8. Kapitel

Okes Mitarbeiter hatten ganze Arbeit geleistet. Im Restaurant waren die meisten Tische an die Wände geschoben worden, im hinteren Teil des Raumes befand sich jetzt vor der Fensterfront zum Meer eine Tanzfläche aus Dielenbrettern, und überall lagen mit Styropor gefüllte, riesige Sitzkissen, die aussahen, als könnte man auf ihnen problemlos die Nacht verbringen. Was einige Gäste zweifellos vorhatten. An der Wandseite sorgten Ethanol-Kamine, die wie brennende Baumstämme aussahen, für eine gemütliche Atmosphäre, Kerzen in hohen Leuchtern tauchten den Raum in angenehmes Licht. Von der Geschäftigkeit des gestrigen Abends war nichts mehr zu spüren. Stattdessen vorweihnachtliche Besinnlichkeit und zur Begrüßung eine entspannte Stimmung, untermalt von der Lounge-Musik des DJs, der am Ende des Saals seine Anlage aufgebaut hatte. Ein Blick durch die Fenster zur Küche auf das Gewusel von weißen Kochjacken zwischen Edelstahlschränken und langen Kochfeldern ließ mich erahnen, dass heute Schwerstarbeit geleistet werden würde.

Ich hatte es mir mit einem Glas Champagner auf einem der Sitzsäcke gemütlich gemacht, obwohl das Hinsetzen und Aufstehen aus diesen Dingern nur auf sehr unelegante Art zu bewältigen war. Erst recht, wenn man wie ich einen engen kurzen Rock trug. Wahrscheinlich hatte ein Mann diese Dinger designt, der so hässlich war, dass er sonst nie die Chance bekommen hätte, mal unter irgendeinen Rock zu glotzen. Aber ich hatte Elissa nicht enttäuschen wollen und deshalb einen schwarzen Ledermini zu silbrig glänzenden Strümpfen und Overknee-Stiefeln angezogen und mir, in Erwartung einer gut temperierten Party-Location, das neue ärmellose Paillettentop übergestreift. Ich fühlte mich so sexy wie schon lange nicht mehr.

Elissa hatte anerkennend gelächelt und einen Daumen hochgestreckt, als ich aus dem Fahrstuhl gestiegen war. Links und rechts flankiert von bildschönen jungen Mädchen mit Tabletts voller Getränke, stand sie zusammen mit Oke als Begrüßungskomitee am Eingang des Restaurants. Als sie mich umarmte, raunte sie mir ins Ohr: «Du siehst ja hammermäßig aus, lass dich bloß nicht abschleppen.» Und grinste dann vielsagend.

Wenn mich nicht alles täuschte, hatte auch der junge Koch beim Anblick meines Outfits anerkennend die Augenbrauen hochgezogen, bevor er ein knappes «Moin» von sich gab.

Von meinem Platz aus konnte ich nicht nur meine Freundin und den Koch beobachten, sondern auch genau verfolgen, welche Gäste eintrafen. Ich fühlte mich großartig und hervorragend unterhalten. Es war toll, hier zu sitzen und sich all die besonderen Menschen anzusehen, die mit Elissa befreundet waren und heute mit ihr in den Geburtstag hineinfeiern wollten. Ein schräger Vogel hatte sich die Haare halb blau, halb knallrot gefärbt und trug einen Schottenrock mit stilechten Kniestrümpfen als Party-Outfit. Wahrscheinlich irgendein schreibender Kollege von Elissa. Ein anderer Gast hatte schwarze Locken bis auf die Schultern, dann kam ein lesbisches Pärchen Hand in Hand im Partnerlook, gefolgt von einem Typen in der Altersklasse von Oke. Manche brachten Blumen mit, andere bunt verpackte Geschenke, wieder andere eingewickelte Flaschen. Alles wanderte auf einen Extratisch, der seitlich von Elissa und Oke an einer Wand aufgestellt worden war. Heute Abend hatte man tatsächlich an alles gedacht.

Hinter mir hörte ich zwei Männer miteinander über Wein diskutieren. Einer von ihnen hatte einen charmanten österreichischen Akzent und schien sich gut auszukennen. Jedenfalls hatte ich gar nicht gewusst, dass auf Sylt Wein angebaut wurde, der im kommenden Jahr zum ersten Mal gekeltert werden sollte. Auf dem Land von Bunde Boysen in Keitum hatte man 1600 Rivaner- und Solarisrebstöcke aufgestellt. «55 Grad Nord» sollte der gute Tropfen heißen und war schon vor der ersten Lese ein Renner. Der Nicht-Österreicher war sogar Pate eines Rebstockes, musste dafür über zehn Jahre je rund fünfhundert Euro hinlegen und bekam als Belohnung jährlich eine der geschätzten 1500 Flaschen Weißwein geschenkt.

Später unterhielt ich mich mit einem Mann, der behauptete, er würde im Fernsehen eine Talksendung moderieren. Er kannte Elissa aus ihrer Zeit in Berlin. Ich kannte weder den Mann noch die Sendung. Aber er war sehr charmant, versorgte mich ausreichend mit frischen Getränken und gab mir mit seinen Blicken das Gefühl, begehrenswert zu sein.

Als ich mir später etwas zu essen holte, sprach mich der große Typ mit den schulterlangen schwarzen Haaren an. Er erklärte seine trainierte Figur mit seinem Lauftraining und zeigte mir sofort auf dem Handy seinen Blog zum Thema. Ging mir am Popo vorbei, da ich in etwa so sportlich war wie ein Hund in Trainingshose. Wie man stupide vor sich hinrennen konnte, nur um wieder nach Hause zu kommen, war mir schon immer ein Rätsel gewesen. Anfangs war ich Toni zuliebe noch manchen Kilometer mitgelaufen. Aber das Einzige, das mir wirklich gefallen hatte, waren die Massagen, die ich hinterher zur Belohnung von ihm bekommen hatte. Inzwischen bestand mein Sport aus vereinzelten Fußballmatches mit Tom in unserem Garten und kleinen Ausflügen auf dem Fahrrad zum Supermarkt. Jedenfalls im Sommer. Immerhin nahm ich mir vor, Toni von dem Blog zu erzählen. Wahrscheinlich konnte er sich für seine jährlichen Marathonläufe noch den einen oder anderen Tipp holen.

Das Essen war heute Abend genauso köstlich, wie ich es in Erinnerung hatte. Dieser Koch war der Wahnsinn. Der traute sich an Gewürz- und Zutatenkombinationen, auf die ich im Traum nicht gekommen wäre. Und so etwas versteckte sich hier an der Nordsee! Immer wieder schlich ich an den Tischen entlang und nahm mir hier ein Häppchen und dort ein Schälchen, bis ich das Gefühl hatte, gleich zu platzen. Von Elissa hatte ich bisher eher wenig gesehen. Das Empfangskomitee hatte sich längst vom Eingang wegbewegt. Oke war in der Küche verschwunden, die Mädchen mit den Getränken in der Menge und meine Freundin vermutlich irgendwo zwischen den tanzenden, essenden und quatschenden Menschen.

Auf einmal stand der Traum mit dem Koch-Kopftuch neben mir. «Na?!»

Wie ertappt zuckte ich zusammen. «Oh. Hallo, Oke. Fertig mit der Arbeit?»

Er schüttelte den Kopf. «Noch nich ganz.»

Meine Herren, das konnte ja ein abendfüllendes Gespräch werden, wenn das so weiterging. Oke bestätigte alle Vorurteile, die mir hinsichtlich der Geschwätzigkeit von Nordfriesen in den Sinn kamen. Aber diese knallblauen Augen machten es mir auch nicht gerade leicht, ins Gespräch zu finden. Also standen wir da und sahen uns an, bis es beinahe peinlich wurde.

«Willst du mal gucken?»

Oke konnte also auch Sätze mit vier Wörtern.

«Will ich was gucken?»

«Die Küche? Also, die Werkstatt sozusagen …?» Er deutete auf das angebissene Törtchen in meiner Hand.

Ach so. «Ja, gerne. In so einer großen Küche, also so einer Fachküche, so einer Küche von einem Hotel, war ich ja noch nie.» Was redete ich denn da für einen Unsinn? Musste am Sekt liegen. Oder am Zucker. Ich spürte, wie mein Gesicht heiß wurde, und drehte mich rasch in Richtung seines Arbeitsplatzes. «Da lang, oder?»

«Jawoll.» Gut, dass der Mann Koch geworden war. Als Talkmaster wäre seine Karriere wahrscheinlich nicht so glänzend verlaufen.

Oke drehte sich um und ging mir voran. Unter der knapp hüftlangen Kochjacke trug er eine knallenge weiße Jeans und weiße knöchelhohe Turnschuhe. Das Kopftuch war heute glänzend schwarz mit kleinen aufgedruckten, sich kreuzenden Säbeln. Wie ich so hinter ihm ging, hatte ich einen Spitzenplatz mit Po-Aussicht. Hätte es mich interessiert, dann hätte ich gesehen, dass der Hintern von Oke rund und knackig war und durchaus zum Anfassen einlud. Himmel!! Ich musste betrunken sein. Was waren denn das für Gedanken?

Oke sah sich nach mir um. «Wieso heißt du eigentlich Ilse? So alt bist du doch gar nicht.»

«Na, herzlichen Dank! Sehr charmant.»

Sofort lief Oke leicht rot an. «Nee, so meinte ich das nicht. Also nicht, dass ich dich alt finde, ich kenne nur sonst keine Ilse. Oder doch. Die Tante meiner Mutter hieß so, aber die ist schon seit etwa zehn Jahren tot.» Irgendwie süß, wie er versuchte, aus dem Fettnäpfchen wieder herauszukommen, und dabei gleich das nächste ansteuerte.

«Ich hab den Namen ja auch von einer Tante, in der stillen Hoffnung, dass das Erbe dann etwas üppiger ausfallen würde.»

«Und?»

«Ist nichts draus geworden. Ich habe gar nichts bekommen, meine Mutter ein total hässliches Service und meine Cousine Chantal aus Cottbus das große Los mit dem vielen Geld und dem Mietshaus.»

Oke lachte. «Immerhin hast du ihren Vornamen. Das ist doch schon was: Ilse Bilse, keiner will se …»

«… kam der Koch, nahm se doch», ergänzte ich und hätte mir am liebsten im selben Moment auf die Lippe gebissen.

Oke wurde schon wieder rot. Niedlich. Wobei «niedlich» eigentlich nicht das war, was ich ihm auf die Stirn tätowiert hätte. Wäre Oke mir auf der Straße begegnet, hätte ich getippt, er wäre Personal Trainer oder Skilehrer, vielleicht auch Schauspieler. Im Arztkittel in irgendeiner Serie mit traumhaft schönen Lernschwestern, die ihm verfallen sind. Ich zwang mich zur Konzentration. Der hatte doch sicher eine Freundin, so wie er aussah. Vielleicht war das Anbaggern mit Hilfe eigens kreierter Köstlichkeiten ja sein persönlicher Wettbewerb, und für jede seiner Eroberungen ritzte er mit dem Fleischermesser Kerben in seinen Herd. Das konnte ich gleich mal kontrollieren, denn vor uns öffnete sich die automatische Doppeltür zur Küche.

Überall blank polierte Chromschränke. Auf der linken Seite stapelten sich auf einer Anrichte neben einem Kaffee-Vollautomaten, der gerade Espresso produzierte, Tassen und Tabletts. Dahinter grüne Plastikkisten, in denen vermutlich das Gemüse angeliefert worden war. Auf der rechten Seite befanden sich Regale, in denen Teller aufbewahrt wurden, und hüfthohe Schränke. Auf der Arbeitsfläche warteten Dutzende von Tellern mit Nachspeisen-Variationen darauf, zu den Gästen gebracht zu werden.

«Dies ist der sogenannte Pass», erklärte Oke. «Das ist mein Platz, wenn hier gewöhnlicher Betrieb herrscht. Hier stehe ich dann und nehme ab, was meine Köche zubereitet haben. Wenn wir die Karte erneuern, gibt es natürlich immer ein Probekochen, bei dem meine Vorschläge angerichtet und von allen Kollegen hinsichtlich des Geschmacks und der Optik auf dem Teller getestet werden. Auch die Kellner müssen ja wissen, was sie den Gästen empfehlen, wenn Nachfragen kommen. Da drüben sind die Posten …»

«Posten?»

«Na, die Plätze der Köche. Da gibt es zum Beispiel den Patissier für die Torten und das Eis und die anderen Desserts, der backt auch unser Brot. Da drüben steht unser Gardemanger, der macht die kalten und warmen Vorspeisen. Für Fisch, Fleisch und Soßen ist der Saucier dort hinten zuständig. Und dann gibt’s noch den Entremetier, der die Beilagen zubereitet. Also Gemüse, Nudeln und einige der Suppen.» Während er sich in Fahrt redete, zeigte Oke zeigte mal hierhin, mal dorthin. Sobald es um Essen und Kochen ging, wurde der Mann offenkundig zu einer regelrechten Plaudertasche.

Ich schaute mich um. Auf der Grundfläche der Küche hätte man wahrscheinlich unser gesamtes Haus unterbringen können. An einer Wand hingen Plakate von einem Schwein und einem Rind, die die einzelnen Fleischstücke der Tiere erläuterten. Die Nudelmaschine wartete auf ihre Reinigung, ein Klumpen grün gefärbter Nudelteig lag auf der mit Mehl bestäubten Arbeitsplatte. In einem Regal standen grüne Kanister, auf die jemand mit einem dicken schwarzen Stift «Pfeffer schwarz, gemahlen», «Curry» und andere Gewürznamen geschrieben hatte. Mit dem Vorrat im Paprikapulver-Kanister wäre ich für den Rest meines Lebens ausgekommen. Weiter hinten gab es noch mehr Schränke und Geräte, Dampfgarer und Kühlschränke. Die gesamte Küche wirkte mit ihren silbern glänzenden Oberflächen sauber und aufgeräumt. Ein Teil der Küchenbesatzung war damit beschäftigt, die «Posten» abzuwischen und für den nächsten Tag herzurichten, jemand räumte Teller in einen großen Geschirrspüler, und in der hinteren Ecke der Küche standen drei junge Männer in weißen Kitteln und bedienten sich eifrig von einem Dessertteller.

«Dürfen deine Mitarbeiter alles essen, was da ist?»

«Na klar. Normalerweise jedenfalls. Vor ein paar Tagen habe ich allerdings einen Auszubildenden dabei erwischt, wie er sich in aller Seelenruhe im Fleischwolf Rindfleisch zu Mett gedreht und es sich dann auf ein Brötchen gelegt hat. Darauf hat er sich dann etwas Schwarzes gehobelt …»

«Oliven?»

«Dachte ich auch erst. War aber Trüffel.»

Es schüttelte mich, wenn ich an Trüffel dachte. Toni hatte mich einmal zu einem Trüffel-Essen mitgenommen, und ich war hungrig vom Tisch aufgestanden.

«Scheußlich. Ich habe sie zwar immer wieder probiert, aber ich mag den Geruch einfach nicht.»

«Ist ja jedem selbst überlassen. Über Geschmack lässt sich nicht streiten. Fakt ist aber, dass das Kilo Trüffel bis zu zweitausend Euro kostet. Da ist so ein Azubigehalt schnell weggefuttert.» Noch im Nachhinein regte Oke sich anscheinend mächtig auf.

«Kochst du dir hier auch dein Essen?», versuchte ich, ihn abzulenken.

«Nein. Ich frühstücke morgens um neun, wenn ich anfange. Dann haben wir von zwölf bis zwei Mittagstisch, und ab achtzehn Uhr beginnt wieder die Arbeit im Restaurant. Ich esse, was an Resten aus der Mitarbeiterkantine kommt, oder mache mir ein Brot. Ab und an muss ich probieren, was die Kollegen zubereiten, und man will ja nicht fett werden.» Bei den letzten Worten klopfte er sich auf seinen durchtrainierten Bauch.

«Stimmt es eigentlich, dass die dicken die besseren Köche sind?» Ich drehte mich langsam Richtung Ausgang.

Ich hatte genug gesehen und gehört, wollte wieder raus aus der Küche und mehr Sekt trinken. Außerdem war es fast Mitternacht, und ich musste mich langsam nach Elissa umsehen, wenn ich ihr als eine der Ersten gratulieren wollte.

«Also, die dicken Köche sagen: Die dünnen Köche sind so dünn, weil sie schlecht kochen. Die dünnen Köche behaupten, die dicken sind die schlechten Köche, weil sie alles selber essen müssen», erklärte der dünne Koch Oke.

«Und was glaubst du?»

«Ich glaube, dass das Gewicht des Küchenchefs überhaupt nichts über die Qualität des Essens aussagt.» Während wir Richtung Ausgang spazierten, schaute Oke sich in der Küche um, räumte hier eine Gewürzdose in ein Regal und stellte dort ein benutztes Glas in ein Spülbecken. «Das ist wie bei jedem anderen Menschen auch: Wer viel und fett isst und sich nicht bewegt, der wird dick. Ich koche leicht und esse viele kleine Portionen. Und in meiner Zimmerstunde zwischen Mittagstisch und Abendessen gehe ich oft mit den Kollegen Fußball spielen.»

«Am Strand?»

Eine Truppe Köche in weißen Kitteln und mit hohen Mützen kickend auf dem Sand am Meer. Seltsame Vorstellung.

«Nee, da ist es jetzt viel zu kalt, und im Sommer liegen da die Touristen, die haben das nicht so gern, wenn man um sie herumdribbelt. Die Hotelgäste würden sich schön beschweren, wenn über ihren Köpfen gekickt würde.» Er deutete in Richtung des Restaurants. «Ein Stück weiter gibt es einen Campingplatz mit einer Sporthalle, die wir benutzen dürfen. Da ist im Winter eh nicht viel los. Manchmal gehen wir auch Badminton spielen, oder ich jogge eine Runde oder gehe schwimmen. Dann bin ich abends weniger müde.»

Dieser Mann wäre auch mit zwanzig Jahren mehr auf dem Buckel viel zu sportlich für mich gewesen. Ich hatte schon meine liebe Mühe damit gehabt, Toni davon zu überzeugen, dass Laufen für mich Quälerei und keine Erholung war. Aber jemand, der derart vielfältig in der Auswahl seiner sportlichen Betätigungen war, würde seine Liebste sicher nicht auf dem Sofa zurücklassen, wenn der Bewegungsdrang kam.

«Und wie findet deine Freundin das, wenn du den ganzen Tag im Restaurant bist und dann nicht einmal die Mittagspause mit ihr verbringst?»

Bohh, ich hätte mich ohrfeigen können, plumper ging es ja wohl kaum. Schnell drehte ich mein heiß werdendes Gesicht von Oke weg. Die automatische Tür öffnete sich, und wir tauchten wieder in die Musik und Partystimmung ein.

«Ich habe keine Freundin. Die meisten Kollegen hier sind überzeugte Singles – wir sind mit der Küche verheiratet. Ich bin an sechs Abenden pro Woche hier im Restaurant und normalerweise erst nach Mitternacht wieder zu Hause. Das macht auf Dauer keine Frau mit.» Fast sah er zerknirscht aus. Oder traurig? «Soll ich dir noch etwas zu trinken holen?»

Irgendwie war ich wegen der nicht vorhandenen Freundin erleichtert. Galt es eigentlich bereits als Untreue, wenn man sich gewissen Vorstellungen hingab? Konnte ich mit meiner Ehe komplett zufrieden und gleichzeitig froh darüber sein, dass Oke keine Freundin hatte? Hatte ich nicht kürzlich in einer Zeitschrift gelesen, dass Untreue nicht zwangsläufig ein Symptom des Mangels sein musste? Ehrlich gesagt, war es mir nach dem ganzen Essen und den Getränken viel zu anstrengend, darüber nachzudenken. Ohnehin wurde ich gerade abgelenkt, weil Oke seine Hand auf meinen Ellenbogen legte und mir einen Augenblick zu lange in die Augen sah. Er roch unheimlich gut nach Zimt oder Vanille oder beidem.

«Ob du noch etwas trinken möchtest, habe ich gefragt.» Oke tippte mir auf den Oberarm.

«Ja. Ich, ähhh … Ja, ich nehme gerne noch einen Sekt. Danke.»

Oke ließ meinen Arm los, lächelte kurz und verschwand in der Menge.

Ich sah mich nach Elissa um. Nach einer Weile entdeckte ich sie vor den Fenstern des Restaurants auf der überdachten Terrasse. Eingekuschelt in das Sakko eines Mannes, mit dem sie sich angeregt unterhielt, stand sie da und hauchte ihren warmen Atem in die eiskalte nordfriesische Winterluft. Über dem Meer war es inzwischen stockdunkel, nur ab und zu blitzte eine Welle auf, wenn sich das Mondlicht darin spiegelte. Die Zeit hatte Elissa offensichtlich komplett vergessen. Bis Mitternacht waren es nur noch wenige Minuten. Außer mir standen noch eine Reihe anderer Gäste da und schauten Elissa und dem gutaussehenden dunkelhaarigen Mann zu.

«Meinst du, es wäre vielleicht besser dazwischenzugehen, bevor die da draußen zu grabbeln anfangen?», fragte ich Oke, als er wieder neben mir stand.

Er reichte mir einen grünlich schimmernden Sekt. «Mit Basilikumlikör», erklärte er und zeigte auf den Inhalt des Glases. Oke hatte sich das Piratentuch vom Kopf gezogen und sah mit seinem blonden Schopf jetzt noch mehr aus wie der schöne Geiger.

«Ich meine ja nur. Elissa merkt doch gar nicht, dass das für alle wie Kino ist. Der Typ kriegt sowieso nichts mit.» Wie auf Kommando schob «der Typ» in diesem Moment seine Hand unter das Sakko, vermutlich irgendwo auf Elissas nackte Haut.

«Jo. Is wohl besser – ist eh gleich Geburtstag.» Oke hatte recht. Spätestens in zwei Minuten würden auch alle restlichen Gäste die besondere Aussicht genießen.

«Geh du zu Elissa, ich sag dem DJ schon mal wegen der Geburtstagsmusik Bescheid.»

Anscheinend war Oke ein Mann der Tat, der nicht nur in der Küche, sondern auch in Notsituationen in ganzen Sätzen sprechen konnte. Ich dagegen war viel zu beschwipst, um noch vernünftige Entscheidungen zu treffen. Bestimmt würde Elissa mich hassen, wenn ich ihre Kuschelstunde unterbrach. Aber vielleicht würde sie mich noch mehr hassen, wenn ich zuließ, dass der Cary-Grant-Verschnitt ihr vor aller Augen noch heftiger an die Wäsche ging und sie die ersten Minuten ihres Vierzigsten mit Musik und Geschenken verpasste. Ich kippte den grünen Sekt, der erstaunlich lecker war, mit einem großen Schluck herunter, machte ein paar entschlossene Schritte zum Balkon und öffnete mit Schwung die Tür.

«Hey, meine Liebe, es ist gleich Mitternacht. Du willst doch nicht deinen Geburtstag verpassen?»

Elissa zuckte kurz zusammen, strahlte mich dann an und hob ihr Glas in meine Richtung. «Auf gar keinen Fall.» Sie schaute auf ihr Handgelenk, an dem ich noch nie eine Uhr gesehen hatte. «Ich habe gar nicht bemerkt, wie spät es schon ist. Tut mir leid, Süßer. Ich muss mich jetzt feiern lassen. Wir sehen uns später.» Sie stolperte in meine Richtung, murmelte etwas wie «sowieso zu alt für mich, der Typ» und wurde von Oke aufgefangen, der inzwischen für dämmerige Beleuchtung im Restaurant gesorgt hatte und sie zwischen die anderen Gäste zog.

Wie auf Kommando stellte der Mann am Mischpult die Musik ab und begann, von zehn rückwärts in sein Mikrophon zu zählen. Bei «Zero» startete er Happy Birthday von Stevie Wonder. Total abgenudelt, dieser Song, aber ich war trotzdem gerührt.

Schon waren die Sekt-Mädchen mit ihren Tabletts wieder ausgeschwärmt, und aus der Küche kam der Teil der Mannschaft, der noch nicht gegangen war. Vorneweg der Patissier mit einer riesigen Geburtstagstorte in Form eines Kochtopfs, gekrönt von brennenden Wunderkerzen und einer Zeitung aus Marzipan. Als ich sah, wie Elissa strahlte, bekam ich eine Gänsehaut. Wie wunderbar, so gefeiert zu werden. Was musste das für ein Gefühl sein, hier zu stehen und sich so geliebt zu fühlen, von Freunden, die aus aller Welt nur für sie und nur für diesen Abend auf die Insel gekommen waren. Auf einmal vermisste ich meine Familie wie verrückt. Warum hatte ich Toni nicht gebeten, wenigstens zur Feier auch nach Sylt zu kommen? Wir hätten uns ein Hotelzimmer nehmen und das Wochenende ganz für uns genießen können. Wie damals, als wir noch keine Kinder hatten.

Ich arbeitete mich durch die Menge langsam zu Elissa vor. Als ich angekommen war, drückte ich sie ganz fest. Ich war so froh, eine Freundin wie sie zu haben.

«Alles Liebe zum Geburtstag, Elissa. Danke, dass du immer für mich da bist und mich unterstützt. Auch wenn du es nicht immer richtig findest, wie ich mein Leben lebe.»

«Schätzchen, das habe ich nie gesagt. Das kann ich auch gar nicht beurteilen. Und ich finde nicht, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, um über so ernste Dinge zu sprechen.» Sie ließ ihr Glas an meines klirren, trank einen Schluck und sah mich an. «Aber wenn man jeden Tag Bauernfrühstück isst, dann tut eine Portion karamellisierter Ziegenkäse zur Abwechslung vielleicht ganz gut. Schön, dass du heute mitfeierst.»

Und schon wurde ich vom nächsten Gratulanten zur Seite gedrängt. Wie hatte sie das denn gemeint? Toni war das Bauernfrühstück, und der karamellisierte Ziegenkäse wäre dann …

«Komm, wir setzen uns da rüber.» Oke schob mich zu einem doppelten Sitzkissen, nicht weit von der Tanzfläche entfernt, und drückte mir ein weiteres Glas grünlichen Sekt in die Hand.

Aber ich mochte doch gar keinen Ziegenkäse. Der bitter-raue Beigeschmack war einfach nicht mein Fall. Und dieses Extravagante, Angesagte musste ich auch nicht haben. Also meinetwegen konnte Oke der Ziegenkäse sein.

«Was ist denn eigentlich karamellisierter Ziegenkäse?» Gegessen hatte ich so etwas jedenfalls noch nie.

«Haben wir neu auf unserer Lunchkarte. Da wird der Käse mit Honig karamellisiert, sodass er eine süße Kruste bekommt, und auf marinierter Wassermelone angerichtet. Das passt toll zu dem Käsegeschmack. Soll ich dir einen brutzeln?» Er machte Anstalten, sich wieder aus dem Sitzsack zu erheben.

«Bloß nicht!»

«War ja nur ein Angebot.» Oke ließ sich wieder zurückfallen und schaute über die Tanzfläche. Die Reihe der Gratulanten hatte sich gelichtet, inzwischen bewegten sich schon wieder die ersten zum Rhythmus der Musik. Oke wippte mit den Füßen im Takt. Er sah wirklich gut aus. Und anscheinend machte er sich nichts daraus. Oder er wusste es gar nicht – aber das war ungefähr so wahrscheinlich wie eine Ballermann-Bude am Strand von Westerland.

«Willst du tanzen?» Was Oke an Kommunikationstalent fehlte, machte er mit seinem Körpereinsatz wieder wett. Millimeter für Millimeter rutschte er näher an meine Seite. Abstand halten war auf diesen Säcken ohnehin nicht möglich.

Eigentlich wollte ich jetzt am liebsten sofort nach Hause. Die Dinge, die mir durch den Kopf gingen, wollte ich nicht denken. Keine Sekunde wollte ich mein Leben in Frage stellen. Es war doch alles gut. Und schon so lange. Ich würde mich zu meinem kleinen Tom ins Bett kuscheln und an seinen Himbeer-Shampoo-Haaren schnuppern und dann einen Blick auf meine große schöne Tochter werfen, um anschließend zu Toni zu gehen und ihm seinen Pyjama auszuziehen. Und morgen wäre ein Tag wie jeder andere.

Wahrscheinlich war es sowieso nur eine Art Sport für Oke, nach Feierabend Frauen aufzureißen. Suppe, Zwischengang, Hauptgericht und Dessert und zur Nacht dann Liebesknochen, direkt am Gast serviert.

«Nö, ich tanz nicht so gerne.»

«Dann erzähl mir mehr von dir. Elissa hat gesagt, du wolltest mal Fotografin werden?»

«Ach, das ist lange her. Inzwischen gebe ich Dessous-Partys und kümmere mich um meine Familie. Ich habe einen Sohn und eine Tochter, und mein Mann arbeitet ziemlich viel in seiner eigenen Werbeagentur.» Klang das wehleidig und unzufrieden?

«Dessous-Partys?!» In dieser Hinsicht war Oke wohl nicht anders als andere Männer.

«Klingt aufregender, als es ist. Lauter Frauen auf einem Haufen, die sich mit Prosecco volllaufen lassen und von heißen Nächten in Spitzenunterwäsche mit Strapsen und Tangas träumen.»

«Und wovon träumst du?» Oke sah mich fragend an.

Ich spürte, wie mir die Röte in die Wangen schoss. «Nur weil ich diese Partys veranstalte, heißt das nicht, dass ich selbst mein bestes Model bin. Wenn du erwartet hast, dass du gleich eine kostenlose Vorführung meiner Ware bekommst, liegst du daneben.» Ich trank schnell noch einen Schluck und überlegte, wie ich am besten das Thema wechseln konnte. «Was war denn das Ekelhafteste, das du je gegessen hast?»

Oke musste nicht lange nachdenken: «Rohes Affenhirn, in Thailand.»

«Würg!»

Das war mir unvermittelt herausgerutscht – diese kulinarische Besonderheit löste bei mir allein beim Zuhören einen Ekelanfall aus. Mich gruselte es meist schon beim Anblick von Innereien in der Fleischertheke.

«Für andere Kulturkreise ist unser Essen auch oft eklig. Käse zum Beispiel ist eigentlich schimmelige Milch, und Tatar ist rohes Fleisch. Aber in Thailand habe ich sehr viele ungewöhnliche Dinge gekostet. Oft war ich froh, dass mir erst nach dem Essen gesagt wurde, was ich da gespachtelt hatte.» Er schüttelte sich.

«Bist du vor allem in Asien unterwegs gewesen?»

«Nee, fast überall, wo gekocht wird.» Oke konnte das sagen, ohne dass es nach Angeberei klang. «Mit achtzehn bin ich abgehauen – ich wollte etwas von der Welt sehen und vor allem schmecken. Nichts gegen meinen Onkel, der ist ein toller Koch. Aber ich wollte mal was anderes machen als Scholle Finkenwerder Art und Rührei mit Krabben.» Er zuckte mit den Schultern.

«Und dann bist du ganz alleine losgezogen?» Die Vorstellung, ohne Freundin oder Familienangehörige mein Heim zu verlassen und in Länder zu reisen, die ich nicht einmal schreiben konnte, war für mich gruseliger als ein Buch von Stephen King. «Ohne zu wissen, wohin, und ohne jemanden zu kennen, bei dem du arbeiten oder wohnen konntest?»

«Wenn man kochen kann, kommt man überall unter. Ich bin zuerst nach Amerika, das Geld für den Flug und ein paar hundert Dollar hat mein Onkel mir gegeben.» Offensichtlich erinnerte er sich gern an diese Zeit, denn wieder stahl sich dieses bezaubernde Lächeln auf sein Gesicht. «Da habe ich mich dann durchgeschlagen. Bin in Restaurants gegangen, die mit deutscher Küche warben, und habe denen gezeigt, wie man richtig Sauerkraut macht. Dafür bekam ich kleinere Jobs und konnte in der Küche neue Gewürze oder Zutaten kennenlernen.» Er lachte. «Ich hab auch Hotelzimmer geputzt oder auf die Kinder der Köche aufgepasst. Einen Platz zum Schlafen und genug zu essen hatte ich immer. Sobald ich genug gespart hatte, bin ich in das nächste Land weitergezogen. Wenn man unabhängig ist und ein Ziel vor Augen hat, ist es nicht so schwierig, weit herumzukommen.»

Wahnsinn. Dieser Typ hatte etwa hundertmal so viel von der Welt gesehen wie ich. Und das, obwohl ich viel mehr Lebensjahre hinter mir hatte. Mir war vor geplanten langen Reisen immer etwas dazwischengekommen: eine Liebe, eine Hochzeit, eine Kampagne, die mein Mann unbedingt zuerst noch beenden musste, oder eine Schwangerschaft. Oke hatte auf äußere Zwänge und Familienbande einfach gepfiffen und sich darauf konzentriert, Erfahrungen zu sammeln, die ihm jetzt nützlich waren. Einen schmerzlichen Moment lang wurde mir bewusst, dass ich vielleicht genauso viel zu erzählen gehabt hätte, wenn ich meine Fotografenlaufbahn weiter verfolgt hätte. Es war lange her, dass ich mit jemandem ein so anregendes Gespräch geführt hatte. Und die mit-Basilikum- und ohne-Basilikum-Getränke hatten inzwischen fast alle meine Hemmungen weggeschwemmt.

«Lass uns ein Spiel spielen.»

Oke machte ein fragendes Gesicht und rutschte noch näher an mich heran, vielleicht, weil die Musik wieder lauter geworden war.

Ich wünschte mir ein bisschen Studentenzeit-Revival. «Das Spiel geht so: Ich stelle eine Frage, die unser Leben betrifft, und wir sagen dann beide, was uns dazu einfällt.» Dieses Psychospiel hatten Elissa und ich mit Freunden nächtelang gespielt, um herauszufinden, wie sie tickten, für was sie brannten und welche Charakterzüge bereits in jungen Jahren auf späteres Spießertum und Unglück hindeuteten.

«Bereit?»

Er nickte.

Jetzt kam es auf die richtigen Fragen an. «Okay. Lass mich überlegen. Also. Weihnachten. Zündest du an den Sonntagen bei deinem Adventskranz alle vier Kerzen abwechselnd an, damit sie gleichmäßig herunterbrennen, oder eine nach der anderen?»

Er sah mich verständnislos an. «Ich habe gar keinen Kranz zu Hause. Dieses ganze Weihnachtszeug sehe ich genug hier im Restaurant. Wenn ich zu Hause bin, penn ich, da hab ich die Augen eh zu.»

«Aber wenn du einen hättest? Ich tausche die Kerzen lieber aus, wenn sie heruntergebrannt sind.» Genau darüber hatte ich mit Toni an unserem ersten gemeinsamen Weihnachtsfest diskutiert. Toni fand mich spießig und bescheuert wegen meiner Kerzen-anzünden-und-nicht-anzünden-Marotte, gab sich dann aber geschlagen. Darin war der Koch ihm ähnlich.

«Jaaaaa – stimmt. Würde ich wohl auch so machen.» Schien so, als hätte er den tieferen Sinn dieses Quiz noch nicht erfasst. Oder er fand die Frage behämmert. Vielleicht musste Oke mehr von diesem grünen Zeug trinken.

Ich kramte nach der nächsten Frage. «Deine Lieblingsband?»

«Ach, das wechselt ständig.»

«Na dann: Welcher Song ist für dich der absolute Lovesong? Meiner ist I’d Rather Dance With You von den Kings Of Convenience

«Ahh, hab ich schon mal gehört: Let your hips do the talking», sang Oke ziemlich falsch. Aber immerhin kannte er den Song. «Nicht schlecht. Aber meiner wäre To Lose My Life von den White Lies

«Kenne ich nicht.» Ich hatte ohnehin wenig Ahnung von aktueller Musik. Nach der Neuen Deutschen Welle war der neueste Pop irgendwie an mir vorbeigezogen.

«Doch, kennst du!» Oke hatte keine Hemmungen, noch mal gegen das Stimmengewirr und die Musik des DJs anzusingen. Dazu beugte er sich ein wenig näher zu mir und summte leise in mein Ohr:

«He said to lose my life or lose my love

That’s the nightmare I’ve been running from

So let me hold you in my arms a while

I was always careless as a child

And there’s a part of me that still believes

My soul will soar above the trees

But a desperate fear flows through my blood

That our dead love’s buried beneath the mud.»

Seine Wange streifte meine, und er roch appetitlich nach etwas Süßem wie einer Mischung aus frischen Erdbeeren und Nivea-Creme. Aus der Nähe betrachtet sah er noch viel besser aus. Es gefiel mir, so angeschwärmt zu werden. Das war mir das letzte Mal vor mehr als fünfzehn Jahren passiert. Ich spürte, wie der Sekt mich mehr und mehr entspannte, fast gleichgültig machte, lehnte mich zurück und ließ mich ansingen.

«Let’s grow old together

And die at the same time

Let’s grow old together

And die at the same time.»

Oke hörte auf zu singen und sah mich an. «Zusammen alt werden und zur gleichen Zeit sterben, das ist doch die wahre und echte Liebe, oder?»

Ich erinnerte mich dunkel, dieses Lied schon einmal irgendwo gehört zu haben. Wahrscheinlich einer von Hannas Lieblingssongs. Die liefen des Öfteren in einer Lautstärke, bei der alle im Haus Anwesenden mithören konnten.

Bevor ich mich zu sehr von Okes leckerem Duft und seinen Lieblingsliedern einlullen ließ, raffte ich mich auf und setzte mich aufrechter auf den Sitzsack. «Reihenhaus oder Eigentumswohnung?», schob ich die nächste Frage nach.

«Nichts von beidem. Ich halte nicht viel davon, mich mit Immobilien an einen Ort zu binden. Vielleicht koche ich morgen in Wien oder in Vietnam, und was mache ich dann mit meinem Spießerhaus?»

«Ach, wer ein Haus hat, ist ein Spießer? Wieso sagst du das so negativ?» Und wieso fühlte ich mich gleich so angegriffen?

«Spießer sind für mich Leute, die fertig sind mit ihrem Leben. Die sitzen mit dem Hintern in ihrer eigenen Bude. Verheiratet, zwei Kinder, Fußmatte vor der Tür, Lebensversicherung abgeschlossen und dann auf den Tod warten. Stell dir vor, wie grausam das sein muss, wenn alles so fertig ist und nichts Neues mehr dazukommt.»

«Ich bin auch verheiratet und habe zwei Kinder. Und natürlich hat man eine Fußmatte, wenn man Kinder hat. Was meinst du, was die sonst alles ins Haus schleppen? Aber auf keinen Fall sitze ich einfach nur da und warte auf mein Ende!» Ich konnte selbst hören, wie schmallippig das klang.

Oke legte einen Arm um mich. «Dich habe ich auch gar nicht gemeint. Aber du hast doch bestimmt in deinem Freundeskreis solche Typen. Die unterhalten sich den ganzen Abend darüber, ob sie den neuen Mercedes in Schwarz oder Metallic bestellen sollen oder ob man mal ganz mutig Weiß wagen soll. Das Konto ist immer gut gefüllt, dreimal im Jahr geht’s in den Urlaub, und wenn Mutti keine Lust mehr hat, dann macht Papi eben ein bisschen mit der Sekretärin rum.»

«Nur weil man verheiratet ist, wird das Leben doch nicht zu einer tristen Heizdeckenverkaufsveranstaltung.» Wieso mäkelten auf einmal alle an meiner Ehe herum? «Ich bin gerne verheiratet, und ich liebe meine Kinder. Von mir verlangt keiner, dass ich den ganzen Tag die Hausfrau spiele und nach dem Tatort zum Vamp mutiere. Ich könnte mir ein Leben wie deins auch nicht vorstellen. Erst in der einen Stadt, dann in der anderen. Den ganzen Tag arbeiten, früh aufstehen und nachts nach Hause kommen. Immer alleine …»

Was hatte ich gerade noch sagen wollen? Ich spürte, wie der Alkohol mir langsam das Hirn vernebelte.

«Wie kommst du denn auf die Idee, dass ich immer alleine bin?» Oke grinste und küsste mich flüchtig auf die Wange. «Klasse, wie deine Augen blitzen, wenn du dich so aufregst. Willst du jetzt tanzen?» Die Musik war lauter geworden, statt Geburtstagsmusik gab es jetzt Tanzhits aus den Siebzigern und Achtzigern. Gerade lief I’m Every Woman von Chaka Khan.

«Ach nein, lieber noch so einen Hexensekt.» Lallte ich etwa schon?

«Wieso Hexensekt?»

«Na, dieses grüne Zeug da drin, das ist doch wohl in irgendeiner Hexenküche zusammengebraut worden.»

«Das grüne Zeug hat die Oma unseres Souschefs selbst gemacht. Das gibt es nur für ganz besondere Gäste. Ich hol dir aber gerne noch ein Glas», sprach der Koch und schwang sich erstaunlich elegant aus dem knirschenden Sitzsack, um seinen Worten Taten folgen zu lassen.

Die Tanzfläche wogte mittlerweile zu London Calling von The Clash. Bei den meisten Gästen war der Alkoholpegel inzwischen hoch genug, um den Refrain laut mitzugrölen. Lustig, wie unterschiedlich die Menschen sich zur Musik bewegten. Da gab es Zappler, deren ganzer Körper zuckte, als hätten sie mit allen Fingern gleichzeitig in die Steckdose gefasst. Dann die Unrhythmischen, die immer noch den Anfängerschritt rechts-ran-links-ran praktizierten. Und natürlich gab es auch auf dieser Tanzfläche den ungekrönten Disco-Fox-König. In diesem Fall war es der Typ, der Elissa vorhin auf der Terrasse sein Sakko geliehen hatte und der jetzt eine vollschlanke Blondine um sich herumwirbelte. Eigentlich tanzte ich auch deshalb so ungern, weil ich nicht so angeglotzt werden wollte, wie ich es gerade selber tat.

Oke plumpste neben mir auf den Sitzsack und hielt mir einen frischen Zaubertrank vor die Nase.

«Hier. Aber beschwer dich nicht bei mir, wenn dir morgen der Schädel brummt. Dieser Likör hat es in sich.»

Und er schmeckt, dachte ich und nahm einen großen Schluck aus meinem Glas.