Einige Monate später

Der Wind war so eiskalt, dass mir die Augen tränten. Die Böen zerzausten mein Haar, und ich ärgerte mich, dass ich die Mütze bei Elissa vergessen hatte, als ich zu meinem Spaziergang am Meer aufgebrochen war. Zwar hatte ich mich in meine wärmste Jacke gekuschelt und die unsexy Skiunterwäsche angezogen, aber der Nordseewind war einfach mächtiger als jedes Kleidungsstück, das ich in meinem Schrank hatte. Dennoch genoss ich das Gefühl der Atemlosigkeit, wenn eine neue Böe mir mit voller Wucht von vorn ins Gesicht schlug. Ich betrachtete die Wellen und den Flutsaum und gab mich meinen Gedanken hin.

Ich war allein nach Sylt gekommen, um mit Elissas Hilfe meine erste kleine Fotoausstellung auf die Beine zu stellen. Meine allerbeste Freundin war inzwischen häufiger in Berlin und würde gegen Ende dieses neuen Jahres vielleicht sogar komplett in die Hauptstadt übersiedeln. Die Fernsehsendung, die sie beriet, hatte sich zu einem echten Straßenfeger entwickelt, sodass sie beinahe wöchentlich bei der Produktionsfirma auftauchen musste. Außerdem fand sie es spannend, in der neuen «Hauptstadt der Vegetarier» Restaurants zu entdecken.

Nach Ostern sollte meine Vernissage in Okes Restaurant stattfinden. Dort würde man meine Fotos dann drei Monate lang ansehen können. Elissa und ich wollten zusammen die Motive aussuchen und uns um die Rahmung kümmern. An den letzten Wochenenden hatte ich mir in und um Berlin meine Motive gesucht, dafür brauchte ich keinen von der Innung abgesegneten Meistertitel. Ich hatte außergewöhnliche Typen getroffen und besondere Gesichter abgelichtet. Lächelnd, traurig und ernst würden diese Menschen demnächst im Großformat in Westerland von den Wänden schauen. Zwar keine große Galerie und keine Ausstellungshalle, aber es war ein Anfang. Doch, ich war durchaus ein bisschen stolz auf mich.

Für Oke fiel mein neuer Anfang mit einem eigenen Neustart zusammen. Er hatte sich entschieden, mit seiner Freundin nach Süddeutschland zu ziehen. Ihre Eltern betrieben dort eine gut gehende Pizzeria und trugen sich schon lange mit dem Gedanken, ein zweites, edleres Restaurant zu eröffnen. Da kam ihnen der Neue ihrer Tochter gerade recht. Oke war bis über beide Ohren verknallt und konnte sich tatsächlich vorstellen, mit seiner Liebsten sesshaft zu werden. Wir beide hatten uns ausgesprochen und zu einem freundschaftlichen Ton gefunden. Ich gönnte ihm sein Glück von Herzen, und in meinem würde er immer einen besonderen Platz haben. Aber mit seinem Umzug würde er nicht nur von der Insel, sondern wahrscheinlich auch aus meinem Leben verschwinden.

Toni wollte mit den Kindern zur Vernissage herkommen. Unsere Ehe war auf einem guten Weg. Natürlich würde nicht gleich morgen alles wieder so sein wie zu Beginn unserer Beziehung, aber der Anfang war gemacht. Es war uns klargeworden, dass uns nichts von all den anderen Paaren unterschied, die im Alltag über Kindererziehung und Steuererklärung ihre Gefühle füreinander verloren und vergaßen, warum sie sich einst ineinander verliebt hatten. Doch anders als andere Paare hatten wir gerade noch rechtzeitig die Reißleine gezogen. Anders als andere Paare waren wir dank unserer Bindung gegenüber äußeren Reizen immer noch fast immun. Anders als bei anderen war unsere Liebe so stark, dass wir selbst beim schlimmsten Streit noch lachen konnten, dass wir nicht vergessen hatten, was dem anderen guttat und was sein Leben bereicherte. Mir war klar, dass Toni nie weniger arbeiten würde als jetzt. Aber die vergangenen Wochen hatten mich gelehrt, wieder mehr auf meine innere Stimme zu hören. Mich an das zu erinnern, was ich einmal vom Leben gewollt und über meinen Kindern und dem Haus und den Dessous fast vergessen hätte.

Toni, Hanna und Tom hatten mir zu Weihnachten ein neues Objektiv für meine Kamera geschenkt. Statt meinen Geburtstag mit der geplanten Überraschungsparty zu feiern, hatte Toni die Kinder davon überzeugt, mir gemeinsam ein Fotolabor im Keller unseres Hauses einzurichten, sodass ich meine alte Leidenschaft wieder aufleben lassen und wie früher meine Schwarz-Weiß-Abzüge selber machen konnte. Aus der großen Überraschung war also doch noch etwas geworden.

Hanna war tatsächlich verliebt, in einen Jungen aus der Klasse über ihr. Toms Informationen hatten also nicht ganz der Wahrheit entsprochen. Nach langem Zögern hatte sie Titus mit zu uns nach Hause gebracht, damit wir ihn «abchecken» konnten. Er entpuppte sich als ein kluger netter Kerl mit einem Hang zur Ironie. Toni murrte zwar, dass sein kleines Mädchen viel zu jung für eine Beziehung sei. Aber nach einem peinlichen Abendessen, während dem er den armen Jungen mit Fragen nach seinen Alkohol- und anderen Drogenerfahrungen, den Berufen seiner Eltern und seinen eigenen Zukunftsplänen bombardierte, gab er es auf, Hanna ständig hinterherzutelefonieren, sobald sie das Haus verließ.

Nach der Vernissage würde ich nach London fliegen. Mit Sylvia. Wir waren zwar nicht die dicksten Freundinnen, aber während ihres fast zweiwöchigen Aufenthalts bei uns war ich auf ihren guten inneren Kern gestoßen. Sie hatte in diesen Wochen vor allem Hanna zur Seite gestanden, die in ihrer ersten Verliebtheit gerne mit einem Erwachsenen reden wollte, aber natürlich auf keinen Fall mit mir oder ihrem Vater. Letztendlich war sie es gewesen, die Hanna den Anstoß gab, uns von ihrem Liebsten zu erzählen. Und wir beide lernten uns bei manch einer gemeinsam gekillten Flasche Prosecco besser kennen. Sylvia stellte mich einer Reihe von Freunden ihres baldigen Exmannes vor, die in der Berliner Kunstszene unterwegs waren und mir bei den ersten Schritten in mein neues Berufsleben helfen würden. Außerdem begleitete sie mich auf meinen Fototouren durch ganz Brandenburg und Berlin, wobei sie sich als talentierte Motivsucherin mit einem feinen Blick für besondere Gesichter entpuppte. Die endlos gewälzten Kataloge über Nasen und Wangenpartien waren also schließlich doch noch zu etwas gut gewesen.

Sylvia hatte sich endgültig von ihrem «Männe» getrennt. Ihr war klargeworden, dass sie und Manfred sich unterschiedliche Dinge voneinander und vom Leben wünschten. Und nachdem sie ihre verletzte Eitelkeit überwunden hatte, hatte sie sich darauf besonnen, neu zu beginnen. Mit Männes finanzieller Unterstützung, versteht sich. Der zeigte sich großzügig und kaufte ihr eine schöne Altbauwohnung in Berlin-Charlottenburg. Sylvia übernahm meinen Job bei Lucinda-Dessous und entdeckte dabei ihre Geschäftstüchtigkeit. Hier konnte sie ihre eigene Begeisterung für edelste Kleidung ungefiltert an die Kundinnen weitergeben und fuhr so wesentlich höhere Umsätze ein, als ich es je vermocht hätte. Die anfängliche Angst, ihre «Freundinnen» könnten sich über sie lustig machen, weil Männe mit der dicken Buchhalterin zusammenleben wollte, schlug schnell in Zufriedenheit um, als sie spürte, dass von ihnen statt Häme eher Mitleid kam. Die Yogatruppe veranstaltete sogar eine Party für die verlassene Ehefrau, um sie aufzumuntern. Bedauern und Neugier führten zu immer mehr Anfragen für Dessous-Partys, und rasch war Sylvia wieder da, wo sie am liebsten sein wollte: im Mittelpunkt.

Das Jahr hatte gerade erst begonnen, aber es war schon so viel passiert, dass eigentlich Juli sein müsste. Ich war gespannt auf alles, was die Zukunft für mich bereithielt.

Auf einmal war der Wind nicht mehr schneidend, sondern nur noch frisch. Die Möwen sangen, statt zu kreischen, und die Gischtkronen auf dem bewegten Meer erinnerten mich an Sahnehäubchen. In diesem Moment brach die Wolkendecke auf, und zwischen dem Grau in Grau schimmerte gelblicher Sonnenschein.