The
Crucible
1.11.
»Weißt du, wenn Babys auf die Welt kommen, dann haben sie keine Kniescheiben.« Tante Grace zwängte sich zwischen die Sofakissen, ehe ihre Schwester Platz nehmen konnte.
»Grace Ann, wie kannst du so etwas sagen? Das ist ja entsetzlich.«
»Mercy, das ist die reine Wahrheit, so wahr mir Gott helfe. Ich habe es im Readers Digestiv gelesen. In diesen Heften steht sehr viel Nützliches.«
»Aber wieso auf Gottes schöner Erde redest du überhaupt von Babyknien?«
»Ich weiß auch nicht, warum. Ich musste eben daran denken, wie sich die Dinge ändern. Wenn bei Babys Kniescheiben wachsen, warum kann ich dann nicht fliegen lernen? Warum baut man keine Treppe zum Mond? Warum kann Thelma nicht diesen hübschen Jim Clooney heiraten?«
»Du kannst nicht fliegen lernen, weil du keine Flügel hast. Und es wäre völlig sinnlos, eine Treppe auf den Mond zu bauen, weil es dort oben keine Luft zum Atmen gibt. Und der Bursche heißt George Clooney, und Thelma kann ihn nicht heiraten, weil er drüben in diesem Hollywood wohnt und nicht einmal ein Methodist ist.«
Ich war in der Küche und hörte zu, während ich mein Müsli aß. Manchmal verstand ich sogar, wovon die Schwestern redeten, auch wenn es sich wie blanker Unsinn anhörte. Sie machten sich Sorgen um Tante Prue. Sie stellten sich darauf ein, dass sie vielleicht starb. Wahrscheinlich wuchsen Babys Kniescheiben. Die Zeiten änderten sich. Das war weder gut noch böse, genauso wenig wie Kniescheiben gut oder böse waren. Zumindest redete ich mir das ein.
Und noch etwas hatte sich geändert.
An diesem Morgen war Amma nicht in der Küche. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich jemals in die Schule gegangen war, ohne sie vorher gesehen zu haben. Selbst wenn sie wütend war und mir kein Frühstück machen wollte, rumorte sie in der Küche herum, brummelte vor sich hin und warf mir böse Blicke zu.
Die Einäugige Drohung lag auf der Löffelablage, trocken und unbenutzt.
Es erschien mir nicht richtig, aus dem Haus zu gehen, ohne mich von Amma zu verabschieden. Deshalb zog ich die Schublade auf, in der sie ihre extra spitzen Bleistifte der Härte 2 aufbewahrte, nahm einen heraus und riss ein Blatt vom Notizblock. Ich würde ihr schreiben, dass ich schon losgegangen war. Keine große Sache.
Ich beugte mich über die Anrichte und schrieb die ersten Worte.
»Ethan Lawson Wate!« Ich hatte Amma gar nicht kommen hören und wäre vor Schreck beinahe in die Luft gesprungen.
»Jesus, Amma. Wegen dir hätte mich fast der Schlag getroffen.«
Tatsächlich sah eher sie so aus, als hätte sie der Schlag getroffen. Ihr Gesicht war aschfahl und sie schüttelte den Kopf wie eine Wahnsinnige.
»Amma, was ist los?« Ich wollte auf sie zugehen, aber sie hielt mich mit einer abwehrenden Geste zurück.
»Bleib stehen!« Ihre Hand zitterte. »Was hast du da gemacht?«
»Ich hab dir etwas aufgeschrieben.« Ich zeigte ihr den Zettel.
Sie deutete mit ihrem dürren Finger auf meine Hand und den Bleistift. »Du hast mit der falschen Hand geschrieben.«
Ich sah hinunter auf den Stift in meiner Hand und ließ ihn fallen. Er rollte über den Fußboden.
Ich hatte mit der linken Hand geschrieben.
Aber ich war Rechtshänder.
Amma floh aus der Küche und rannte durch den Flur.
»Amma!«, rief ich ihr hinterher, aber sie schlug mir ihre Tür vor der Nase zu. Ich trommelte dagegen. »Amma! Du musst mir sagen, was los ist.«
Was mit mir los ist.
»Was ist das für ein Krawall?«, rief Tante Grace aus dem Wohnzimmer. »Ich will meine Fernsehserie sehen.«
Ich ließ mich mit dem Rücken gegen Ammas Tür gelehnt auf den Boden sinken und wartete. Aber sie kam nicht heraus. Sie würde mir nicht sagen, was los war. Ich musste es selbst herausfinden.
Es war Zeit, mir eigene Kniescheiben wachsen zu lassen.
Mein Vorsatz geriet bereits kurze Zeit später wieder ins Wanken, als ich zufällig meinem Vater und Mrs English begegnete. Diesmal war es nicht in der Bibliothek. Diesmal aßen sie gemeinsam zu Mittag. In meiner Schule. In meinem Klassenzimmer. Wo jeder, ich eingeschlossen, sie sehen konnte. Auf eine solche Wendung der Dinge war ich nicht gefasst gewesen.
Ich machte den Fehler, meinen Aufsatz über The Crucible während der Mittagspause abgeben zu wollen, denn im Englischunterricht hatte ich es vergessen. Ich trat ein, ohne durch das kleine Glasfenster zu blicken, und da stand ich vor ihnen. Sie aßen Ammas Brathähnchen. Wenigstens wusste ich, dass es wie Gummi schmeckte.
»Dad?«
Mein Vater lächelte, noch ehe er sich richtig umgedreht hatte, deshalb wusste ich, dass er auf diesen Augenblick gewartet hatte. Er hatte dieses Lächeln einstudiert.
»Ethan? Tut mir leid, dass ich dich in deinem Revier überrasche. Ich wollte ein paar Dinge mit Lilian besprechen. Sie hat großartige Ideen, was das Projekt Der Achtzehnte Mond betrifft.«
»Das glaube ich sofort.« Mit einem Lächeln hielt ich ihr meinen Aufsatz hin. »Bitte. Ich wollte ihn in Ihr Fach legen. Tun Sie so, als sei ich gar nicht da.« Sollte heißen: Ich tue so, als seien Sie gar nicht da. Und Dad erst recht nicht.
Aber so leicht kam ich nicht davon.
»Hast du dich auf morgen vorbereitet?« Mrs English sah mich erwartungsvoll an. Ich riss mich zusammen. Die übliche Antwort auf diese Frage lautete Nein, aber diesmal wusste ich nicht einmal, worauf ich mich hätte vorbereiten sollen.
»Ma’am?«
»Für das Nachspielen der Hexenprozesse von Salem? Wir werden die gleichen Fälle verhandeln, auf denen auch The Crucible basiert. Hast du deinen Fall vorbereitet?«
»Ja, Ma’am.« Das erklärte, wieso ein brauner Briefumschlag mit der Aufschrift »ENGLISCH« in meinem Rucksack gesteckt hatte. In letzter Zeit war ich im Unterricht nicht so ganz bei der Sache gewesen.
»Was für eine aufregende Idee, Lilian. Ich würde gerne kommen und zuhören, wenn es dich nicht stört«, sagte mein Vater.
»Ganz und gar nicht. Du kannst die Gerichtsverhandlung auf Video aufnehmen. Dann können wir sie im Unterricht gemeinsam anschauen.«
»Großartig.« Mein Vater strahlte.
Ich spürte, wie mir das kalte Glasauge folgte, als ich aus dem Klassenzimmer ging.
L, wusstest du, dass wir morgen in Englisch die Hexenprozesse von Salem nachstellen?
Hast du deinen Part etwa nicht auswendig gelernt? Schaust du überhaupt irgendwann mal in deinen Rucksack?
Wusstest du, dass mein Vater alles auf Video aufnimmt? Ich weiß es, weil ich nämlich zufällig in sein lauschiges Mittagessen mit Mrs English geplatzt bin.
Ihhhh!
Was sollen wir jetzt machen?
Lange Pause.
Vielleicht sollten wir jetzt Mistress English zu ihr sagen?
Das ist nicht lustig, L.
Und vielleicht solltest du das Theaterstück bis morgen noch schnell zu Ende lesen.
Wenn man gegen das Böse in der Welt zu kämpfen hat, dann erscheinen einem die normalen alltäglichen Widrigkeiten – die Schulaufsicht, die einen zum Nachsitzen verdonnert, die Pflichtlektüre langweiliger Stücke – gar nicht mehr so schlimm. Es sei denn, der eigene Vater verabredet sich mit der glasäugigen Lehrerin.
Egal wie man es betrachtete, Lilian English war ein Verhängnis – ob nun von der wirklich bösen oder nur von der alltäglich bösen Sorte. Denn so oder so aß sie Hähnchen mit meinem Vater und ich war so gut wie geliefert.
In The Crucible ging es mehr um Schlampen als um Hexen, so würde zumindest Lena das sagen. Ich war froh, dass ich das Stück erst zu Ende gelesen hatte, als wir mit der Besprechung im Unterricht schon fast fertig waren. Denn danach hasste ich die Hälfte der Jackson High und die komplette Cheerleader-Truppe noch mehr als vorher.
Als die Stunde begann, war ich stolz darauf, dass ich es doch noch geschafft hatte, das Stück zu lesen und jetzt ein paar Dinge über John Proctor sagen konnte, den Typen, der ziemlich übel reingelegt wird. Aber da wusste ich noch nichts von der Verkleidung – die Mädchen kamen in grauen Kleidern und weißen Schürzen, die Jungs in steifen Hemden und mit in die Socken gestopften Hosenbeinen. Die Mitteilung darüber, dass wir uns kostümieren sollten, war wie so vieles andere an mir vorübergegangen. Aber auch Lena trug kein Kostüm.
Mrs English funkelte uns mit ihrem Ein-Augen-Blick an und zog uns fünf Punkte ab, während ich angestrengt versuchte, nicht an meinen Vater zu denken, der mit der fünfzehn Jahre alten schuleigenen Videokamera in der letzten Reihe saß.
Die Tische und Bänke im Klassenzimmer waren wie in einem Gerichtssaal aufgestellt. Die beschuldigten Mädchen, angeführt von Emily Asher, saßen auf der einen Seite. Sie waren die Lügnerinnen und sollten so tun, als seien sie besessen. Emily war ein Naturtalent. Und alle anderen auch. Neben ihnen saßen die Richter und auf der anderen Seite war der Zeugenstand.
Mrs English sah mich mit ihrem guten Auge an. »Ethan. Ich schlage vor, du beginnst als John Proctor, und im Laufe der Stunde werden die Rollen getauscht.«
Ich war also der Typ, dessen Leben gerade von einer Horde Emily Ashers ruiniert wurde.
»Lena, du kannst die Abigail spielen. Wir fangen mit dem Drama an, und im Verlauf der Woche werden wir dann über die wahren Fälle sprechen, die dem Stück zugrunde liegen.«
Ich ging zu meinem Stuhl in der einen Ecke und Lena setzte sich in die andere.
Mrs English winkte meinem Vater zu. »Los geht’s, Mitchell.«
»Ich bin bereit, Lilian.«
Alle Köpfe drehten sich in meine Richtung.
Das Nachspielen des Theaterstücks begann ohne Probleme – oder besser gesagt nur mit den üblichen Problemen. Nach fünf Minuten war der Kamera-Akku leer. Der Vorsitzende Richter musste aufs Klo. Die beschuldigten Mädchen wurden dabei erwischt, wie sie SMS schrieben, woraufhin man ihnen die Handys wegnahm, was für sie ein deutlich schlimmeres Schicksal darstellte als das, was der Teufel angeblich über sie gebracht hatte.
Mein Vater sprach kein Wort, aber ich wusste, dass er da war. Seine Anwesenheit brachte mich dazu, möglichst nicht zu reden, mich möglichst nicht zu bewegen und möglichst nicht zu atmen. Wieso war er hier? Was genau tat er, wenn er mit Mrs English zusammen war? Ich fand keine vernünftige Erklärung dafür.
Ethan, du musst jetzt deine Verteidigungsrede halten.
Wie?
Ich blickte in die Kamera. Alle im Raum starrten mich an.
Sag irgendwas, oder ich muss einen Asthmaanfall vortäuschen, so wie Link in der Bio-Prüfung.
»Ich heiße John Proctor.«
Ich hielt inne. Ich hieß John.
Wie der John im Krankenhaus. Und der John, der auf Ridleys pinkfarbenem Flauschteppich saß. Schon wieder ging es um mich und um einen John.
Was wollte das Universum mir damit sagen?
»Ethan?« Mrs English klang verärgert.
Ich schaute auf meinen Text. »Ich heiße John Proctor und die Beschuldigungen gegen mich sind falsch.« Ich hatte keine Ahnung, ob ich in der richtigen Zeile gelandet war. Ich blickte Richtung Kamera, aber diesmal hatte ich kein Auge für meinen Vater dahinter.
Ich sah etwas ganz anderes. Mein Spiegelbild im Objektiv kräuselte sich wie leichte Wellen auf einem See. Dann wurde es langsam wieder scharf. Und dann sah ich mich selbst.
Mich, wie ich meine Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln verzog.
Ich fühlte mich, als hätte mir jemand einen Schlag versetzt.
Ich bekam keine Luft mehr.
Mein Spiegelbild war falsch, denn ich lächelte gar nicht.
»Was zum Teufel …?« Meine Stimme zitterte. Die angeklagten Mädchen fingen an zu kichern.
Ethan, ist alles okay mit dir?
»Haben Sie Ihrer scharfsinnigen Verteidigung noch etwas hinzuzufügen, Mr Proctor?« Mrs English war jetzt richtig sauer. Sie dachte, ich würde die ganze Sache veräppeln.
Mit bebenden Händen wühlte ich in meinen Aufzeichnungen, bis ich ein Zitat fand. »Wie soll ich ohne meinen Namen leben? Ich habe euch meine Seele verkauft, lasst mir meinen Namen.«
Ich spürte, wie sie mich mit ihrem Glasauge fixierte.
»Lasst mir meine Seele. Lasst mir meinen Namen.« Es war die falsche Zeile, aber sie passte trotzdem.
Irgendetwas verfolgte mich. Ich wusste nicht, was es war oder was es von mir wollte.
Aber ich wusste, wer ich war.
Ich war Ethan Lawson Wate – der Sohn von Lila Jane Evers Wate und Mitchell Wate. Der Sohn einer Hüterin und eines Sterblichen, ein glühender Fan von Basketball und Schokomilch, von Comicheften und Romanen, die ich unter meinem Bett versteckte. Großgezogen von meinen Eltern und Amma und Marian, von der ganzen Stadt und jedem Einzelnen ihrer Bewohner, den Guten wie den Schlechten.
Und ich liebte ein Mädchen. Lena war ihr Name.
Die Frage war: Wer bist du? Und was willst du von mir?
Ich wartete die Antwort nicht ab. Ich musste hier raus. Ich stieß die Stühle um, weil ich nicht schnell genug zur Tür kam. Ich riss sie auf und rannte den Gang entlang, ohne mich noch einmal umzuschauen.
Denn ich kannte die Antwort. Ich hatte sie schon ein Dutzend Mal gehört und jedes Mal verstand ich sie weniger.
Und jedes Mal drehte sich mir der Magen um.
ICH WARTE.