»Bleiben noch vier mögliche Verbindungen übrig, die einen solchen Zwitter aus Inkubus und Dunklem Caster hervorbringen können«, fuhr Liv fort. »Eine Kombination mit einem Dunklen Caster kommt nicht in Betracht, weil es keine …«

»Lichten Inkubi gibt – obwohl ich früher als solcher galt? Das ist wahr. Inkubi sind von Natur aus Dunkel. Das weiß wahrscheinlich niemand besser als ich, Miss Durand.«

Liv klappte ihr Notizbuch zu und schaute etwas unbehaglich drein, aber Macon winkte ab. »Keine Angst. Ich beiße nicht. Ich habe mir nie etwas aus Menschenblut gemacht. Ich fand es eher widerwärtig.«

»Wenn John Breed so etwas wie ein Mischblut unter den Übernatürlichen ist, dann ist er das garantiert nicht zufällig«, führte Liv ihre Überlegungen weiter. »So etwas ist einmalig, noch nie da gewesen, und so weit die Aufzeichnungen von Professor Ashcroft zurückreichen, hat noch kein Hüter je etwas Ähnliches dokumentiert. Es scheint fast, als wären sämtliche Aufzeichnungen über eine solche Geburt restlos aus der Lunae Libri getilgt worden.«

»Was zeigt, dass wir mit unseren Vermutungen recht hatten. Dieser Junge ist mehr als nur ein Inkubus, dem das Tageslicht nichts ausmacht. Warum sonst würde man so viel Sorgfalt darauf verwenden, seine Herkunft zu verschleiern?« Macon rieb sich die Stirn, seine grünen Augen waren rot unterlaufen. Bei seinem Anblick fiel mir ein, dass ich gar nicht wusste, ob und wann er schlief, jetzt wo er kein Inkubus mehr war. Momentan wirkte er so, als hätte er Schlaf dringend nötig. »Das ist ein Fortschritt, Miss Durand. Gut gemacht.«

Liv war enttäuscht. Ich kannte diesen Blick von ihr. »Wohl kaum. Die genetische Abstammung kennen wir immer noch nicht. Und ohne sie lässt sich nur schwer einschätzen, welche Fähigkeiten John besitzt. Oder welchen Anteil er an all dem hat.«

»Ein stichhaltiges Argument. Trotzdem müssen wir uns auf das konzentrieren, was wir wissen. John Breed bedeutet Abraham viel, und das wiederum heißt, dass der Junge eine wichtige Rolle in seinen Plänen spielt.«

Liv streckte den Arm aus. Die Zeiger ihrer sonderbaren Armbanduhr Marke Eigenbau – ihr sogenanntes Selenometer, das ihr die einzigen Antworten gab, denen sie vertraute – drehten sich hektisch. »Ehrlich gesagt, Sir, weiß ich nicht, wie viel Zeit uns noch bleibt, um das herauszufinden. Ich habe noch nie zuvor solche Werte auf dem Selenometer abgelesen. Ich sage es nur ungern, aber man könnte fast meinen, der Himmel stürzt jeden Augenblick auf Gatlin herab.«

Macon stand auf und ließ seine Hand schwer auf Livs Schulter fallen. Ich wusste genau, was für ein kräftiger Griff das war, fast spürte ich ihn selbst. »Nur keine Scheu vor der Wahrheit, Miss Durand. Jetzt ist nicht die Zeit für Artigkeiten. Wir müssen uns beeilen. Mehr können wir ohnehin nicht tun.«

Unter dem Druck seiner Hand richtete Liv sich auf. »Ich weiß nicht, wie man sich richtig verhält, wenn die Welt der Sterblichen womöglich kurz davorsteht, völlig ausgelöscht zu werden.«

»Mein liebes Kind, ich glaube, genau darum geht es.«

»Wie meinen Sie das?«

»Betrachten wir die Fakten. Augenscheinlich hat sich die Welt der Sterblichen seit der Nacht der Berufung verändert. Der Himmel droht herabzufallen, wie Sie selbst es beschrieben haben. Die Hölle auf Erden, wie unsere bezaubernde Mrs Lincoln sagen würde. Und in der Caster-Welt zeigt sich eine ganz neue, noch nie da gewesene Spezies, der Caster-Inkubus. Eine Art neuer Adam. Was auch immer sich hinter dieser Mischlingskreatur verbirgt, sie ist nicht zufällig aufgetaucht. Dazu ist das Timing zu perfekt. Nein, das alles ist ein groß angelegter Plan – und weil Abraham zweifellos mit von der Partie ist, auch ein grandioser Plan.«

Lena war blass geworden. Ich nahm ihre Hand.

Gehen wir.

Sie legte den Finger auf die Lippen.

Ist er Adam?

L …

Ethan, wenn er Adam ist …

Liv starrte Macon aus weit aufgerissenen Augen an. »Sie halten Abraham für denjenigen, der hinter allem steckt?«

Macon schnaubte. »Hunting ist nicht schlau genug für ein solches Unterfangen und Sarafine hat nicht die Macht dazu. Einmal abgesehen von der Frage der Abstammung, so ist der Junge doch in etwa so alt wie Lena? Oder ein wenig älter?«

Ich will nicht Eva sein.

Das bist du auch nicht.

Woher willst du das wissen, Ethan? Ich glaube, ich bin es.

Nein, das bist du nicht, L.

Ich nahm sie in die Arme, und durch mein dünnes Baumwollshirt hindurch spürte ich, wie heiß ihre Wangen waren.

Doch. Diese Rolle war für mich vorgesehen.

Macon sprach, aber mit jedem Wort schien er sich in Gedanken weiter zu entfernen. »Geht man davon aus, dass John Breed nicht aus irgendeiner fremden Welt kommt, dann stammt er aus unserer Welt der Caster oder der Sterblichen und ist hier groß geworden. Das wiederum setzt mehr als eineinhalb Jahrzehnte lang schlaue Täuschungsmanöver voraus – worin Abraham ein Meister ist.« Er verstummte.

»Wollen Sie damit andeuten, dass John in einem Caster-Laboratorium geboren wurde? Als eine Art übernatürliches Retortenbaby?«

»Etwas in der Art, ja. Vielleicht nicht unbedingt geboren, eher gezüchtet. Was auch erklären würde, weshalb Abraham ein so großes Interesse an ihm hat.« Macon hielt kurz inne, dann fügte er vielsagend hinzu: »Diese Art plumper Witz hätte ich von meinem Bruder Hunting erwartet, nicht von Abraham. Ich bin enttäuscht.«

»John Breed«, sagte Liv langsam. »Oh mein Gott. Der Name ist so offensichtlich, wir haben es nur nie erkannt.« Liv sank auf die Ottomane gegenüber von Macons Schreibtisch.

Ich drückte Lena fester an mich. Ihre Gedanken waren nur ein Flüstern.

Das ist abartig. Er ist abartig.

Ich wusste nicht, ob sie John oder Abraham meinte, aber das machte auch keinen Unterschied. Sie hatte recht. Das alles war einfach nur abartig.

»Also bleiben uns zwei Fragen, Miss Durand. Wie und vor allem warum?«

»Wenn John Breed tot ist, spielt das keine Rolle mehr.« Liv war bleich und wirkte jetzt genauso erschöpft wie Macon.

»Ist er das wirklich? Ich glaube das erst, wenn ich seinen Leichnam gesehen habe.«

»Sollten wir unsere Nachforschungen nicht drängenderen Problemen widmen, zum Beispiel der Insektenplage und dem verrückt spielenden Klima? Die Frage ist doch, wie wir die Heimsuchungen beenden können, die Lenas Siebzehnter Mond in die Welt der Sterblichen gebracht hat?«

Macon beugte sich vor. »Olivia, haben Sie eine Vorstellung davon, wie alt diese Bibliothek hier ist?«

Liv schüttelte den Kopf.

»Wissen Sie, wie alt alle unsere weit verzweigten Caster-Bibliotheken sind? Jene hier und jene weit entfernt – in London, Prag, Madrid, Istanbul, Kairo?«

»Nein, nicht direkt.«

»Meinen Sie, dass es in einer dieser Bibliotheken – und viele von ihnen habe ich während der vergangenen Wochen selbst besucht – einen einzigen Hinweis darauf gibt, wie man die Ordnung der Dinge wiederherstellen kann?«

»Natürlich. Es muss einen Hinweis geben. So etwas ist bestimmt früher schon einmal passiert.«

Macon schloss die Augen.

»Noch nie?«, fragte Liv nach einigen Sekunden. Sie sagte es so leise, dass wir es von unserem Standort aus kaum hörten.

»Der Junge ist unser einziger Anhaltspunkt. Wie ist er in die Welt gekommen und was ist der Zweck seines Daseins?«

»Und das Mädchen?«

»Olivia, jetzt gehen Sie zu weit.«

Aber so leicht ließ sich Liv nicht einschüchtern. »Vielleicht wissen Sie es ja längst? Was ist der Zweck ihres Daseins? Wissenschaftlich betrachtet ist das wichtig.«

Lena verschloss sich vor mir und kapselte ihre Gedanken von meinen ab, bis ich allein am Fuß der Treppe stand, obwohl wir uns aneinanderklammerten.

Macon schüttelte den Kopf. Als er sprach, war seine Stimme rau. »Sagen Sie den anderen nichts. Ich will mir vorher absolut sicher sein.«

»Bevor Sie Lena eröffnen, was sie getan hat«, sagte Liv. Das war eine Tatsache, aber so wie sie es sagte, schwang noch etwas anderes mit.

In Macons grünen Augen konnte man Gefühle ablesen, wie man sie in seinen schwarzen Augen nie gesehen hatte. Angst. Wut. Groll. »Bevor ich ihr eröffne, was sie tun muss.«

»Womöglich lässt es sich gar nicht mehr aufhalten«, erwiderte Liv und blickte auf ihr Selenometer.

»Olivia, es geht nicht nur um das Universum, das vielleicht zerstört wird. Es geht um meine Nichte. Und die ist mir wichtiger als tausend zerstörte Universen.«

»Glauben Sie mir, das weiß ich.« Wenn Liv verbittert war, dann ließ sie es sich nicht anmerken.

Ich stand da und hatte das Gefühl, mein Herz würde jeden Augenblick aufhören zu schlagen. Lena glitt aus meiner Umarmung und war verschwunden, ehe ich wusste, wie mir geschah.

Ich spürte sie wenig später in ihrem Zimmer auf. Sie weinte nicht, und ich versuchte nicht, sie zu trösten. Wir saßen schweigend da, hielten uns an den Händen, bis es wehtat, bis die Sonne unterging – hinter den Worten, hinter dem Glas, hinter den Bäumen und dem Fluss. Die Nacht kroch über ihr Bett, und ich wartete darauf, dass die Dunkelheit alles auslöschte.