10. Kapitel
Ganz leise schlich ich auf Zehenspitzen in Elissas Wohnung, um einem Gespräch mit ihr aus dem Weg zu gehen. Vergeblich, denn Elissa lag hellwach und strahlend in meinem Bett und erwartete mich.
«Ilse Bilse, keiner will se, kam der Koch, nahm se doch! Schätzchen, hattest du eine tolle Nacht? Wundert mich, dass du vor Anbruch der Dunkelheit hier auftauchst. Ich bin so gespannt auf deinen Bericht, ich konnte einfach nicht mehr schlafen.»
Überrascht fuhr ich zusammen, hatte mich aber schnell wieder unter Kontrolle. «Elissa! Noch einmal alles Gute zum Geburtstag. Hast du mein Geschenk schon ausgepackt?»
Weil ich die flauschige Kaschmirjacke nicht auf dem großen Party-Geschenketisch ablegen wollte, hatte ich sie in Geschenkpapier eingewickelt auf Elissas Bett gelegt, bevor ich zur Feier aufgebrochen war.
Aber ich hätte es besser wissen müssen: Meine Freundin war an ihrem Geschenk ebenso wenig interessiert wie an der Wettervorhersage für die kommenden Tage. «Ach, scheiß auf das Geschenk, ich will ganz genau wissen, was zwischen dir und Oke letzte Nacht gelaufen ist und wie es weitergeht.»
Ich ließ mich neben sie auf das Bett fallen. Gegen meinen Willen begann ich zu weinen. «Das ist doch alles eine einzige große Kacke. Ich meine … nun habe ich Toni schon angelogen, obwohl …, na ja, ich meine, so richtig ist ja eigentlich … und jetzt weiß ich auch nicht», schniefte ich.
Elissa setzte sich in aller Ruhe auf und reichte mir ein Papiertaschentuch aus einer Box neben dem Bett. «So, meine Liebe, jetzt beruhigst du dich erst einmal. Hol mal tief Luft. Ich besorge uns einen Champagner gegen den Nachdurst, du sortierst kurz deine Gedanken, und dann erzählst du mir alles der Reihe nach. So heftig wird es schon nicht sein. Im schlimmsten Fall wird es sexuell, aber Herrgott, darf man da überhaupt von ‹schlimm› reden? Ach du meine Güte, das ist wirklich der aufregendste Geburtstag, an den ich mich erinnern kann.»
Sie verschwand murmelnd aus dem Zimmer, da klingelte mein Handy. Unbekannte Nummer. Das konnten weder Tom noch Toni, noch Hanna sein. Womöglich Oke? Das Herz klopfte mir bis zum Hals. Es fühlte sich ein wenig an wie damals, als ich mich nach Wochen endlich getraut hatte, von einer Telefonzelle aus Jens anzurufen, der mit mir in den Konfirmandenunterricht ging und wunderschöne braune Augen mit mädchenhaft langen Wimpern hatte. Aber als Jens am Telefon nur vor sich hingebrummt hatte, war sehr schnell klargeworden, dass die Liebe einseitig war.
Ich starrte das Gerät an und versuchte abzuwägen: rangehen und mir anhören, was Oke wollte? Es klingeln lassen und später zurückrufen, wenn ich mir über meine Gefühle Klarheit verschafft hatte? Gar nicht mehr mit Oke sprechen?
«Ist er das? Warum gehst du nicht ran?» Mit zwei Gläsern in der einen und einer grünen Flasche in einem Weinkühler in der anderen Hand kam Elissa zurück ins Zimmer. Sie stellte die Sachen neben das Bett, zog die Decke zurück und klopfte auf die Matratze. «Komm. Kuschel dich ein. Wenn du erst ein Glas Schampus getrunken und deiner lieben Freundin alles gebeichtet hast, wird es dir viel, viel besser gehen.»
Schon wieder kämpfte ich mit den Tränen. Trotzdem stieg ich tapfer aus meinem Rock und dem Glitzeroberteil, kramte meinen Pyjama unter dem Kopfkissen hervor, zog ihn an und kuschelte mich dann unter die Decke.
Elissa setzte sich neben mich und reichte mir ein Glas von dem Champagner. «So. Und nun erzähl, was passiert ist. Ich habe noch gesehen, dass du mit Oke irgendwann am Morgen verschwunden bist. Seid ihr da zu ihm nach Hause?»
«Nein. Wir wollten eine Currywurst oder so essen. Draußen war es spiegelglatt, und beinahe wäre ich ausgerutscht, aber Oke hat mich aufgefangen, und dann standen wir da, und dann … und dann …»
«Habt ihr euch geküsst.»
Heiße Tränen kullerten mir über die Wangen. Ich fühlte mich so schuldig. «Ich werde Toni nie wieder in die Augen sehen können. Ich habe Oke sogar gern geküsst. Und dann bei ihm übernachtet. In seiner Wohnung und in seinem Bett.»
Elissa legte einen Arm um mich. «Nun mal langsam und vor allem eins nach dem anderen. Gab es nach diesem ersten Annäherungsversuch einen weiteren Austausch von Körperflüssigkeiten? Den du vielleicht sogar genossen hast?»
«Nein! Ich war komplett angezogen, als ich aufgewacht bin. Die letzten fünf Sektcocktails hätte ich wohl besser nicht getrunken, aber so weit hatte ich meine Sinne anscheinend noch beisammen, dass es nicht bis zum Äußersten gekommen ist.» Schniefend versuchte ich, mich zu beruhigen.
«Nach geil kommt müde, könnte man auch sagen», kommentierte Elissa trocken. «Vielleicht wolltest du insgeheim viel mehr, aber dann hat dein Körper das Kommando übernommen und dich einfach ausgeschaltet. Kann aber auch sein, dass du nur in Kuschelstimmung warst. Ärgerlich.» Sie nahm noch einen Schluck Champagner. «Hat Oke beim Aufwachen nicht gleich an der Fortsetzung eurer Knutschszene gearbeitet?»
«Der hat zum Glück noch tief und fest geschlafen, als ich gegangen bin.»
«Aber du hast ihm einen Zettel hingelegt und ihm darauf ewige Liebe geschworen und seinen Kuss als den besten aller Zeiten gepriesen.»
Gegen meinen Willen musste ich lachen. «Natürlich nicht. Meine Telefonnummer hatte er gestern schon in seinem Handy gespeichert. Wahrscheinlich hat er eben versucht, mich zu erreichen.»
«Ja, das nehme ich auch mal an. Mensch, Ilse. Nun sprich doch wenigstens mit dem armen Menschen. Der hat sich bestimmt bis über beide Ohren in dich verknallt, knutscht mit dir, nimmt dich mit zu sich nach Hause. Dort bekommt er statt eines Abenteuers ein Schnarchkonzert, und jetzt kann er sich nicht einmal eine Erklärung dafür abholen, warum du wortlos verschwunden bist. Das ist nicht fair.» Elissa schüttelte den Kopf, als hätte ich gerade ihren besten Champagner in die Toilette geschüttet.
«Fair, fair! Hast du eine Ahnung, wie egal mir das gerade ist? Als ich aus der Wohnung raus war, habe ich mit Toni telefoniert und bin mir dabei vorgekommen wie das schlimmste Luder aller Zeiten. Der sitzt zu Hause und verdient unser Geld, kümmert sich um die Kinder und macht sich Sorgen um mich …»
«Sicher macht er das!», antwortete Elissa gelassen. «So wie ich Toni kenne, lässt der seine Mutter wirbeln und kümmert sich um seine Agentur. Und wenn er sich um irgendetwas sorgt, dann höchstens darum, dass er das nächste Pitching nicht gewinnt.» Elissa schenkte uns aus der gekühlten Flasche nach.
«Wie meinst du das denn?»
Sie kuschelte sich etwas näher an mich heran und griff nach meiner Hand. «Dein Mann Toni hat dich sicher sehr lieb. Aber seit die Tinte unter eurem Ehevertrag getrocknet ist, hat er sich doch total zurückgelehnt. Hat sich von dir alles vor die Nase tragen lassen, und du hast ihm jeden Wunsch erfüllt.» Sie drückte meine Hand etwas fester. «Toni will ein Kind, also gibt’s ein Kind. Toni will lieber am Stadtrand wohnen, schon werden die Kartons gepackt. Toni verzehrt sich nach einem Sohn, schon wird an der Produktion gearbeitet. Du fährst sogar jedes Jahr in den Skiurlaub, obwohl du nicht einmal Ski laufen kannst. Hast du auch nur einmal in den vergangenen Jahren darüber nachgedacht, was du eigentlich willst?»
Ja, das hatte ich. Vorhin im Kino. Aber dann hatte ich das Grübeln lieber eingestellt, weil ich mich mit meinen Gedanken im Kreis drehte. Natürlich hatte Elissa nicht ganz unrecht. Aber es war mir nie schwergefallen, mich nach Tonis Wünschen zu richten. Ich hatte mich genauso über die Kinder gefreut wie er, und auch ich hatte nach Hannas Geburt im Grünen wohnen wollen.
«Es geht mir gut mit Toni. Er ist ein toller Mann!» Hörte sich das für Elissa genauso verzweifelt an wie für mich?
«Das mag ja sein, das habe ich nie bezweifelt. Toni ist charmant und aufmerksam, aber er ist auch ein Mann mit südländischem Blut, trotz der roten Zotteln auf seiner Rübe. Und was man den Italienern so nachsagt, das passt ja wohl auch auf deinen niedlichen Feuermelder: spontan, erfolgsorientiert, Patron und damit Bestimmer in der Familie …»
«Übertreib nicht. Für mich kommen doch auch mein Mann und meine Kinder an erster Stelle.»
«Nach Oke!», witzelte meine Freundin.
Ja, wohin gehörte Oke in meiner Prioritätenliste? Immerhin hatte ich den schönen Koch geküsst, und die Erinnerung daran war keineswegs unangenehm. Im Gegenteil: Oke küsste besser als Toni. Oder anders. Fordernder, gieriger. So hatte mein Mann mich noch nie geküsst. Jedenfalls konnte ich mich nicht daran erinnern.
«Ach, Elissa. Muss ich jetzt mein ganzes Leben in Frage stellen? Ich will nicht, dass sich etwas ändert.»
«Nein, das musst du nicht. Natürlich wäre es Toni gegenüber nicht fair, aber du bist meine Freundin, und mir ist wichtig, dass es dir gut geht. Wenn dir danach ist, kannst du hier eine heiße Affäre haben und danach ganz gemütlich wieder zu deinen Lieben eiern, mit schönen Erinnerungen und einem tollen Gefühl im Bauch.» Sie ließ meine Hand los, um sich das Kissen im Rücken zurechtzuklopfen. «Wenn du willst, kommst du einfach in ein oder zwei Wochen wieder her. Oke kann mit so einer Beziehung bestimmt gut leben, der hat sowieso nicht viel Zeit. Und Toni wird das gar nicht merken. Wusstest du, dass 2010 das Jahr der Seitensprünge war? Warum solltest du nicht auch mal mit dem Trend gehen?»
«Du bist ja nicht ganz dicht. Das könnte ich nie. Und ich muss Toni auf jeden Fall von diesem Kuss erzählen.» Ich versuchte, überzeugt zu klingen.
«Von einem simplen Kuss?» Elissa verschluckte sich fast an ihrem Champagner. «Damit machst du wirklich aus einer Mücke einen Elefanten. Oder es steckt doch mehr hinter deinem kleinen Ausrutscher, als du dir eingestehen willst. Vielleicht flattern da doch so vier bis fünf Schmetterlinge im Bauch?»
«Quatsch. Lass uns aufhören, darüber zu reden. Ich möchte einfach nur noch schlafen. Ist das okay?»
Ich wollte erst einmal selbst zu einem Urteil kommen, bevor ich meine Freundin über mich urteilen ließ.
«Nein, das ist nicht okay.» Elissa sprang vom Bett auf. «Immerhin ist heute mein Geburtstag. Du stehst jetzt auf, gehst heiß duschen, und dann ziehen wir uns nett und warm an und machen einen Spaziergang. Vielleicht einen Schaufensterbummel? Oder einen kleinen Marsch am Strand entlang? Wir können nach Kampen oder nach Keitum fahren, wenn du willst. Und danach lade ich dich zum Essen ein. Ich verspreche, nicht an den Kellnern herumzunörgeln und das Essen wirklich zu genießen. Komm schon, raff dich auf. Wir müssen sowieso noch raus, der Kühlschrank ist fast leer.»
Mir war klar, dass ich gegen Elissa keine Chance hatte. Auch wenn ich mich am liebsten ganz tief unter der Bettdecke verkrochen hätte, um mich vor der Welt und allen Anrufern zu verstecken, blieb mir nichts anderes übrig, als genau das zu tun, was sie wollte. Vielleicht würde mich der Spaziergang ja vom Grübeln ablenken.
Wir fuhren nach List und spazierten weit an der Oststrand-Promenade entlang, dick eingekuschelt in unsere Mäntel. Die meiste Zeit schwiegen wir und sahen uns am endlos scheinenden grauen Meer, dem strandkorblosen glatten Strand und den weiß gefrorenen Ästen der Bäume vor dem strahlend blauen Himmel satt. Mein Handy hatte ich ausgeschaltet, nachdem ich vorsorglich Okes Nummer gespeichert hatte, um vorbereitet zu sein, falls er erneut versuchte, mich zu erreichen.
Wenn wir uns unterhielten, dann über belanglose Dinge wie die eisigen Temperaturen, Elissas Geburtstagsgeschenke oder die Hunde, die uns begegneten. Oke und Toni ließen wir bewusst aus.
Als es anfing zu dämmern, fuhren wir mit dem Auto nach Rantum in die Hörnumer Straße zur Sansibar, seit Jahren eines der angesagtesten Restaurants der Insel. Prominente gingen hier ein und aus, und die Touristen liebten die feine Küche von Herbert Seckler und seiner Crew. Im Sommer konnte man draußen sitzen und die Füße im Strandsand wärmen, während man sich mit Köstlichkeiten verwöhnen ließ.
Aber auch jetzt war die «Hütte in den Dünen» rappelvoll. Draußen, unter der Dachrinne und am Geländer der Terrasse zum Strand, hingen Lichterketten. Drinnen wäre allein die Dekoration einen Besuch wert gewesen. Es sah aus, als hätte jemand zwischen den holzvertäfelten Wänden mehrere Weihnachtsbäume explodieren lassen. Unter der Decke des mit schlichten Holzmöbeln eingerichteten Restaurants hingen Tannenzweige und Hunderte Anhänger: Engel, Weihnachtsmänner, winzige Schlitten, Sterne und Schneemänner. Ich war sprachlos.
Wir setzten uns an einen Tisch gegenüber der Bar. Elissa rutschte gleich auf die Bank mit dem Rücken zum Fenster, damit ich hinaussehen konnte, solange es noch etwas Tageslicht gab.
Im ganzen Raum roch es angenehm nach Rotwein, gebratenem Knoblauch und Gewürzen. Die Sansibar war nicht zuletzt für ihren sensationellen Weinkeller und für das exzellente Frühstücksbuffet bekannt, aber Elissa war vor allem wegen des warmen Essens Stammgast hier. Um uns aufzuwärmen, bestellten wir beide zunächst den hauseigenen Glühpunsch.
Ich ließ mich auf dem Stuhl zurückfallen, schaute hinaus in die immer grauer werdende Unendlichkeit und entspannte mich in der wohligen Wärme. Alles würde sich irgendwie finden. Wahrscheinlich musste ich nur gut essen, leckeren Wein trinken und dann eine Nacht tief und fest schlafen, und morgen würde ich mit der Lösung für mein Problem aufwachen.
«Was isst du denn? Auf jeden Fall sollten wir einen Wein von Robert Bauer nehmen, den gibt’s nicht überall. Als Tagesessen gibt es heute Haxen vom Susländer Schwein auf geschmortem Spitzkohl mit Sylter La Ratte Kartoffeln. Oder als Spezial ein Filet von der Lachsforelle mit grünen Bohnen. Aber vielleicht nehme ich lieber die Trüffelravioli mit Spinat und Parmesan. Was meinst du?» Elissa benahm sich, als verbrächte sie einen völlig normalen Geburtstagsabend mit ihrer Freundin aus Brandenburg, und ich war ihr dankbar für ihre Feinfühligkeit.
«Was sind denn La Ratte Kartoffeln?» Manchmal überforderte Elissa mich mit ihrer Fachkenntnis in Sachen Feinkost.
«Das ist eine alte französische Sorte. Festkochend. Hast du schon mal von Bamberger Hörnchen gehört? Nee, klar.» Offensichtlich war an meinem Gesichtsausdruck abzulesen, dass außer Linda festkochend kaum etwas in meinem Topf landete. Elissa formte mit den Fingern ein Oval. «So ähnlich sehen die aus, etwas länglich und gebogen. Sehr lecker. Und bevor du fragst: Susländer Schweine können immer fressen und saufen und sich frei bewegen, die Futtermittel sind garantiert frei von Antibiotika und chemischen Zusätzen.»
«Vielleicht nehme ich erst einmal die Kraftbrühe mit Flädle, und danach suche ich das Hauptgericht aus», überlegte ich laut. «Ich habe einen unglaublichen Hunger.»
Elissa sah kurz auf ihre Handyuhr, legte die Speisekarte auf den Tisch und stand auf. «Kannst du dann bitte für mich mitbestellen, falls jemand fragt? Ich nehme auch die Suppe und dann das Tagesgericht. Lass dir einen Wein empfehlen, der dazu passt. Ich gehe kurz auf die Toilette.»
Ich nickte und vertiefte mich wieder in die Karte. Alles las sich so unglaublich lecker. Ich schwankte noch zwischen Gulasch vom Black Angus Rind mit Rotkohl und Sylter Kartoffeln und Leberkäse von der Metzgerei Maier, als ich plötzlich Hände auf meinen Schultern spürte. Jemand küsste meinen Scheitel, und mir wurde auf der Stelle so heiß, als stünde ein Saunaofen neben meinem Stuhl.
Dann setzte Oke sich mir gegenüber auf Elissas Platz und lächelte mich an. «Moin.»
«Hallo.» Ich bekam eine Gänsehaut am ganzen Körper.
«Elissa hat mir eine SMS geschickt, dass ihr hier seid. Ich wollte mit dir sprechen.»
«Das ist jetzt gerade nicht so günstig. Elissa ist nur auf der Toilette und kommt gleich zurück, und wir sind sehr hungrig, und ich muss das Essen für uns bestellen.»
Was redete ich denn da für einen gequirlten Mist? Und dies und das, Oke musste denken, dass ich in meinem Alter schon an ersten Ausfällen der Gehirntätigkeit litt. Brach mir etwa gerade der Schweiß aus? Setzten jetzt auf einen Schlag die Wechseljahre ein?
«Ilse, warum bist du heute früh einfach verschwunden? Warum hast du dich den ganzen Tag nicht gemeldet? Ich hatte gestern nicht den Eindruck, dass wir irgendetwas gemacht haben, was du nicht gewollt hättest. Ganz im Gegenteil.» Er sah traurig aus.
«Oke, ich bin verheiratet und zweifache Mutter. Und du bist so jung, dass du fast mein Sohn sein könntest.» Gut, dass ich mir nicht selber zuhören musste. Das war ja schlimmer als in einem Rosamunde-Pilcher-Film. «Ich habe keine Ahnung, was zwischen uns gelaufen ist, aber viel kann es nicht gewesen sein. Immerhin war ich heute Morgen noch komplett angezogen.»
«Hast du eine Ahnung, was man trotz Klamotten alles anstellen kann!» Oke versuchte zu grinsen, zog aber eher eine Grimasse. «Ich mag dich, Ilse. Du sahst so hilflos und allein aus, wie du da neben Elissa im Restaurant gesessen hast. Als du anfingst zu essen, konnte ich fast fühlen, wie ausgehungert du bist. Nicht nach Lebensmitteln, sondern nach Erlebnissen und Abenteuern, ausgehungert nach Neuem und Besonderem. Natürlich wusste ich, dass du verheiratet bist und dass du das auch gern bist. Aber ich habe eben auch gesehen, dass es vielleicht eine Lücke zu füllen gibt. Nicht nur mit ausgezeichnetem Essen. Der Gedanke, diese Lücke zu füllen, hat mich von Anfang an gereizt.»
Was für eine Rede für den wortkargen Mann von der Küste. Und ich musste zugeben, er hatte nicht ganz unrecht. Besonders viele neue Dinge hatte ich in den vergangenen Jahren nicht erlebt. Doch bisher hatte ich das eher als beruhigend und angenehm empfunden, weil ich wusste, was mich erwartete. Überraschungen bedeuteten für mich Unruhe, darauf konnte ich verzichten. Genau wie auf die Unruhe, die dieser schöne Mann gerade in mein Leben brachte.
«Oke, ich …»
«Ja, ich weiß.»
Da hatte er mir einiges voraus. Ich wusste nämlich momentan gar nichts. Vermutete allerdings, dass gleich Kurt Felix auftauchen würde, um mit der versteckten Kamera mein blödes Gesicht abzufilmen.
«Oke, es ist nichts passiert. Ein Kuss, über den ich ein bisschen länger nachdenken muss als über die Folge einer Vorabendserie, aber das war’s auch schon. Ich fahre morgen nach Hause zu meiner Familie und werde dich in besonderer Erinnerung behalten.» Hatte ich tatsächlich gerade einen dermaßen blöden Satz von mir gegeben?
Oke stand auf. «Das wollt ich ja bloß wissen. Na denn … tschüs.» Abwartend blieb er neben meinem Stuhl stehen.
Ich sah mich über die Schulter nach Elissa um. Die musste doch langsam von der Toilette zurückkommen und mich aus dieser Situation retten? Noch immer stand Oke da und starrte mich an. Das Personal in der Sansibar war so feinfühlig, ihn nicht nach seinen Getränkewünschen zu fragen, was mir jetzt als Ablenkung gerade recht gewesen wäre. Der Typ an der Bar nickte Oke zu. Klar, unter Wirtsleuten kannte man sich.
Oke winkte zurück und klopfte dann auf den Tisch. «Na denn, man sieht sich.» Und schon war er verschwunden.
Mir blieb ein dicker, fetter Kloß im Hals. Natürlich fühlte ich mich geschmeichelt, dass ein so interessanter und so viel jüngerer Mann ausgerechnet mich wollte. Aber ich war gern verheiratet, ich liebte meinen Mann und meine Kinder. Noch nie in meinem Leben hatte ich in einer derartigen Zwickmühle gesteckt, noch nie so die Kontrolle verloren. Konnte man sich als fast Vierzigjährige einfach so in jemand Neues verlieben? Waren das Schmetterlinge in meinem Bauch, oder war das nur der gärende Restalkohol? Ich saß immer noch mit dem Vanilleduft von Oke in der Nase da, als Elissa sich wieder auf ihren Platz setzte.
«Den Wein und die Suppen habe ich schon mal bestellt, du hattest ja zu tun, wie ich gesehen habe. Tut mir leid, aber ich musste Oke Bescheid geben, wo wir sind. Er tat mir einfach leid.» Elissa nahm ihre Serviette und begann, sie auf immer neue Arten zusammenzufalten. «Ilse, du kannst diesen Mann nicht einfach wegschieben wie einen Haufen alten Schnee. Der hat sich in dich verknallt. In deine stille Art, deine Freude am Genuss und in deine freundlichen braunen Augen. So habe ich den noch nie erlebt.» Sie legte beide Hände auf den Stofflappen, der inzwischen komplett zerknüllt war, und sah mich an. «Frauenmäßig hat Oke immer mal wieder etwas am Start, aber das war bisher eher zum Wärmen für kalte Nächte. Er hat sich immer hinter seinem Job versteckt und behauptet, er sei für eine Beziehung nicht gemacht.»
Das sagte die Richtige. «Kommt mir bekannt vor. So jemanden kenne ich auch.»
«Ja, mit dem Unterschied, dass ich überzeugt bin von diesem Leben», wehrte sich Elissa. «Ich möchte nicht zu Hause bleiben müssen, weil ich kein Kindermädchen finde, und ich will nicht, dass jemand anderes für mich das Fernsehprogramm aussucht.» Sie deutete in Richtung Fenster, als würde sie ganz Sylt in ihre Überlegungen einbeziehen. «Wenn ich morgen keine Lust mehr habe, hier auf der Insel Restaurants zu testen, dann gehe ich vielleicht wieder nach Berlin oder berate Fernsehstationen und Produktionsfirmen sonst wo. Natürlich bin ich manchmal traurig und einsam.» Mit einem Mal wurde sie stiller, während sie versuchte, mir ihre Gefühle zu beschreiben. «Zum Beispiel sonntagmorgens oder an Weihnachten, wenn alle bei ihren Familien sind. Aber diese wenigen traurigen Tage möchte ich nicht gegen all diejenigen tauschen, an denen es mir phantastisch geht. Wenn ich deine E-Mails lese und höre, wie dein Leben abläuft, erkenne ich manchmal nichts von der kessen und abenteuerlustigen Ilse wieder, mit der ich zur Schule gegangen bin.»
«Ich gebe zu, manchmal ist mein Leben langweilig», räumte ich ein. «Deswegen habe ich ja angefangen, die Partys zu geben. Du ahnst nicht, was sich manchmal zwischen Tangas und Bodys für Dramen abspielen.»
«Aber es sind nicht deine Dramen, sondern die von irgendwelchen Frauen, die du nie wiedersiehst. Das ist doch nichts anderes als Fernsehen. Ilse, du kannst Oke nicht einfach wieder aus deinem Leben löschen und weitermachen wie bisher.»
Wohin führte dieses Gespräch? In meinem Kopf purzelten Gedanken, Erinnerungen und Gefühle durcheinander und richteten ein unglaubliches Chaos an. «Ich will ihn doch nicht einfach wegschieben, aber ich kann auch nicht mein Leben um hundertachtzig Grad drehen.»
Elissa ließ den Kellner, der an unseren Tisch getreten war, Wein einschenken, kostete und nickte zustimmend. Er stellte die Flasche auf dem Tisch ab und verschwand.
«Niemand erwartet von dir, dass du nach Hause fährst, deine Koffer packst und sofort ein neues Leben beginnst. Sei etwas entspannter und mach nicht aus allem gleich so eine Riesennummer.» Sie trank einen riesigen Schluck aus ihrem Weinglas, um sich gleich darauf nachzuschenken. «Kümmere dich einfach mal um dich und um dein Seelenleben. Du wirst doch nicht mit der Ehrenmedaille für die treueste aller Ehefrauen ausgezeichnet, wenn du nie wieder jemand anderen an deine Lucinda-Dessous lässt als Toni!»
«Als Mutter und Ehefrau, altersmäßig nah an den Wechseljahren, nehme ich mir mal eben einen jugendlichen Liebhaber, und alles ist gut? Meinst du das?»
Ich wollte diese Diskussion nicht, ich wollte nicht darüber nachdenken, was ich vielleicht an meinem gemütlichen und durchgeplanten Leben ändern sollte.
«Eigentlich habe ich von deinem Seelenleben gesprochen. Aber wenn ich es mir recht überlege: Insgeheim hattest du doch immer schon einen Hang zu wildem Sex.» Elissa grinste und leckte sich mit der Zunge über die Lippen. «Sonst würdest du nicht diese scharfe Wäsche vertickern. Ersatzhandlung nennt man so etwas auch. Man sucht sich einen Ausgleich für die Dinge, die man sich nicht zugesteht. Manche Menschen essen Schokolade und werden fett, andere verdaddeln ihr Vermögen am Spielautomaten, und du wühlst in BHs und Schlüppern.»
«Aaaahh ja. Vielen Dank für diese Analyse, Frau Freud. Ich hatte bisher angenommen, dass ich den Job bei Lucinda-Dessous angefangen habe, weil ich wieder unter Leute kommen und eigenes Geld verdienen wollte. Aber nein, in Wirklichkeit mache ich das nur, weil Toni es mir nicht richtig besorgt! Was für ein Glück, dass du mir die Augen geöffnet hast.»
«Ilse, sei doch nicht sauer. Ich finde nur, es ist an der Zeit, dass du dir etwas in deinem Leben gönnst.»
«Einen Lover!» Natürlich, das war typisch für Elissa, mir allen Ernstes einen solchen Vorschlag zu machen.
«Ja. Meinetwegen. Oder einen Urlaub auf dem Traumschiff oder deinen Meister in Fotografie. Was immer du willst. Vergiss einmal deine Familie und versuch, dir vorzustellen, was du tun würdest, wenn wir beide hier in einer Wohngemeinschaft hausen würden. Versuche, nur mit dem Herzen herauszufinden, wie du über Oke und seine Annäherungsversuche denken würdest. Meine Güte! Tut mir leid, dass ich es so hart sagen muss, aber wann bist du bloß zu einer so engstirnigen und spießigen Tante geworden?»
Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen traten. Zum Glück saß ich mit dem Rücken zu den anderen Gästen. «Ich bin doch nicht engstirnig! Und Spießer sind Leute wie deine Nachbarn damals in Flensburg, bei denen schon morgens der Fernseher lief, wenn wir in die Schule gingen. Da gab es keine Pläne oder Ideen oder Ausflüge.»
«Und wenn du dich erinnerst, waren Spießer für uns auch die Menschen, die mit ihrer kleinen Bilderbuchfamilie in ihrem Häuschen auf dem Land wohnten, die immer in dieselben Orte in den Urlaub fuhren und bei denen es sonntags feines Essen gab und Vati für das große Geld sorgte.»
Als der Kellner mit unserer Suppe kam, wischte ich mir mit der Serviette die Tränen aus den Augen und griff nach dem Löffel. «Dann bin ich eben eine Spießerin. Vielleicht ist das gar nicht so schlimm, wie wir früher dachten. Jedenfalls hat es mich bis gestern nicht gestört, in Falkensee zu wohnen, mich in erster Linie um meine Familie zu kümmern und meinem Mann treu zu sein.»
«Treu sein, wenn einen kein anderer will, ist ja auch keine Kunst. Richtige Treue ist es doch erst, wenn es ein Angebot gibt. Und was heißt überhaupt ‹bis gestern›? Hat Oke also doch irgendetwas auf den Kopf gestellt?»
«Ich weiß nicht, ob ich so weit gehen würde. Aber er ist mir nicht egal.»
«Ha!» Elissa kippte den Rest ihres Rotweins herunter und schenkte sich schon wieder nach.
«Trotzdem – wie lange ich auch darüber nachdenke, es ändert nichts an meiner Situation. Ich bin Ilse Romagnolo, fast vierzig Jahre alt, verheiratet und Mutter zweier Kinder. Das Außergewöhnlichste an mir ist mein kleiner Job mit den Dessous.»
«Klingt wie bei irgendeiner miesen Reality-Show.» Elissa ahmte meinen Tonfall nach. «Hallo, ich bin die Ilse, und ich suche das Glück. Bisher leider erfolglos, aber beim Sender meines Vertrauens wird mir sicher geholfen. Mensch, wach auf. Du musst dich selbst um dein Leben kümmern, wenn sich etwas ändern soll.»
Schon wieder fühlte ich mich unter Rechtfertigungszwang. «Aber ich habe nie etwas anderes gewollt. Ich war glücklich mit meinen Kindern und Toni.»
«Hast du dir jedenfalls erfolgreich eingeredet! Ich kann mich noch an andere Pläne erinnern: Du wolltest Fotografin werden und warst auf einem guten Weg dahin. Jetzt knipst du nur noch deine Kinder, wenn ihr Geburtstag feiert.» Elissa zerrupfte das Brot aus dem Korb auf dem Tisch, als wäre es mein Leben. «Du wolltest dir die Welt ansehen und überall neue Motive für deine Ausstellungen finden. Jetzt fährst du höchstens in den Schnee oder nach Usedom. Niemand zwingt dich, jetzt und heute irgendetwas zu entscheiden. Niemand wird darüber urteilen, was du am Ende für dich wählst. Aber vielleicht nimmst du diese Geschichte als Denkanstoß.» Sie nahm den letzten großen Schluck aus ihrem Glas, bevor sie weitersprach. «Und jetzt mache ich dir einen Vorschlag: Wir bestellen gleich noch einen Wein und dann noch einen und reden in den nächsten Stunden nur noch über deine Dessous und meine liebsten Restaurants.» Wenn ich mir ansah, mit welcher Geschwindigkeit sie die rote Flüssigkeit wegkippte, wollte Elissa diese Idee anscheinend sofort in die Tat umsetzen. «Ich bin deine Freundin, und das bleibe ich auch, obwohl die verdammte Suppe inzwischen kalt ist. So einen Geburtstag hatte ich jedenfalls noch nie.»
Das klang für mich nach einem vernünftigen Plan: alles erst einmal sacken zu lassen, meine Gefühle zu prüfen und ansonsten das Leben laufen zu lassen. Vielleicht war es an der Zeit, das zu lernen. Und es war mit Sicherheit an der Zeit, die Suppe zu essen.