1_022_13828_Garcia.tifAbblocken und mauern

7.9.

Es hatte eindeutig was, wenn man Händchen haltend mit jemandem, den man wirklich liebte, in die Schule ging. Es war ein seltsames Gefühl – aber kein schlechtes. Von allen seltsamen Gefühlen das beste. Kein Wunder, dass Pärchen immer wie kalte Spaghetti aneinanderklebten. Es gab so viele Möglichkeiten, sich ineinander zu verschlingen. Arme, die um Schultern gelegt, Hände, die in der Hosentasche verschränkt werden. Wir konnten kaum nebeneinanderlaufen, ohne dass unsere Schultern aneinanderstießen, weil unsere beiden Körper sich gegenseitig so anzogen. Und wenn einen dann noch bei jeder dieser leichten Berührungen ein Stromstoß durchfuhr, dann war das schon eine ziemlich krasse Erfahrung.

Obwohl ich eigentlich daran gewöhnt sein müsste, war es immer noch ein merkwürdiges Gefühl, durch die Korridore zu gehen, während alle Lena anstarrten. Sie würde immer das hübscheste Mädchen der ganzen Schule sein, egal welche Augenfarbe sie hatte, und alle wussten das. Sie strahlte einfach etwas ganz Besonderes aus und das hatte nichts mit irgendetwas Übernatürlichem zu tun. Sobald sie auftauchte, glotzten sich sämtliche Jungs die Augen aus, was auch immer sie gemacht hatte oder wie verrückt sie angeblich war.

Und genau das taten die Jungs auch jetzt.

Reg dich nicht auf, Lover Boy.

Lena stieß mich mit der Schulter an.

Ich hatte schon fast vergessen, wie es war, neben ihr zu gehen. Nach ihrem sechzehnten Geburtstag war sie mir von Tag zu Tag fremder geworden, und gegen Ende des Schuljahrs hatte sie sich so von mir zurückgezogen, dass ich ihr in der Schule kaum noch begegnet war. Das war erst wenige Monate her, und jetzt wo wir hier waren, musste ich wieder daran denken.

Ich mag es nicht, wie sie dich anschauen.

Wie schauen sie denn?

Ich blieb stehen und berührte die Stelle unter dem mondförmigen Muttermal auf ihrem Wangenknochen. Ein Schauer durchfuhr uns beide. Ich beugte mich vor und suchte ihren Mund.

Da lang. Lächelnd wich sie zurück und zog mich den Gang entlang. Hab schon kapiert. Aber du irrst dich gewaltig. Schau mal.

Emory Watkins und die anderen aus der Basketballmannschaft beachteten uns kaum, als wir an ihnen vorbeikamen. Emory nickte mir nur kurz zu.

Tut mir leid, dass ich dir das sagen muss, Ethan, aber sie starren nicht mich an.

Ich hörte Link fragen: »Hey, Mädels, werfen wir heute Nachmittag ein paar Körbe?«, und nach einem kurzen Fist Bump ging er weiter. Aber auch er war es nicht, den sie anstarrten.

Ridley kam ein paar Schritte hinter uns her und streifte mit ihren langen pinkfarbenen Fingernägeln über die Spindtüren. Als sie zu Emorys Spind kam, stieß sie die Tür zu.

»Hey, Mädels.« So provozierend, wie sie das Wort aussprach, klang sie immer noch wie eine Sirene.

Emory stotterte etwas und Ridley ließ ihre Fingerspitzen im Vorbeigehen über seine Brust gleiten. Ihr kurzer Rock zeigte mehr von ihren Beinen, als erlaubt war.

»Wie heißt deine Freundin?«, fragte Emory in Links Richtung, ohne die Augen von Ridley zu lassen. Er hatte sie schon gesehen – beim Stop & Steal, als auch ich ihr zum ersten Mal begegnet war, und dann beim Winterball, als sie die Turnhalle in ein Schlachtfeld verwandelt hatte –, aber er wollte mit ihr bekannt gemacht werden, persönlich und aus nächster Nähe.

»Wer will das wissen?« Ridley machte eine Blase mit ihrem Kaugummi und ließ sie platzen.

Link blickte sie von der Seite an und nahm ihre Hand. »Niemand.«

Alle in den Gängen wichen zur Seite, als die ehemalige Sirene und der Viertel-Inkubus die Jackson High in Besitz nahmen. Ich fragte mich, was Amma dazu sagen würde.

Liebstes Jesukind in der Krippe. Der Himmel steh uns bei.

»Spinnst du? In diesem versifften Sarg soll ich meine Sachen aufbewahren?« Ridley starrte in ihren Spind, als würde jeden Augenblick etwas herausspringen.

»Rid, du bist auch früher schon in die Schule gegangen, und da hattest du auch einen Spind«, sagte Lena geduldig.

Ridley schüttelte ihre pink-blonde Mähne. »Muss ich völlig verdrängt haben. Posttraumatischer Stress.«

Lena gab Ridley das Zahlenschloss. »Du musst ihn ja nicht benutzen. Aber du kannst deine Bücher reinlegen, damit du sie nicht den ganzen Tag mit dir herumtragen musst.«

»Bücher?« Ridley blickte angewidert. »Herumtragen?«

Lena seufzte. »Du bekommst sie heute. Im Unterricht. Und, ja, du musst sie mitnehmen. Das solltest du eigentlich wissen.«

Ridley zupfte ihr T-Shirt zurecht, damit sie noch etwas mehr Schulter zeigen konnte. »Bei meinem letzten Gastspiel in der Schule war ich noch eine Sirene. Und ich war eigentlich nie im Unterricht und ganz bestimmt hab ich nichts mit mir herumgeschleppt.«

Link legte ihr die Hand auf die Schulter. »Komm schon. Wir haben jetzt zusammen Einführungsstunde. Ich zeig dir, wie’s geht, und zwar auf Link-Style.«

»Ach ja?«, fragte Ridley skeptisch. »Und was ist das Besondere daran?«

»Tja, es fängt schon mal damit an, dass man bei mir keine Bücher braucht …« Link war ganz versessen darauf, mit ihr zusammen in den Unterricht zu gehen. Er wollte sie keine Sekunde aus den Augen lassen.

»Ridley, warte! Das brauchst du noch.« Lena winkte mit einer Mappe. Ridley achtete nicht auf sie, sondern hakte sich bei Link unter. »Entspann dich, Cousinchen, ich nehme die von Dinkyboy.«

Ich schlug die Spindtür zu. »Deine Großmutter ist eine Optimistin.«

»Meinst du?«

Wie alle anderen auch sah ich Link und Ridley nach, wie sie den Gang entlanggingen. »Ich gebe diesem kleinen Experiment allerhöchstens drei Tage.«

»Drei Tage? Dann bist du der Optimist.« Lena seufzte und wir gingen die Treppe hinauf zum Englischunterricht.

Die Klimaanlage lief auf Hochtouren, ihr klägliches, metallisches Summen hallte durch die Gänge. Aber die uralte Anlage hatte keine Chance gegen diese Hitzewelle. Im Obergeschoss war es sogar noch heißer als draußen auf dem Parkplatz.

Als wir den Unterrichtsraum betraten, blieb ich einen Moment lang unter der Neonröhre stehen, die Lena zur Explosion gebracht hatte, als wir bei unserer ersten Begegnung zusammengestoßen waren. Ich starrte die Quadrate der Deckenverkleidung an.

Hey, wenn man genau hinschaut, dann sieht man noch die Brandflecken rings um die neue Lampe.

Wie romantisch. Der Schauplatz unserer ersten Katastrophe. Lena folgte meinem Blick zur Decke. Ja, ich sehe sie auch.

Ich ließ meinen Blick über die Vierecke mit den gestanzten Löchern schweifen. Wie oft war ich in diesem Klassenzimmer gesessen und hatte zu den Löchern hinaufgestarrt, um nicht einzuschlafen, oder hatte sie gezählt, damit die Zeit schneller verging. Wie oft hatte ich die Minuten bis zum Ende der Schulstunde, die Schulstunden bis zum Ende des Tages gezählt – Tage und Wochen, Wochen und Monate, bis ich endlich aus Gatlin abhauen konnte.

Lena ging an Mrs English vorbei, die fast ganz hinter einem Stapel Unterlagen auf ihrem Pult verschwand, und setzte sich an ihren Platz auf die berüchtigte Seite, auf der Mrs English, die ein Glasauge hatte, gut sah.

Ich wollte ihr schon nachgehen, als ich plötzlich etwas hinter mir wahrnahm. Es war dasselbe Gefühl, das man hat, wenn man in einer Schlange steht und die nachfolgende Person einem viel zu dicht auf den Leib rückt. Ich drehte mich um, aber da war niemand.

Als ich mich an den Tisch neben Lena setzte, schrieb sie bereits in ihr Notizbuch. Ob sie wohl wieder eines ihrer Gedichte aufschrieb? Ich wollte gerade einen verstohlenen Blick wagen, als ich es hörte. Die Stimme war schwach und es war nicht Lenas Stimme. Es war ein leises Flüstern, das von irgendwo hinter mir kam.

Ich drehte mich um. Der Platz hinter mir war leer.

Hast du etwas gesagt, L?

Lena blickte überrascht von ihrem Notizbuch auf.

Wie bitte?

Hast du etwas in Kelting zu mir gesagt? Ich dachte, ich hätte etwas gehört.

Sie schüttelte den Kopf.

Nein. Alles in Ordnung mit dir?

Ich nickte und schlug meinen Schulblock auf. Und da war sie wieder, die Stimme. Diesmal verstand ich, was sie sagte. Die Worte erschienen auf dem Blatt, geschrieben in meiner Handschrift.

Ich warte.

Ich schlug den Block zu und ballte die Fäuste, damit meine Hände nicht zitterten.

Lena sah mich an.

Ist wirklich alles okay?

Ja, mir geht’s gut.

Bis zum Ende der Stunde saß ich da und schaute nicht hoch. Nicht beim Lektüre-Quiz, als ich über The Crucible ausgefragt wurde und nichts wusste. Auch nicht, als Lena sich mit unbewegtem Gesicht an der Diskussion über die Hexenprozesse von Salem beteiligte, die dem Drama von Arthur Miller zugrunde lagen, und nicht einmal, als Emily Asher einen selten dämlichen Vergleich zwischen dem »armen, aber leider von uns gegangenen« Macon Ravenwood und den verblendeten Städtern in dem Theaterstück zog und sich plötzlich ein Quadrat aus der Deckenverkleidung löste und ihr auf den Kopf fiel.

Ich schaute erst wieder hoch, als es klingelte.

Mrs English starrte mich an, und ihr Blick war so irritierend leer, dass ich einen Moment lang dachte, sie hätte zwei Glasaugen und nicht nur eines.

Ich versuchte, mir einzureden, dass heute, am ersten Schultag, jeder ein bisschen daneben sein durfte. Dass vielleicht etwas mit ihrem Kaffee nicht in Ordnung gewesen war.

Aber wir waren hier in Gatlin, deshalb war die Wahrscheinlichkeit, dass ich mich täuschte, ziemlich groß.

Nach der Englischstunde hatten Lena und ich bis zum Nachmittag keinen gemeinsamen Unterricht mehr. Ich hatte Mathe und Lena Physik.

Link – und jetzt auch Ridley – hatte man in Anwendungsbezogenes Rechnen gesteckt, den Kurs, den man belegen musste, wenn klar war, dass man es im Fortgeschrittenen-Mathekurs nicht weit bringen würde. Alle nannten es nur Burger-Mathe, weil man dort bloß lernte, wie man Wechselgeld rausgab. Links gesamter Stundenplan las sich so, als hätten die Lehrer beschlossen, dass er nach seinem Abschluss sowieso bei Ed an der Tankstelle landen würde. Genau genommen war sein Stundenplan eine einzige Freistunde. Ich hatte Biologie, er hatte Musik für Muskelpakete, ich hatte Weltgeschichte, er hatte KSS – Kultur der Südstaaten oder »Knutschen mit Savannah Snow« wie Großmaul Link es nannte. Im Vergleich zu ihm kam ich mir vor wie ein Spitzenforscher. Aber ihn schien das nicht zu stören, und wenn doch, dann fiel es nicht auf, weil ihn andauernd Mädchen umschwärmten.

Um ehrlich zu sein, mir war es egal, ich wollte einfach nur in das vertraute Chaos des ersten Schultags eintauchen, damit ich die verrückte Botschaft auf meinem Schulblock vergessen konnte.

Ich glaube, es gibt nichts Besseres als einen beschissenen Sommer voller Nahtod-Erfahrungen, um den ersten Schultag als ein großartiges Ereignis zu empfinden. Das dachte ich allerdings nur, bis ich in die Cafeteria kam und mir klar wurde, dass es Sloppy Joes gab. Natürlich. Nichts war typischer für den ersten Schultag als ein Hamburger mit Hackfleischsoße.

Ich entdeckte Lena und Ridley sofort. Sie saßen allein an einem der orangefarbenen Tische und die Jungs umkreisten sie wie hungrige Geier. Inzwischen gab es niemanden mehr, der nicht schon von Ridley gehört hatte, und alle wollten einen Blick auf sie werfen.

»Wo ist Link?«

Ridley deutete mit einer knappen Kopfbewegung in eine Ecke der Cafeteria, wo Link von Tisch zu Tisch ging wie ein gefeierter Champion. Auf Ridleys Tablett türmten sich Schokoladenpudding, rote Götterspeise und scheibenweise trockener Napfkuchen. »Hungrig, Rid?«

»Was soll ich sagen, Boyfriend? Mädchen sind Naschkatzen.« Sie nahm eine Schale Pudding und schaufelte ihn in sich hinein.

»Ärger sie nicht. Sie hat einen schlechten Tag«, sagte Lena.

»Ach ja? Was ist passiert?« Ich biss in meinen ersten matschigen Hamburger des Schuljahrs.

Lena warf einen vielsagenden Blick zu einem der Tische. »Das ist passiert.«

Link hatte einen Fuß auf einen Stuhl gestellt, sich über den Tisch gebeugt und unterhielt sich mit den Cheerleadern, wobei seine besondere Aufmerksamkeit der Teamchefin galt.

»Ach, das hat nichts zu bedeuten. So ist er halt. Du brauchst dir keine Gedanken zu machen, Rid.«

»Warum sollte ich mir denn Gedanken machen?«, fauchte sie. »Nichts interessiert mich weniger.« Als ich auf ihr Tablett blickte, sah ich, dass sie schon vier Schalen Pudding verputzt hatte. »Morgen tauche ich hier sowieso nicht mehr auf. Diese Schule ist der totale Schwachsinn. Man läuft von einem Klassenzimmer ins nächste wie eine Herde Schafe oder Kühe oder wie …«

»Wie eine Schule?« Ich konnte es mir nicht verkneifen.

Ridley verdrehte die Augen, entnervt, dass ich anscheinend überhaupt nichts kapierte. »Wenn schon, dann wie Schüler.«

»Ich habe von Fischen geredet. Einen Schwarm Fische nennt man auch Schule. Wenn du in die Schule gegangen wärst, dann wüsstest du das.« Ich ging in Deckung, um ihrem Löffel auszuweichen.

»Das ist doch nicht der Punkt.« Lena warf mir einen warnenden Blick zu.

»Nein, der Punkt ist, dass du eine Solokünstlerin bist, die sich in Herden nicht wohlfühlt«, sagte ich und versuchte, mitfühlend zu klingen. Ridley widmete sich ihrem nächsten Pudding mit bewundernswertem Zuckerfanatismus, ließ dabei jedoch kein Auge von Link.

»Sich an jemanden ranzuschmeißen, ist erniedrigend. Es ist erbärmlich. Es ist …«

»Sterblich?«

»Genau.« Sie schüttelte sich und fiel dann über die Götterspeise her.

Ein paar Minuten später hatte sich Link bis an unseren Tisch vorgearbeitet. Er ließ sich neben Ridley auf die Tischkante fallen – und die gegenüberliegende Seite des Tisches, an der Lena und ich saßen, kippte hoch. Mit meinen einsachtundachtzig war ich einer der Größten an der Jackson High, aber inzwischen fehlten Link nur noch ein paar Zentimeter, um mit mir gleichzuziehen.

»Hey, Mann. Immer mit der Ruhe.«

Link schaltete brav einen Gang runter und unsere Seite des Tisches knallte wieder aufs Linoleum. Alle schauten zu uns herüber. »Sorry. Das vergesse ich andauernd. Bin grad mitten in meiner Verwandlung. Mr Ravenwood hat gesagt, das ist ’ne harte Zeit, bis man sich zurechtgefunden hat.«

Lena versetzte mir einen Tritt unter dem Tisch und verbiss sich das Lachen.

Ridley war weniger feinfühlig. »Ich glaube, von dem süßen Zeug hier wird mir schlecht. Moment mal, hab ich süßes Zeug gesagt? Ich meinte natürlich Schleim.« Sie starrte Link an. »Und wenn ich Schleim sage, dann meine ich dich.«

Link lächelte. Das war Ridley in Höchstform. »Dein Onkel hat mir schon prophezeit, dass niemand mich verstehen würde.«

»Ja, ich wette, es ist wirklich schwer, plötzlich Hulk zu sein.« Es sollte ein Spaß sein, aber ich lag nicht weit daneben.

»Das ist echt nicht witzig, Mann. Ich kann keine fünf Minuten dasitzen, und schon klatschen mir die Leute ihr Essen auf den Tisch und erwarten, dass ich es aufesse.«

»Kein Wunder, du hattest bisher den Ruf eines wandelnden Abfalleimers.«

»Wenn ich wollte, könnte ich ja immer noch essen«, sagte er leicht angewidert. »Aber das Essen schmeckt nach gar nichts. Ich könnte genauso gut auf Pappe herumkauen. Ich mache gerade die Macon-Ravenwood-Diät. Du weißt schon, einen Happen Traum hier, einen Happen Traum da.«

»Wessen Träume genau?« Wenn Link die Frechheit besaß und meine Träume anzapfte, dann verdiente er einen Tritt in den Arsch. Meine Träume waren auch ohne ihn schon verwirrend genug.

»Deine jedenfalls nicht. Du hast zu viel Quatsch im Kopf. Nicht zu fassen, was Savannah so alles träumt. Nur so viel: Sie träumt nicht von den Landesmeisterschaften.«

Keiner wollte Einzelheiten hören, am allerwenigsten Ridley, die in ihrer Götterspeise herumstocherte. Sie tat mir leid, daher sagte ich schnell: »Danke, aber wir verzichten gern auf deine Schilderung.«

»Aber das ist cool. Ihr glaubt nicht, was ich gesehen habe.« Falls er jetzt irgendetwas von Savannah in Unterwäsche erzählte, dann wäre er ein toter Mann.

Lena dachte das Gleiche. »Link, ich glaube nicht …«

»Puppen.«

»Wie?« Das war nicht die Antwort, die Lena erwartet hatte.

»Barbies. Aber nicht solche, mit denen Mädchen in der Grundschule spielen oder so. Ihre Puppen sind richtig schick. Sie hat eine Braut, eine Miss Amerika und Schneewittchen. Die stehen alle in einem großen Glasschrank.«

»Sag ich doch, sie hat mich schon immer an Barbie erinnert«, sagte Ridley und traktierte ihre Götterspeise.

Link rutschte dichter an sie heran. »Bin ich noch immer Luft für dich?«

»Luft wäre noch zu viel.« Ridley starrte auf den wabbelnden roten Haufen. »Ich glaube nicht, dass die Küche in Ravenwood so was schon jemals zubereitet hat. Wie heißt das Zeug noch mal?«

»Wackel-Wunder«, grinste Link.

»Und wo ist da das Wunder?« Ridley musterte die rote Gelatine genauer.

»In den Zutaten.« Link schnippte mit dem Finger dagegen und Ridley zog den Teller schnell weg.

»Und die wären?«

»Gemahlene Hufe, Haut und Knochen. Wunder über Wunder.«

Ridley blickte ihn achselzuckend an und steckte sich den nächsten Löffel in den Mund. Sie würde ihn so lange abblitzen lassen, wie er nachts in Savannahs Schlafzimmer herumschlich und tagsüber mit ihr flirtete.

Link sah mich an. »Lust, nach der Schule ein paar Körbe zu werfen?«

»Nein.« Ich stopfte mir den Rest des Hamburgers in den Mund.

»Ich kann nicht glauben, dass du so etwas isst. Du kannst das Zeug doch sonst nicht ausstehen.«

»Stimmt. Aber heute sind sie richtig gut.« Das war etwas ganz Neues an der Jackson High. Vielleicht war wirklich das Ende aller Tage nahe, wenn es mir bei Amma nicht mehr schmeckte, dafür aber in der Cafeteria.

Wenn du Lust hast, dann kannst du ruhig Basketball spielen.

Es war ein Angebot von Lena, so wie es auch von Link ein Angebot gewesen war. Das Angebot, mit meinen früheren Freunden Frieden zu schließen und nicht mehr der Außenseiter zu sein. Aber dazu war es zu spät. Freunde halten zu dir, wenn es dir schlecht geht, und inzwischen wusste ich, wer meine wahren Freunde waren. Und wer nicht.

Ich habe aber keine Lust.

»Komm schon, das wird cool. Der ganze Quatsch mit den Jungs ist Schnee von gestern. Das ist längst Geschichte.« Link glaubte allen Ernstes, was er da sagte. Aber es war schwer, den »ganzen Quatsch« zu vergessen, besonders wenn er darin bestanden hatte, Lena ein Jahr lang zu schikanieren.

»Ja klar, die Leute hier stehen nicht so auf Geschichte.«

Selbst Link bemerkte meinen Sarkasmus. »Tja, ich bin jedenfalls später auf dem Platz.« Er sah mich nicht an. »Vielleicht spiele ich auch wieder in der Mannschaft. Ich meine, ich hab ja eigentlich gar nicht aufgehört.«

Im Gegensatz zu dir. Aber das verkniff er sich.

»Ziemlich heiß hier.« Mir lief der Schweiß den Rücken runter. Es waren eindeutig zu viele Leute im Raum.

Alles in Ordnung mit dir?

Ja. Nein. Ich brauche frische Luft.

Ich stand auf und wollte gehen, aber irgendwie war die Tür meilenweit von mir entfernt. Diese Schule schaffte es, dass man sich armselig vorkam. Genauso armselig wie die Schule selbst, vielleicht noch armseliger. Manches änderte sich einfach nie.

Wie sich herausstellte, hatte Ridley weder Lust, sich mit der Kultur der Südstaaten zu beschäftigen, noch zuzusehen, wie Link Savannah Snow anstarrte. Fünf Minuten nachdem der Unterricht begonnen hatte, überredete sie ihn, zu Weltgeschichte zu wechseln. Das wäre nicht weiter bemerkenswert gewesen, aber wenn man seinen Kurs tauschen wollte, dann musste man in der Regel zu Miss Hester, ihr etwas vorschwindeln oder sie anbetteln und, falls das nicht half, in Tränen ausbrechen. Deshalb kam es mir ziemlich verdächtig vor, als Link und Ridley in Weltgeschichte auftauchten und behaupteten, ihr Stundenplan hätte sich auf wundersame Weise geändert.

»Was soll das heißen, er hat sich geändert?«

Link warf sein Heft auf die Bank neben mich und zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Kaum hatte sich Savannah neben mich gesetzt, kam Ridley und setzte sich auf die andere Seite, und das Nächste, was ich weiß, ist, dass Weltgeschichte auf meinem Stundenplan stand. Und bei Ridley auch. Sie hat es dem Lehrer gezeigt und der hat uns rausgeworfen.«

»Wie hast du das geschafft?«, fragte ich Ridley, als sie sich auf ihren Stuhl setzte.

»Was geschafft?« Sie blickte mich an wie ein Unschuldsengel und spielte mit der Schließe ihres Skorpiongürtels.

Aber Lena ließ nicht so schnell locker. »Du weißt genau, was er meint. Hast du heimlich ein Buch aus Onkel Macons Arbeitszimmer genommen?«

»Unterstellst du mir jetzt ernsthaft, dass ich lese?«

Lena senkte die Stimme. »Probierst du Caster-Sprüche aus? Das ist gefährlich, Ridley.«

»Du meinst gefährlich für mich, weil ich eine dumme Sterbliche bin.«

»Caster-Sprüche sind für alle Sterblichen gefährlich, es sei denn, man übt jahrelang wie Marian. Aber das hast du nicht.« Lena wollte nicht noch Salz in die Wunde streuen, aber jedes Mal wenn sie das Wort »Sterbliche« in den Mund nahm, zuckte Ridley zusammen. Es war, als würde man Benzin ins Feuer gießen.

Vielleicht war es besonders unerträglich, die bittere Wahrheit ausgerechnet aus dem Mund einer Caster zu hören. »Lena hat recht«, mischte ich mich ein. »Wer weiß, was da alles passieren kann.«

Ridley erwiderte nichts, und einen Augenblick lang dachte ich, das Thema wäre damit erledigt. Aber als sie mich anblickte, funkelten ihre blauen Augen so wütend, wie es ihre gelben nie getan hatten. Da war mir klar, dass ich mich geirrt hatte.

»Ich kann mich nicht erinnern, dass sich irgendjemand beklagt hat, als du zusammen mit deiner kleinen britischen Nachwuchs-Marian an der Weltenschranke mit Caster-Sprüchen rumgepfuscht hast.«

Lena wurde rot und schaute weg.

Ridley hatte recht. Liv und ich hatten an der Weltenschranke Caster-Sprüche angewandt und auf diese Weise Macon aus dem Bogenlicht befreit. Aber das war auch der Grund, weshalb Liv niemals eine Hüterin werden konnte. Und es erinnerte mich schmerzlich daran, dass Lena und ich uns damals so fremd gewesen waren, wie sich zwei Menschen nur fremd sein können.

Ich schwieg und kämpfte mit meinen Gedanken, die laut und wirr in meinem Kopf tobten, während uns Mr Littleton davon zu überzeugen versuchte, wie spannend das Fach Weltgeschichte werden würde. Vergeblich. Ich überlegte fieberhaft, was ich sagen und wie ich mich aus dieser vertrackten Situation herauswinden konnte. Ebenfalls vergeblich.

Denn obwohl sie nicht auf die Jackson High ging, sondern den ganzen Tag mit Macon in den Tunneln verbrachte, war Liv ein heikles Thema zwischen Lena und mir. Ein Thema, über das wir nicht sprachen. Seit der Nacht des Siebzehnten Mondes hatte ich Liv nur einmal gesehen und sie fehlte mir. Aber das konnte ich niemandem sagen.

Mir fehlte ihr verrückter britischer Akzent und die Art, wie sie »Carolina« immer falsch betonte, sodass es sich wie »Carolin-er« anhörte. Mir fehlte ihr Selenometer, das aussah wie eine riesige Retro-Plastikarmbanduhr, und auch, wie sie immer in ihr kleines rotes Notizbuch schrieb. Mir fehlte es, mit ihr herumzualbern, und mir fehlten ihre Spötteleien. Mir fehlte meine gute Freundin.

Das Traurige daran war: Sie hätte mich womöglich sogar verstanden.

Aber ich konnte es ihr nicht sagen.