Das Ende der
Tage
28.9.
»Es ist eine Art Zeichen.« Ich raste mit Vollgas die Route 9 entlang.
»Ethan, fahr langsamer.« Lena schaute auf den Tacho. Ihr war der Schrecken genauso in die Glieder gefahren wie mir, sie ließ es sich nur nicht anmerken.
Ich wollte einfach nur weg von dem Krankenhaus, weg von den pfirsichfarbenen Wänden, dem widerlichen Geruch, den kaputten Körpern und den leeren Augen. »Er heißt John, und er hat andauernd geschrieben: So endet die Welt am Achtzehnten Mond. Und in seiner Krankenakte stand, dass er einen Motorradunfall hatte.«
»Ich weiß.« Lena berührte meine Schulter, und ich sah, wie sich ihr Haar kräuselte. »Aber wenn du nicht langsamer fährst, dann bremse ich für dich.«
Ich ging etwas vom Gas, aber meine Gedanken rasten weiter. Ich nahm die Hände vom Lenkrad und das Auto machte nicht einmal einen Schlenker. »Willst du ans Steuer? Ich kann rechts ranfahren.«
»Ich will nicht fahren. Aber wenn wir beide im Krankenhaus landen, finden wir die Lösung nie.« Lena zeigte auf die Straße. »Also pass auf, wohin du fährst.«
»Die Frage ist doch, was hat das zu bedeuten?«
»Wir müssen uns an das halten, was wir wissen.«
Ich zwang mich, an die Nacht zurückzudenken, in der Abraham in meinem Zimmer aufgetaucht war. Damals hatte sich mein Verdacht bestätigt, dass John Breed noch am Leben war. In dieser Nacht hatte alles angefangen. »Abraham ist auf der Suche nach John. Vexe zerstören die Stadt und sorgen dafür, dass Tante Prue im Krankenhaus landet, wo ich auf einen Jungen treffe, der etwas vom Achtzehnten Mond schreibt. Vielleicht ist es eine Art Warnung.«
»Ja, wie ein Shadowing Song. Und dann ist da ja auch noch das Buch, das dein Vater schreiben will.«
»Stimmt.« Das hatte ich verdrängt. Ich hatte keine Lust, darüber nachzudenken, welche Rolle mein Vater bei der ganzen Sache spielte.
»Also, der Achtzehnte Mond und John Breed haben irgendetwas miteinander zu tun«, überlegte Lena.
»Wir müssen wissen, wann der Achtzehnte Mond ist. Wie kriegen wir das raus?«
»Das kommt darauf an, von wessen Achtzehntem Mond wir sprechen.« Lena schaute aus dem Fenster, und ich sagte genau das, was sie nicht hören wollte.
»Von deinem?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass es um mich geht.«
»Warum meinst du das?«
»Bis zu meinem Geburtstag ist es noch eine Weile hin. Und Abraham scheint es ziemlich eilig zu haben, John zu finden.« Das klang plausibel. Diesmal hatte es Abraham nicht auf sie abgesehen. Er wollte John. Lena redete weiter. »Und dieser Typ hieß auch nicht Lena.«
Ich hörte nicht mehr zu.
Er hieß nicht Lena. Er hieß John. Und er kritzelte Botschaften, die den Achtzehnten Mond betrafen.
Ich verriss das Steuer und wäre um ein Haar von der Straße abgekommen, wenn der Leichenwagen nicht von allein wieder geradeaus gefahren wäre. Ich gab es auf und nahm die Hände vom Lenkrad. Ich war zu geschockt, um Auto zu fahren. »Meinst du, es geht um John Breeds Achtzehnten Mond?«
Lena nestelte an ihrer Halskette mit den vielen Anhängern herum. »Ich weiß es nicht.«
Ich holte tief Luft. »Was, wenn Abraham die Wahrheit gesagt hat und John noch am Leben ist?«
»Oh mein Gott«, flüsterte Lena.
Ich hielt mitten auf der Route 9. Ein Truck hupte laut, und ich sah verschwommen, wie etwas Rotes, Metallisches an uns vorbeirauschte.
Eine Minute lang sprach keiner von uns ein Wort.
Die ganze Welt geriet außer Kontrolle und ich konnte nichts dagegen tun.
Nachdem ich Lena in Ravenwood abgesetzt hatte, wollte ich noch nicht nach Wates Landing fahren. Ich musste nachdenken und zu Hause konnte ich das nicht. Amma müsste nur einen Blick auf mich werfen, und schon wüsste sie, dass mit mir etwas nicht stimmte. Ich konnte nicht so tun, als wüsste ich nicht, dass sie einen Handel mit einem Mann geschlossen hatte, der in der Voodoo-Welt eine Art Dunkler Caster war. Als hätte ich nicht mit Tante Prue gesprochen, obwohl sie nicht ansprechbar in ihrem pfirsichfarbenen Gefängnis lag. Als hätte ich nicht einem wildfremden Jungen zugesehen, wie er mir aufschrieb, dass das Ende der Welt bevorstand.
Ich wollte mich der Wahrheit stellen – der Hitze und dem Ungeziefer und dem ausgetrockneten See, den zerstörten Häusern und den verkohlten Dächern und den kosmischen Ordnungen, die ich nicht wieder in Ordnung bringen konnte. Den Folgen von Lenas Berufung für die Welt der Sterblichen und dem, was Abrahams Zorn über meine Stadt heraufbeschworen hatte.
Als ich in die Main Street einbog, bot sich mir ein entsetzliches Bild. Bei Tageslicht sah alles noch hundertmal schlimmer aus als in der Nacht. Die Schaufenster waren mit Brettern vernagelt. Man sah von der Straße aus nicht mehr, wie Maybelline Sutter im Snip & Curl ihre Kunden beschwatzte, während sie ihnen die Haare viel zu kurz schnitt oder sie bläulich weiß färbte. Man sah keine Sissy Honeycutt mehr, wie sie im Garten Eden Nelken und Schleierkraut in Vasen stellte, keine Millie oder ihre Tochter, die ein paar Häuser weiter im Breakfast ’n’ Biscuits Frühstück servierten.
Sie alle waren in ihren Geschäften, aber Gatlin war nicht mehr die Stadt, in der man durch Fensterscheiben nach innen schauen durfte. Es war die Stadt der verrammelten Fenster, der verschlossenen Türen und der überquellenden Vorratskammern. Die Stadt, die auf den nächsten Wirbelsturm oder das Ende der Welt wartete, je nachdem, wen man fragte.
Es überraschte mich daher auch nicht, dass ich Links Mutter vor der Kirche der Missions-Baptisten stehen sah, als ich den Cypress Grove hinunterfuhr. Halb Gatlin hatte sich dort versammelt, Methodisten wie Baptisten – sie drängten sich auf dem Gehweg, auf der Wiese, überall, wo Platz war. Reverend Blackwell stand vor der Kirchentür unter den Worten »NUR DIE RECHTSCHAFFENEN HABEN EINEN PLATZ IM HIMMEL«. Er hatte die Ärmel hochgekrempelt, sein weißes Hemd war zerknittert und hing aus der Hose. Er sah aus, als hätte er seit Tagen nicht mehr geschlafen.
In der Hand hielt er ein Megafon. Nicht dass er eines gebraucht hätte, er plärrte auch so laut genug in die Menge der Menschen, die Schilder und Kreuze aus Pappe hochhielten, als wäre er der von den Toten auferstandene Elvis.
»Die Bi-hi-bel« – er sprach das Wort immer dreisilbig aus – »lehrt uns, dass Zeichen gesetzt werden. Die Sieben Siegel stehen für das Ende der Welt.«
»Amen! Dank sei dem Herrn!«, rief die Menge. Eine Stimme übertönte alle anderen, natürlich. Am Fuß der Treppe stand Mrs Lincoln, ihre folgsamen Hühner von der TAR – die »Töchter der Amerikanischen Revolution« – hatten sich Arm in Arm um sie geschart. Sie trug ein selbst gemachtes Plakat, auf das sie mit blutrotem Leuchtstift geschrieben hatte: »DAS ENDE IST NAHE«.
Ich hielt am Straßenrand an und sofort schlug mir die Hitze ins Gesicht. Die knorrige Eiche, die der Kirche Schatten spendete, wimmelte von Heuschrecken, deren schwarz-gelb gepanzerte Rücken im grellen Sonnenlicht glänzten.
»Krieg! Dürre! Pestilenz!« Reverend Blackwell hielt einen Moment lang inne und blickte auf die sterbende Eiche. »Entsetzliche Gräuel und große Zeichen werden am Himmel erscheinen. So sagt es uns der Evangelist Lukas.« Er neigte andächtig das Haupt, dann hob er es wieder, und eine neue Entschlossenheit blitzte in seinen Augen. »Und ich habe einige dieser entsetzlichen Gräuel bereits gesehen!«
Seine Zuhörer nickten zustimmend.
»Ein paar Nächte ist es her, da kam ein Tornado vom Himmel herab wie ein Fingerzeig Gottes! Und er hat uns wahrhaftig berührt, hat den Kern unserer schönen Stadt zermalmt! Eine ehrbare Familie hat ihr Heim verloren. Unsere Stadtbibliothek, in der das Wort Gottes und der Menschen aufbewahrt wurde, ist bis auf die Grundmauern abgebrannt. Glaubt ihr, das war Zufall?«
Wie bitte? Der Reverend verlor ein gutes Wort über die Bibliothek? Das war ja etwas ganz Neues. Ich wünschte, meine Mutter könnte das hören.
»Nein!« Die Leute schüttelten den Kopf und lauschten gefesselt der flammenden Rede.
Der Reverend zeigte auf seine Zuhörer, ließ den Blick über das Meer von Gesichtern schweifen, deutete nacheinander auf sie, als spräche er zu jedem Einzelnen persönlich. »Dann frage ich euch: War es ein bedeutsames Zeichen des Himmels?«
»Amen!«
»Es war ein Zeichen!«, rief jemand.
Reverend Blackwell presste die Bibel gegen seine Brust wie einen Rettungsring. »Der Antichrist ist vor den Toren mit seinem Heer von Dä-hä-monen!« Ich musste unwillkürlich daran denken, wie sich John Breed selbst genannt hatte. Einen Krieger des Teufels. »Und er will uns holen. Werdet ihr gewappnet sein?«
Mrs Lincoln hielt ihr windschiefes Schild in die Höhe und die anderen vornehmen Damen von der TAR taten es ihr demonstrativ nach. »DAS ENDE IST NAHE« stieß mit »KOMM, HEILIGER GEIST« zusammen und riss beinahe »ICH WARTE AUF ERLÖSUNG« von dem Zollstock ab, an den es geklebt war.
»Wenn es sein muss, werde ich den Teufel eigenhändig zurück in die Hölle jagen!«, rief sie. Ich glaubte ihr aufs Wort. Wenn wir es wirklich mit dem Teufel zu tun gehabt hätten, dann hätten wir mit Mrs Lincoln an unserer Spitze vielleicht sogar eine Chance gehabt.
Der Reverend hielt die Bibel über den Kopf. »Die Bi-hi-bel kündigt uns noch weitere Zeichen an. Erdbeben. Die Erwählten werden verfolgt und gequält werden.« Geradezu verzückt schloss er die Augen – eine Geste, die Bände sprach. »›Wenn dies nun zu geschehen beginnt, dann richtet euch auf und hebt eure Häupter empor, denn eure Erlösung naht‹, heißt es bei Lukas 21,28.« Theatralisch senkte er den Kopf, nun da er seine Botschaft verkündet hatte.
Mrs Lincoln konnte nicht länger an sich halten. Sie stürmte zu ihm, ergriff mit einer Hand das Megafon, mit der anderen schwenkte sie ihr Schild. »Die Dämonen kommen und wir müssen bereit sein! Das ist meine Rede schon seit Jahren! Erhebt den Blick und haltet Ausschau nach ihnen. Vielleicht stehen sie schon an eurer Hintertür! Vielleicht wandeln sie schon mitten unter euch!«
Es war zum Lachen. Zum ersten Mal hatte Links Mutter recht. Die Dämonen kamen, aber auf diese Art von Kampf waren die Menschen in Gatlin nicht vorbereitet.
Nicht einmal Amma mit ihren Puppen, die keine Puppen waren, und ihren Tarotkarten, die keine Tarotkarten waren; nicht einmal sie war für diesen Kampf gerüstet. Gegen Abraham und Sarafine mit ihrer Armee von Vexen? Gegen Hunting und sein Blutrudel? Gegen John Breed, der überall und nirgends war?
Seinetwegen war das Ende nahe und seinetwegen wandelten die Dämonen mitten unter uns. Alles geschah nur seinetwegen. Er war an allem schuld.
Ich war mir absolut sicher. Denn wenn es etwas gab, mit dem ich so vertraut war, dass ich es unter meiner Haut prickeln fühlte wie die Heuschrecken, die auf der alten Eiche herumkrabbelten, dann war es Schuld.