1_022_13828_Garcia.tifDie zerbrochene Seele

6.12.

»Ethan!«

Lena schrie und ich fand sie nicht. Ich wollte rennen, fiel aber immer wieder hin, denn der Boden unter meinen Füßen schwankte. Der Gehweg an der Main Street bebte so sehr, dass der Staub mir in die Augen flog. Ich kam mir vor, als stünde ich am Rande zweier tektonischer Platten, von denen beide zuoberst liegen wollten.

Und ich stand da, jeden Fuß auf einer anderen Platte, während die Welt bebte und der Spalt zwischen den beiden Platten immer größer wurde. Der Riss war so breit, dass ich unweigerlich hineinfallen würde. Und er wurde immer breiter.

Es war nur eine Frage der Zeit.

»Ethan!«, hörte ich Lena von irgendwoher rufen.

Ich blickte in den Abgrund – und da sah ich sie, tief unter mir.

Und dann fiel ich …

Ich fiel heftiger als sonst auf den Fußboden und schlug hart mit dem Kopf auf.

Lena!

Ich hörte ihre Stimme, müde und schlaftrunken.

Ich bin da. Es war nur ein Traum.

Ich drehte mich auf den Rücken und versuchte, ruhig zu atmen. Es gelang mir nicht.

Alles okay.

Ich klang nicht sehr überzeugend.

Im Ernst, Ethan? Alles in Ordnung mit deinem Kopf?

Ich nickte, obwohl sie mich ja nicht sehen konnte.

Meinem Kopf geht’s gut. Es sind die tektonischen Erdplatten, die mir Sorgen machen.

Einen Augenblick lang schwieg sie.

Und du machst dir Sorgen um mich.

Ja, L. Um dich auch.

Seit ihrem Siebzehnten Mond hatten wir nicht mehr dieselben Träume. Aber sie wusste, wenn ich aufwachte und ihren Namen rief, dann hatte sie in einem meiner Träume wieder ein gewalttätiges, entsetzliches Ende gefunden.

Wir haben im letzten Sommer so viel durchgemacht, Ethan. Ich erlebe das alles auch immer wieder in meinen Gedanken.

Ich verheimlichte ihr, dass ich es jede Nacht durchlebte und dass diesmal nicht sie es war, die in Gefahr schwebte. So genau wollte sie es bestimmt nicht wissen. Und ich wollte nicht, dass sie wusste, wie sehr es mein Leben bestimmte.

Und es gab noch etwas, das mein Leben bestimmte. Nämlich die Antwort auf die Frage, die Amma mir nicht geben wollte und die ich selbst nicht herausfand.

Aber einer kannte ganz sicher die Antwort, und inzwischen hatte ich genug Mumm, um endlich zu ihm zu gehen. Ich wusste nur noch nicht, ob ich ihn dazu bringen konnte, mir die Antwort zu geben.

Es war pechschwarze Nacht, als ich die Haustür hinter mir zuzog. Lucille saß auf der Veranda und wartete auf mich.

»Hast du vom letzten Mal nicht noch genug von den Tunneln?« Lucille legte den Kopf schief – ihre Standardantwort. »Nein? Dann lass uns gehen.«

Ich hörte ein Zischen. Eigentlich war es eher ein scheußliches Reißen.

Ich drehte mich blitzschnell um. Ein weiterer Besuch von Abraham würde über meine Kräfte gehen. Aber es war nicht Abraham. Ganz im Gegenteil.

Link lag auf dem Rücken und hatte sich im Gebüsch verheddert. »Mann, dabei hab ich dieses Raumwandeln echt geübt.« Er klopfte sich die Erde von der Jeans. »Wohin gehen wir?«

»Woher wusstest du, dass ich irgendwohin gehen will? Hast du in meinen Gedanken gewildert?« Wenn er das gemacht hatte, dann war er ein toter Mann.

»Ich hab dir schon mal gesagt, dass ich nicht vorhabe, mich in diesem Tempel des Verderbens herumzutreiben.« Er strich sein Iron-Maiden-T-Shirt glatt. »Ich brauche keinen Schlaf, das weißt du doch. Ich bin ein bisschen durch die Gegend geschlendert, und da hab ich gehört, wie du dich aus dem Haus geschlichen hast. Eine meiner Superkräfte. Also, wohin gehen wir?«

Ich war mir nicht sicher, ob ich es ihm wirklich sagen sollte. Andererseits wollte ich auch nicht wirklich allein gehen. »Nach New Orleans.«

»Du kennst doch gar niemanden in …« Link schüttelte den Kopf. »Mann, warum müssen es bei dir eigentlich immer Friedhöfe und Grabmäler sein? Können wir nicht mal irgendwohin gehen, wo es nicht von Leichen wimmelt?«

Noch eine Frage, die ich nicht beantworten konnte.

Das Grab der Voodoo-Königin Marie Laveau sah noch genauso aus wie beim letzten Mal. Beim Anblick der in die Tür geschnitzten X-Zeichen fragte ich mich, ob wir selbst ein Kreuz für uns schnitzen sollten, für den Fall, dass wir nicht zurückkämen. Viel Zeit, um darüber nachzudenken, blieb jedoch nicht, denn Link hatte in Sekundenschnelle die Tür geöffnet, und wir waren drinnen.

Und wieder stiegen wir die verfaulten, ausgetretenen Stufen in die Dunkelheit hinab. Und auch der Qualm und der widerliche Gestank, der uns noch anhaften würde, selbst wenn wir uns unter die Dusche gestellt hätten, waren gleich geblieben.

Link hustete. »Lakritze und Benzin. Das ist ekelhaft.«

»Pssst. Sei leise.«

Wir kamen am Fuß der Treppe an, von wo aus man die Werkstatt sehen konnte, oder wie immer man diesen entsetzlichen Ort nennen wollte. Aus dem Inneren drang ein schwacher Lichtschein und fiel auf die Flaschen und Gläser um uns herum. Beim Anblick der Reptilien und der kleinen Mäuse, die verzweifelt zu entfliehen versuchten, bekam ich eine Gänsehaut.

Lucille versteckte sich hinter meinen Beinen, so als hätte sie Angst, ebenfalls in einem dieser Glasgefängnisse zu enden.

»Woher wissen wir, dass er da ist?«, flüsterte Link.

Bevor ich ihm eine Antwort geben konnte, ertönte eine Stimme hinter uns. »Ich bin immer da, auf die eine oder die andere Art.«

Es waren unverkennbar die harsche Stimme und der ausgeprägte Dialekt des Bokors. Aus der Nähe wirkte der Mann sogar noch gefährlicher. Sein Gesicht war faltenlos, aber von Narben entstellt. Sie sahen aus, als stammten sie von Kratz- und Bisswunden, die ihm eine Kreatur beigebracht hatte, die nicht in einem dieser Gläser hauste. In seine langen zotteligen Zöpfe waren kleine Gegenstände eingeflochten. Die Amulette und metallenen Talismane, die kleinen Knöchelchen und Perlen waren so fest eingebunden, dass sie fast eins mit den Haaren geworden waren. Er hielt seinen Schlangenhautstab in der Hand.

»Oh … ähm … Entschuldigung, dass wir einfach so reinplatzen …«, stammelte ich.

»Hat sich die Mutprobe denn gelohnt?« Er packte den Stab fester. »Unbefugtes Betreten ist ein Verstoß gegen das Gesetz. Gegen eures und gegen meines.«

»Es geht nicht um eine Mutprobe.« Meine Stimme zitterte hörbar. »Wir haben Sie gesucht. Ich habe Fragen, und ich glaube, Sie sind der Einzige, der mir darauf antworten kann.«

Der Bokor kniff die Augen zusammen und strich sich über den Spitzbart. Vielleicht hatte ich ihn neugierig gemacht, vielleicht überlegte er aber auch, wie er unsere Leichen beseitigen könnte, nachdem er uns getötet hatte. »Wie kommst du darauf, dass ich die Antwort kenne?«

»Amma. Ich meine Amarie Treadeau. Sie war hier. Und ich muss wissen, warum.« Jetzt hatte ich seine volle Aufmerksamkeit. »Denn ich glaube, sie war meinetwegen hier.«

Er musterte mich genau. »Du bist das also. Interessant, dass du zu mir kommst und nicht zu deiner Seherin gehst.«

»Sie weigert sich, mir etwas zu sagen.«

Er sah mich mit undurchdringlicher Miene an. »Hier entlang«, sagte er schließlich.

Wir folgten ihm in den Raum mit dem Gestank und den Dämpfen und den Relikten des Todes. Link flüsterte: »Hältst du das für eine gute Idee?«

»Ich habe doch einen Inkubus bei mir, was soll also passieren?« Es war ein schlechter Scherz. Aber ich hatte solche Angst, dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte.

»Einen Viertel-Inkubus.« Link holte tief Luft. »Ich hoffe, das reicht.«

Der Bokor stellte sich hinter den Holztisch und Link und ich blieben davor stehen. »Was wisst ihr über meine Angelegenheiten mit der Seherin?«

»Ich weiß, dass sie zu Ihnen gekommen ist, weil sie über das, was die Karten ihr gesagt haben, beunruhigt war.« Ich wollte nicht alles offenlegen. Womöglich würde er sonst herausfinden, dass wir heute nicht zum ersten Mal bei ihm waren. »Ich möchte wissen, was die Karten gesagt haben. Und warum sie Ihre Hilfe brauchte.«

Er sah mich scharf an, als könnte er direkt in mich hineinschauen. Den gleichen Blick hatte Tante Del, wenn sie sich an einem Ort umsah und die verschiedenen Zeitschichten in Gedanken ordnete. »Das sind zwei Fragen, aber nur eine ist wirklich wichtig.«

»Welche denn?«

Seine Augen leuchteten in der Dunkelheit. »Deine Seherin braucht meine Hilfe, um etwas zu tun, was sie selbst nicht tun kann. Sie will das Ti-bon-ange wieder vereinen, die Naht flicken, die sie selbst zerrissen hat.«

Ich hatte keinen blassen Schimmer, wovon er sprach. Welche Nähte sollte Amma zerrissen haben?

Link verstand offenbar genauso wenig. »T-Bone was? Ist hier von Steaks die Rede?«

Der Bokor blickte mir fest in die Augen. »Und du weißt wirklich nicht, was dich erwartet? Es beobachtet uns jetzt.«

Es beobachtet uns jetzt?

»Was … was beobachtet uns?« Ich würgte die Worte hervor. »Und wie werde ich es wieder los?«

Der Bokor ging zu dem Terrarium mit den sich windenden Schlangen und hob den Deckel an. »Das waren schon wieder zwei Fragen. Und ich kann nur eine davon beantworten.«

»Was beobachtet mich?« Meine Stimme zitterte, meine Hände zitterten – alles an mir zitterte.

Der Bokor nahm eine Schlange heraus; sie war schwarz, rot und weiß gemustert. Sie schlang sich um seinen Arm, und der Bokor hielt sie am Kopf fest, als wüsste er, dass sie zuschnappen würde.

»Ich werde es dir zeigen.«

Er führte uns in die Mitte des Raums zu einer großen Säule, die aussah wie eine selbst gemachte Riesenkerze, und der ekelerregende Gestank verstärkte sich noch. Lucille verkroch sich unter einem Tisch in der Nähe, um dem Gestank zu entkommen – oder der Schlange oder dem irren Typen, der irgendetwas, das wie Eierschalen aussah, zu der Schüssel trug, die vor unseren Füßen stand.

»Das Ti-bon-ange muss eins sein. Es darf nie getrennt sein.« Er machte die Augen zu. »Ich werde Kalfu rufen. Wir brauchen die Hilfe eines mächtigen Geists.«

Link stieß mich mit dem Ellbogen an. »Ich weiß nicht, ob mir das gefällt, was hier passiert.«

Mit geschlossenen Augen fing der Bokor an zu sprechen. Ich erkannte Fetzen von Twylas französischem Kreolisch, aber auch eine andere Sprache klang mit, die ich nie zuvor gehört hatte. Er raunte die Worte, als würde er jemandem eindringlich ins Ohr flüstern.

Ich war mir nicht sicher, was uns gleich erwartete, aber sehr viel unheimlicher als Tante Prue außerhalb ihres Körpers oder die Lilum im Körper von Mrs English konnte es nicht sein.

Der Qualm begann sich zu kräuseln und wurde dichter. Ich sah, wie er sich formte und allmählich Gestalt annahm.

Der Bokor stieß die Beschwörungsformeln immer lauter aus.

Der schwarze Rauch wurde grau und aus dem Grau entstand etwas. Ich hatte das schon einmal gesehen, auf dem Bonaventura-Friedhof, als Twyla den Schemen meiner Mutter heraufbeschworen hatte.

Ich starrte wie gebannt auf den Qualm. Die Gestalt wuchs von unten herauf, wie damals meine Mutter. Erst die Füße, dann die Beine.

»Was zum Teufel …« Link wollte einen Schritt zurückweichen, aber er stolperte und fing sich gerade noch.

Dann der Leib und die Arme.

Zuletzt nahm das Gesicht Konturen an.

Die Augen richteten sich auf mich.

Es war ein Gesicht, das ich überall wiedererkannt hätte.

Denn es war mein eigenes.

Ich machte einen Satz zurück und wollte weglaufen.

»Heilige Scheiße!«, rief Link, aber seine Stimme schien weit weg zu sein.

Panik schnürte mir die Luft ab wie zwei Hände, die sich um meinen Hals legten. Dann löste sich der Schemen wieder auf.

Aber ehe er verschwunden war, sagte er: »Ich warte.«

Dann war er weg.

Der Singsang des Bokors endete, die stinkende Kerze erlosch, und alles war vorbei.

»Was war das?«, fragte ich entsetzt. »Wieso gibt es einen Schemen, der so aussieht wie ich?«

Der Bokor ging zum Terrarium zurück und setzte die Schlange wieder zu den anderen hinein. »Er sieht nicht nur aus wie du. Er ist dein Ti-bon-ange. Die andere Hälfte deiner Seele.«

»Was sagen Sie da?«

Der Bokor nahm ein Streichholz und zündete die Kerze erneut an. »Die eine Hälfte deiner Seele ist bei den Lebenden, die andere bei den Toten. Du hast sie zurückgelassen.«

»Wo habe ich sie zurückgelassen?«

»Im Jenseits. Als du gestorben bist.« Er klang beinahe gelangweilt.

Als ich gestorben bin.

Er sprach von der Nacht des Sechzehnten Mondes, als mich Amma und Lena wieder ins Leben zurückgeholt hatten.

»Und wie?«

Der Bokor schlenkerte kurz mit der Hand und das Streichholz erlosch. »Wenn man zu schnell zurückkommt, kann die Seele dabei zerbrechen. Ein Teil der Seele kehrt zu den Lebenden zurück, der andere bleibt im Jenseits. Er ist zwischen dieser Welt und der Anderwelt gefangen und zugleich an die fehlende Hälfte gebunden, bis beide wieder zusammengebracht werden.«

Zerbrochen.

Er musste sich irren. Das würde ja bedeuten, dass ich nur eine halbe Seele hatte. Das war schlichtweg undenkbar.

Wie sollte das möglich sein? Was war mit der anderen Hälfte? Wo …

An die fehlende Hälfte gebunden.

Mit einem Mal wusste ich, was mich die ganze Zeit verfolgte und im Schatten lauerte.

Ich selbst – mein anderes Ich.

Das war der Grund, weshalb ich mich verändert hatte und mit jedem Tag ein bisschen mehr von mir selbst verlor.

Der Grund, weshalb ich plötzlich weder Schokomilch noch Ammas Rühreier mochte. Der Grund, weshalb ich nicht mehr wusste, was in den Schuhschachteln in meinem Zimmer war oder wie meine Telefonnummer lautete. Der Grund, weshalb ich plötzlich Linkshänder war.

Meine Knie wurden weich, und ich merkte, dass ich nach vorne sackte. Ich sah, wie der Fußboden immer näher kam. Eine Hand packte mich am Arm und stellte mich wieder auf die Füße. Link.

»Okay, und wie kriegt man die beiden Hälften wieder zusammen? Gibt es dafür einen Spruch oder so was?«, fragte er ungeduldig. Vermutlich hätte er mich am liebsten über die Schulter geworfen und schleunigst wieder nach Hause verfrachtet.

Der Bokor warf den Kopf in den Nacken und lachte. Als er schließlich sprach, sah er mich an, und sein Blick jagte mir Schauer über den Rücken. »Dazu braucht es mehr als einen Spruch. Deshalb ist deine Seherin zu mir gekommen. Aber mach dir keine Sorgen. Wir haben einen Handel getätigt.«

Ich fühlte mich, als hätte jemand einen Eimer eiskaltes Wasser über mich geschüttet. »Was für einen Handel?«, fragte ich tonlos.

Mir fiel ein, was er zu Amma gesagt hatte, als wir die beiden hier belauscht hatten. Es gibt nur einen Preis dafür.

»Was ist der Preis?«, schrie ich, und meine Stimme schrillte schmerzhaft in meinen Ohren.

Der Bokor hob seinen Schlangenhautstab und richtete ihn auf mich. »Ich habe dir heute Abend mehr Geheimnisse enthüllt, als du erwarten konntest.« Er verzog sein Gesicht zu einem Lächeln, das alles Dunkle und Böse widerspiegelte, das in ihm war.

»Wieso müssen wir nichts zahlen?«, fragte Link.

»Eure Seherin wird genug für alle bezahlen.«

Ich hätte ihn am liebsten noch einmal gefragt, aber ich wusste, dass er mir nichts mehr sagen würde. Und wenn es noch dunklere Geheimnisse als dieses gab, dann wollte ich sie ohnehin nicht wissen.