht schlecht, alter Mann.«
Macon war überrascht, aber er hielt seine Hand tatsächlich hoch. Dabei rutschte sein Ärmelaufschlag nach vorne, als wäre ihm das Hemd zu groß.
Was geht hier vor, L?
Keine Ahnung.
Ihr Haar begann sich zu kräuseln. Ich roch eine Spur von Rauch.
L, was machst du da?
Frag lieber, was er macht.
John schlenderte langsam auf den Obersten Bewahrer zu, der Marian auf der Empore festhielt. »Allmählich glaube ich, dass du diesem noblen Herrn und einstigen Inkubus-Bruder von mir nicht zuhörst.« Er sprang auf eine Bank und schubste einen Mann in Robe aus dem Weg.
»Ausgeburt Abrahams, du wirst ausfallend. Glaube ja nicht, dass die Caster-Chroniken es gut mit dir gemeint haben, Brut.«
»Auf diese Idee wäre ich nie gekommen. Seit wann meint es jemand gut mit mir? Ich weiß, dass ich ein Niemand bin. Aber wenn ich es mir recht überlege, bist du auch einer.« John sprang von der Bank hoch und schaffte es tatsächlich, sich an die Unterseite der Empore zu klammern. Seine schwarzen Stiefel baumelten in der Luft.
Die schweren goldenen Vorhänge hinter uns gingen plötzlich in Flammen auf.
John trat um sich und traf einen kahlen, tätowierten Mann am Kopf. Ich erkannte die Tätowierung wieder. Es war das Zeichen eines Dunklen Casters.
Jetzt war John auf den Holzbalkon geklettert und stand hoch über uns allen. Er legte einen Arm um Marian, den anderen ließ er schwer auf die Schulter des Obersten Bewahrers fallen. »Angelus, so heißt du doch, stimmt’s? Mann, wer hat sich denn das ausgedacht? Also gut, Angelus, hör zu. Meine Freundin Lena da drüben ist eine Naturgeborene.« Ein Raunen ging durch die Reihen, und ich sah, wie die Leute Lena entsetzt anstarrten.
»Warum zeigst du es ihnen nicht?«, forderte John sie auf.
Lena lächelte, und die Vorhänge, die dem Altar am nächsten waren, fingen Feuer. Der ganze Raum begann, sich mit Rauch zu füllen.
»Und Macon Ravenwood hat sich auch irgendwie verändert. Okay, ich weiß nicht genau, was er wirklich ist. Das ist eine lange Geschichte. Da war dieser Ball und dieses Feuer und ein paar wirklich üble Caster … Aber das weißt du wahrscheinlich alles schon, oder?«, blaffte John den Bewahrer an. »Es steht in deinem kleinen Buch, in das du alles schreibst, was du über Caster ausspioniert hast.«
Ich wusste nicht, wer mehr überrascht war – Marian oder Angelus.
»Egal, kommen wir zu Macon zurück. Der Typ hat es richtig drauf. Er hat da so einen Trick – komm schon, Macon, keine falsche Scheu.«
Macon schloss die Augen und einen Moment später war er in grünes Licht gehüllt. Die Umstehenden wichen erschrocken zurück.
»Bleibe nur noch ich übrig. Ich bin kein Naturgeborener.« John nickte in Macons Richtung. »Und ich bin auch nicht wie er.« Er grinste. »Aber das mit mir ist so eine Sache. Ich habe beide berührt. Deshalb kann ich jetzt das Gleiche tun wie sie. Das ist meine Spezialität. Ich wette, in deinem kleinen Buch steht nichts über einen solchen Caster, oder?« Der Bewahrer wollte sich von John losreißen, aber der hielt ihn nur umso fester. »So, Angelus, jetzt drehen wir den Spieß mal um. Lass mal sehen, wozu ein komischer Vogel wie du imstande ist.«
Der Bewahrer riss sich aus Johns Griff und zeigte voller Wut mit dem Finger auf ihn. John tat genau das Gleiche.
Ein greller Blitz durchzuckte die Halle …
… und wir alle standen wieder auf der anderen Seite der Temporis Porta.
Alle, auch Marian.