Das Urteil
13.12.
Ein paar Stunden später. Lena rüttelte mich.
Wach auf. Du musst aufwachen, Ethan …
Ich fuhr hoch. »Ich bin wach!« Aber dann schaute ich mich verwundert um, denn nicht Lena hatte mich wachgerüttelt, sondern Liv. Dabei hatte ich sogar noch das Echo von Lenas Stimme im Ohr.
»Ethan, ich bin’s. Bitte – du musst aufwachen.«
Ich blickte sie aus halb geschlossenen Augen an. »Träume ich?«
Liv runzelte die Stirn. »Ich fürchte, nein. Das ist leider die Wirklichkeit.«
Ich fuhr mir verwirrt mit der Hand durchs Haar. Draußen war es noch stockdunkel, und ich konnte mich nicht daran erinnern, was ich geträumt hatte. Ich konnte mich nur an Lenas Stimme erinnern und das nagende Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. »Was ist los?«
»Es geht um Marian. Sie ist verschwunden. Komm mit.«
Nach und nach kam ich in der Realität an. Ich war in meinem Zimmer. Liv war in meinem Zimmer. Ich träumte nicht. Und das hieß …
»Moment mal. Wie bist du überhaupt hier reingekommen?«
Liv machte ein betretenes Gesicht. »Per Anhalter.« Sie zeigte auf den Skorpiongürtel, den sie umgebunden hatte, und warf einen Blick zurück.
John saß in der Zimmerecke.
Na toll.
Er hob meine Jeans vom Boden auf und warf sie mir zu. »Beeil dich, Pfadfinder.« Für jemanden, der keinen Schlaf brauchte, war er mitten in der Nacht ebenfalls ziemlich mies gelaunt.
Liv wurde rot, drehte sich um und ein paar Sekunden später hörte ich das vertraute Zischen. Nur diesmal war ich derjenige, der sich zum ersten Mal in seinem Leben entmaterialisierte.
»Wo sind wir?«
Niemand gab mir eine Antwort. Dann hörte ich Johns Stimme in der Dunkelheit. »Keine Ahnung.«
»Musst du nicht vorher wissen, wo du hinzischen willst? Oder wie läuft das ab?«, fragte ich.
»Nennt man bei den Sterblichen so das Raumwandeln? Wirklich pfiffig.« Er klang sauer, aber daran hatte ich mich inzwischen gewöhnt. »So ähnlich läuft es ab. Normalerweise.«
Vor mir bewegten sich Schatten, und ich rieb mir die Augen, um in der Dunkelheit irgendetwas zu erkennen. Ich streckte die Hände aus, aber sie ertasteten nichts.
»Was meinst du mit normalerweise?«
»Ich bin dem Signal gefolgt.«
»Welchem Signal?«
Meine Augen gewöhnten sich allmählich nach der Dunkelheit des Raumwandelns an die Dunkelheit des Ortes, an dem wir jetzt waren. Als sich die vagen Schatten vom Schwarz ins Grau lichteten, bemerkte ich, dass wir in einem winzig kleinen Raum eingepfercht waren.
Liv blickte John an. »Eine Ad Auxilium Concitatio. Ein sehr alter Spruch, mit dem man einen Zielort bestimmen kann, eine Art S.O.S. für Caster. Eigentlich können ihn nur Cypher wahrnehmen.«
John zuckte mit den Schultern. »Ich hab mal mit einem Cypher im Exil abgehangen, zusammen mit Rid und …« Er beendete den Satz nicht, aber wir alle wussten, von wem er sprach. »Ich habe wohl einige Fähigkeiten von ihm aufgeschnappt.«
Ich schüttelte den Kopf. Cypher? Es gab so viel in Lenas Welt, was ich wohl nie verstehen würde, egal wie sehr ich mich bemühte.
»Du bist ganz gut zu gebrauchen«, knurrte ich widerstrebend.
»Wer hat das Signal gesendet?«
»Das war ich.«
Ich fuhr herum. Lena stand hinter uns in der Dunkelheit. Ich konnte zwar kaum ihr Gesicht erkennen, aber ihr grünes und ihr goldenes Auge leuchteten. Sie sah John an. »Ich habe gehofft, dass du es auffangen würdest.«
»Schön, dass ich wenigstens einmal von Nutzen sein konnte.«
»Die Hohe Wacht klagt Marian an. Die Verhandlung ist gerade im Gange«, sagte Lena. »Onkel Macon ist Marian gefolgt, aber ich durfte nicht mitkommen. Er meinte, es sei zu gefährlich.«
Marian stand vor Gericht. Es war wirklich so gekommen, wie ich es befürchtet hatte, seit Liv und ich auf die Temporis Porta gestoßen waren.
»Mach dir keine Sorgen.« Liv gab sich Mühe, zuversichtlich zu klingen. »Ich bin überzeugt, sie ist wohlauf. Das Ganze ist meine Schuld, nicht ihre. Das wird auch der Rat früher oder später einsehen müssen.«
John hielt die Hand hoch. »Ignis.« Eine warme gelbe Flamme züngelte aus der Mitte seiner Handfläche.
»Neuer Partytrick?«, fragte ich.
Er zuckte mit den Schultern. »Feuer war nie wirklich mein Ding. Schätze, ich hab es aufgeschnappt, als ich mit Lena zusammen war.« Normalerweise hätte ich ihm dafür eine reingehauen. Jedenfalls hätte ich mir gewünscht, das zu tun.
Lena nahm meine Hand. »Heute kann ich nicht mal eine Kerze anzünden, ohne gleich alles in Brand zu setzen.«
Es wurde hell im Raum, und ich hatte keine Zeit mehr, ihm eine reinzuhauen, denn jetzt wusste ich ganz genau, wo wir waren. Zum zweiten Mal.
Ich stand auf der anderen Seite der Tür unseres Vorratskellers. Zehn Fuß unter unserer Küche, bei mir zu Hause.
Ich nahm die alte Laterne und machte mich auf den Weg durch den baufälligen unterirdischen Gang zu der Tür in der Decke, die schon lange niemand mehr geöffnet hatte, und dorthin, wo die uralten Pforten mich erwarteten.
»Warte! Du weißt nicht, wo dieser Tunnel endet«, rief mir John hinterher.
»Schon gut«, hörte ich Liv sagen. »Er kennt sich aus.«
Als ich endlich vor der Temporis Porta stand, hämmerte ich gegen die Tür. Aber diesmal öffnete sie sich nicht. Splitter bohrten sich in meine Haut, aber ich hörte nicht auf, gegen das schwere Holz zu schlagen.
Doch egal was ich tat, es rührte sich nichts.
Ich lehnte mich mit dem Gesicht an das Holz. »Tante Marian, ich bin da! Ich komme!«
Ethan, sie kann dich nicht hören.
Ich weiß, L.
John schob mich zur Seite und strich mit der Hand über die Tür, zog sie aber blitzschnell wieder weg, als hätte er sich an dem Holz verbrannt. »Die ist mit einem ziemlich heftigen Bannfluch belegt.«
Liv untersuchte seine Hand, aber es war nicht die kleinste Verletzung darauf zu sehen. »Ich fürchte, wir können nichts tun, um die Tür zu öffnen, wenn sie nicht von selbst aufgehen will.« Sie dachte offenbar daran, wie sich die Tür beim letzten Mal von sich aus geöffnet hatte – für mich. Aber diesmal blieb sie verschlossen.
Liv überprüfte die Stellen der Tür, wo die geschnitzten Zeichen am deutlichsten zu erkennen waren.
»Es muss irgendeine Möglichkeit geben, wie wir da reinkommen.« Ich warf mich gegen das massive Holz. Nichts. »Wir müssen uns etwas einfallen lassen. Wer weiß, was sie mit Marian anstellen.«
Liv blickte weg. »Ich kann es mir lebhaft vorstellen. Aber wir können ihr nur helfen, wenn wir die Tür aufkriegen. Lasst mich mal kurz nachschauen.« Sie zog ihr rotes Notizbuch aus ihrem verschlissenen Lederrucksack. »Seit wir sie beim ersten Mal entdeckt haben, versuche ich herauszufinden, was diese Zeichen bedeuten.«
Lena warf mir einen erstaunten Blick zu. »Beim ersten Mal?«
»Hat es dir Ethan nicht gesagt?«, erwiderte Liv, ohne hochzuschauen. »Er hat die Tür vor ein paar Wochen entdeckt. Er konnte damals hindurchgehen, ich aber nicht. Er wollte mir allerdings nicht erzählen, was er auf der anderen Seite gesehen hat. Aber seither beschäftige ich mich mit der Tür.«
»Vor ein paar Wochen?«
»Das genaue Datum weiß ich nicht mehr«, sagte Liv.
Ethan?
Ich kann es dir erklären. Ich wollte es dir an dem Abend im Kino erzählen, aber du warst schon so sauer, weil ich Liv zu Savannahs Party eingeladen hatte.
Geheimtüren? Mit deiner Geheimfreundin? Und hinter der Tür geheime Entdeckungen? Wieso sollte ich da sauer sein?
Ich hätte es dir sagen müssen. Wegen Liv machst du dir ja längst keine Gedanken mehr.
Aber so leicht kam ich nicht davon. Ich versuchte, Lena nicht anzuschauen, und blickte stattdessen angestrengt auf eine Seite mit Skizzen in Livs rotem Notizbuch.
Liv hielt die Seite neben die Zeichen, die in die Tür geschnitzt waren, und verglich sie sorgfältig miteinander. »Seht ihr, wie sich die Muster in allen drei Kreisen wiederholen?«
»Das Rad«, sagte ich automatisch. »Das ist das Rad des Schicksals, hast du gesagt.«
»Ja, aber vielleicht ist es nicht nur das Rad des Schicksals. Ich vermute, jedes Rad steht für einen der drei Bewahrer. Also für den Rat der Hohen Wacht. Ich habe alles gelesen, was ich über sie finden konnte, was leider nicht allzu viel war. Soweit ich das beurteilen kann, handelt es sich tatsächlich um die drei Obersten Bewahrer.«
Ich dachte darüber nach. »Das klingt logisch. Als ich damals durch diese Tür gegangen bin, war ich plötzlich bei der Hohen Wacht.«
John sah mich fragend an. »Sprecht ihr von diesen drei Verrückten, die Liv mitnehmen wollten?«
Ich nickte. »Und Marian.« Er schien sich mehr um Liv als um Marian zu sorgen, was mich nicht überraschte, aber trotzdem wütend machte. Wie so ungefähr alles, was er sagte.
Liv beachtete uns beide nicht, sie zeigte auf den ersten Kreis, der die wenigsten Speichen hatte. »Ich glaube, der hier steht für das, was im Augenblick passiert, also für die Gegenwart. Und dieser«, sie deutete auf den zweiten Kreis, in dem sich mehr Speichen kreuzten, »steht für das, was gewesen ist. Die Vergangenheit.«
»Und was ist mit dem?« John zeigte auf den Kreis ohne jede Speiche.
»Er symbolisiert das, was niemals sein wird oder was immer sein wird.« Liv zeichnete mit dem Finger die Umrisse nach. »Mit anderen Worten: die Zukunft.«
»Wenn die drei Zeichen die drei Bewahrer symbolisieren, welches steht dann für wen?«, fragte ich.
Lena betrachtete den Kreis mit den meisten Speichen. »Ich glaube, der bullige Typ verkörpert die Vergangenheit. Er hat ein leeres Stundenglas mit sich herumgeschleppt, als wir ihn im Archiv gesehen haben.«
Liv nickte. »Da stimme ich dir zu.«
Ich streckte die Hand aus und berührte die Kreise. Sie waren hart und kalt und fühlten sich ganz anders an als das restliche Holz. Dann deutete ich auf den leeren Kreis, in dem sich keine Speichen befanden. »Die Frau, die wie ein Albino aussah. Sie ist das, was noch nicht geschehen ist, stimmt’s? Die Zukunft. Denn sie ist nichts. Ich meine, sie ist so gut wie unsichtbar.«
Liv berührte das Rad mit den wenigen Speichen. »Dann verkörpert der Große die Gegenwart.«
Das Licht der Laterne flackerte. John sah frustriert aus. »Das ist doch alles ein großer Haufen Mist. Was wird sein? Was wird nicht sein? Worüber redet ihr überhaupt?«
»Was sein wird und was nicht sein wird, ist sowohl möglich als auch nicht möglich«, erklärte ihm Liv. »Ich denke, man könnte es als das Nichtsein von Geschichte bezeichnen, den Ort, den die Caster-Chroniken nicht beschreiben können. Man kann keine Geschichte erzählen oder etwas aufzeichnen, was noch gar nicht geschehen ist. Grundlagenwissen für jeden Hüter.« Liv sagte das in so schwärmerischem Ton, dass ich mich fragte, was sie von den Caster-Chroniken wusste.
»Was sind denn die Caster-Chroniken?« John wechselte die Laterne von einer Hand in die andere.
»Ein Buch«, sagte Lena, ohne den Blick von der Tür zu wenden. »Die Bewahrer hatten es bei sich, als sie Marian aufgesucht haben.«
»Wie auch immer.« John war gelangweilt. »Wenn ihr also über die Zukunft redet, warum nennt ihr sie dann nicht einfach so?«
Liv nickte. »Weil wir nicht nur die Zukunft der Sterblichen meinen. Wir reden von allem, was unbekannt ist, für Caster und für Sterbliche. Und über das unbekannte Reich – den Ort, an dem die Welt der Dämonen unsere Welt berührt.«
»Die Welt der Dämonen?« Es fiel mir siedend heiß ein. Ich musste es Liv sagen. »Ich kenne den Ort, an dem die Welt der Dämonen unsere berührt. Besser gesagt, ich kenne sie. Die Lilum. Die Königin der Dämonen.«
Liv wurde blass, aber vor allem John wirkte völlig schockiert. »Wovon redest du?«
»Von der Lilum …«
»Hier ist keine Lilum.« Liv schüttelte den Kopf. »Die bloße Anwesenheit einer Lilum in unserer Welt würde die völlige Vernichtung zur Folge haben.«
»Warum das denn?«, fragte ich.
»Hast du damals etwa von ihr gesprochen? Ist sie diejenige, die dir vom Achtzehnten Mond erzählt hat? War es die Lilum? Die Demon Queen?« Mein Blick verriet Liv, dass sie recht hatte.
»Großartig«, murmelte John.
Liv war außer sich. »Wo ist dieser Ort, Ethan?« Sie schloss die Augen, deshalb dachte ich, sie wüsste schon, was ich jetzt sagen würde.
»Ich bin mir nicht sicher. Aber ich finde ihn. Ich bin der Lotse. Die Lilum hat es gesagt.« Ich berührte die Kreise, tastete sie von Neuem ab und spürte das rohe Holz unter den Fingern.
Die Vergangenheit. Die Gegenwart. Das Zukünftige, das geschehen wird, und das Zukünftige, das nicht geschehen wird.
Der Weg.
Das Holz begann, unter meinen Händen zu vibrieren. Ich berührte die geschnitzten Kreise ein weiteres Mal.
Liv verlor jede Farbe im Gesicht. »Das hat die Lilum zu dir gesagt?«
Ich öffnete die Augen wieder und plötzlich stand alles klar und deutlich vor mir. »Wenn ihr die Tür anschaut, dann seht ihr eine Tür, richtig?«
Liv nickte.
Ich blickte sie an. »Und ich sehe einen Pfad.«
Genau so war es. Denn die Temporis Porta öffnete sich für mich. Aus dem Holz wurde ein Nebel und ich konnte meine Hand hindurchstecken. Dahinter war ein Weg, der in die Ferne führte. »Kommt.«
»Wo gehst du hin?« Liv hielt mich am Arm fest.
»Marian und Macon suchen.« Diesmal nahm ich Lena und Liv an der Hand, ehe ich durch die Tür ging, und Liv nahm Johns Hand.
»Haltet euch fest.« Ich holte tief Luft und tauchte durch den Nebel …