6. Kapitel
Das Restaurant von Elissas neuem Freund, dem Koch, lag ein klein wenig abseits der touristischen Hochburgen der Insel. Aber über eine lange Treppe, «Himmelsleiter» genannt, konnte man auch hier in wenigen Minuten über den Deich zum Strand gelangen.
Hier sollte also morgen die große Party steigen. Das Luxushotel war ein Komplex aus mehreren Gebäuden, die zwar groß, aber nicht übermächtig vor den Deich gebaut worden waren. Vor der Eingangstür standen die typischen weißen Friesenbänke, ein Fußabstreifer, an dem man die sandigen Strandschuhe säubern konnte, und es gab einen Ring, an dem im Sommer die Hunde angeleint werden konnten. Jetzt allerdings grinste der Comic-Hund darüber ins Leere.
Im ersten Fahrstuhl gab es nur zwei Knöpfe, einen fürs Erdgeschoss und einen für das Restaurant im vierten Stockwerk des Hotels. Also sauste ich in gefühlter Lichtgeschwindigkeit an allen fremdvermieteten Betten vorbei. Wenige Sekunden später öffnete sich die Fahrstuhltür vor meinem Ziel.
Beim Eintreten in das Restaurant war ich einen Moment sprachlos. Von hier oben hatte man einen phantastischen Blick auf die Nordsee. In der Ferne blinkten die Lichter von Schiffen. Der Mond, der inzwischen in voller Pracht am Himmel stand, zauberte silberne Sterne auf die Brandung. Durch die fast sichtbare Kälte vor den Fenstern wirkte die Atmosphäre hier drinnen noch heimeliger. Der Eingang zum Restaurant war mit Elchen aus dunklem Holz und kleinen Weihnachtsbäumchen mit glänzenden roten Schleifen weihnachtlich geschmückt. Auf den Tischen traten ihre winzigen Zwillingsgeschwister an. Etwas kitschig, aber mir gefiel’s. Dazu roch es leicht nach Zimt und Rotwein und ganz entfernt nach gebratenem Fleisch.
«Ilse, hier bin ich, huhuuuuu!»
In einer Tonlage deutlich über Zimmerlautstärke rief mich Elissa von einem Tisch am Fenster. Sofort drehten sich mindestens zwanzig Leute in dem gut gefüllten Restaurant erst zu ihr, dann nach mir um. Ich beeilte mich, zu meinem Platz zu kommen, und ließ mich schnaufend auf einen Stuhl gegenüber von Elissa fallen.
«Puhhh. Hallo. Wartest du schon lange?»
«Nö, aber ich habe uns schon mal einen Sekt bestellt.» Sie beugte sich über den Tisch und griff nach meinen Tüten. «Was hast du denn alles eingekauft? Ist ein tolles Kleid für morgen Abend dabei?»
«Mitbringsel für Toni, Oma Etti und die Kinder. Und superbequeme Schuhe habe ich gefunden, schön warm für die Spaziergänge beim Skiurlaub nach Weihnachten.»
«Bequem? Ich dachte, du lässt es mal richtig krachen und gönnst dir was von deinen Schlüpfer-Piepen. Mensch, Ilse, wenn ich deine Beine hätte, wäre ich heute sofort in den ersten Schuhtempel gewandert und hätte mir richtig scharfe Stiefel geholt. So bis übers Knie, was meinst du, was Toni für ein Auge reißt, wenn du damit nach Hause kommst!»
Sofort fing ich wieder an, mich und meinen Mann zu verteidigen: «Das ist gar nicht notwendig. Toni liebt mich auch in bequemen Schuhen. Und im Schnee würde ich mir ohne wasserfeste Treter sofort Frostbeulen holen. Außerdem habe ich schon schwarze Overknee-Stiefel, habe ich sogar mitgebracht. Vielleicht ziehe ich die morgen an, damit du mich nicht länger für einen modischen Totalausfall hältst.»
Elissa lächelte mich entschuldigend an. «Sorry, Süße. Ich hab es ja nicht so gemeint. Du Ärmste, wahrscheinlich wünschst du dir jetzt, zu Hause bei deinen Liebsten zu sitzen und hausgemachte Spaghetti von Oma Nudel zu essen, statt dir hier mein Genöle anzuhören.»
Gespräche unter Freundinnen waren einfach etwas Wunderbares.
«Ach, Quatsch. Zu Hause sitzen wir gar nicht alle abends zusammen. Hanna ist oft bei Freunden. Toni hat in letzter Zeit so viel zu tun in der Agentur, dass ich froh bin, wenn wir uns zum Frühstück sehen, und Tom muss zeitig schlafen gehen, wenn am nächsten Tag Schule ist.»
«Klingt so gar nicht nach trautem Heim und glücklicher Familie. Bist du zufrieden mit deinem Leben und mit deinem Mann?»
«Was heißt denn hier trautes Heim?» Wie oft hatten wir über dieses Thema in alkoholgeschwängerten Nächten schon diskutiert und waren doch nie einer Meinung gewesen? «Es ist doch vollkommen normal, wenn man nicht dreimal täglich zusammen die Mahlzeiten einnimmt. Wie soll denn das auch gehen, wenn die Eltern beide arbeiten wollen? Und nur weil man wegen seines Berufs viel unterwegs ist und gern viel arbeitet, heißt das nicht, dass man gleich die ganze Beziehung in Frage stellen muss. Eine Ehe über lange Jahre ist auch Arbeit, man muss sich anstrengen, sich nicht gehenlassen und versuchen, für den Partner attraktiv und interessant zu bleiben.»
«Aus welcher Frauenzeitschrift hast du denn diese Weisheiten?», konterte Elissa unnachgiebig.
«Nun lass uns doch nicht über Toni und die Kinder reden. Ich genieße es gerade, alleine unterwegs zu sein und mich um nichts kümmern zu müssen. Es ist phantastisch, wieder auf Sylt zu sein, ganz wunderbar und sehr entspannend», lenkte ich Elissa von ihrem alten Thema ab. «Weißt du noch, was für großartige Sommer wir hier hatten? Und nun sitzen wir hier in einem feinen Restaurant und können es uns so richtig gut gehen lassen.» Ich lehnte mich zurück und sah mich im Restaurant um. «Außerdem finde ich es natürlich toll, mal nicht selbst zu kochen, sondern mich einfach an einen so schön gedeckten Tisch zu setzen und mich zurückzulehnen. Wie im Paradies, wo einem die gebratenen Tauben in den Mund fliegen.» Ich streckte wohlig meine Beine unter dem Tisch aus.
«Also lebst du doch in heimlicher Knechtschaft, musst kochen und putzen und für deinen Mann allzeit bereit sein. Ich weiß schon, warum ich nicht heirate», lachte Elissa.
«Quatsch. Knechtschaft!»
«Mal ehrlich», auf einmal ernst, beugte sie sich über den Tisch. «Liebst du Toni noch so wie damals, als ihr nächtelang gequatscht habt und es morgens aufgewärmte Pizza zum Frühstück gab? Habt ihr noch eure wilden Momente, in denen nur die Liebe zählt, in denen du deine Gören vergessen kannst? Und habt ihr Abende ganz für euch, an denen ihr nicht zu müde zum Vögeln seid und euch als Ersatzbefriedigung einen guten Roten einfüllt? Woher willst du wissen, dass dein Toni Briefings schreibt und Kids für Werbespots castet, wenn er im Büro ist? Könnte ja auch sein, dass er Werbung in eigener Sache macht und sich woanders holt, was ihm sein Hausmütterchen nicht bietet?»
Ich war entsetzt. Aber statt auf eine Antwort zu warten, schnappte sich Elissa glücklicherweise meine Einkaufstaschen.
Ich war doch zufrieden mit meinem Leben? Jedenfalls hatte ich mir bis gestern wenig Gedanken darüber gemacht, ob ich mit meinen fast vierzig Lebensjahren dort angekommen war, wo ich als Zwanzigjährige einmal hingewollt hatte. Natürlich liebte ich Toni nicht mehr so wie damals. Die Schmetterlinge waren längst weitergeflattert. Stattdessen hatte ich Verlässlichkeit bekommen, tiefes Vertrauen und echte Liebe. Und das hatte ich mir doch immer gewünscht. Toni würde mich niemals betrügen. Die Kinder und die Familie gingen ihm über alles.
«Hach, da bin ich aber froh, dass du morgen nicht in Leggings und Schlafshirt hier aufschlägst!» Elissa hatte mein neues Oberteil entdeckt. «Schätzchen, das ist ja ein Traum. Ich wünschte, ich könnte so etwas tragen, aber für Klamotten mit Pailletten drauf bin ich leider viel zu klein. Damit sehe ich immer aus wie ein zu kurz geratener Weihnachtsbaum. Ich kann dir sagen, das wird ein riesiges Fest. Ich habe für die Einladungskarten ein Heidengeld ausgegeben, konnte ich auch, weil ich seit Ewigkeiten für diesen Tag Geld zurückgelegt habe. Stell dir vor, fast hundert Bekannte und Freunde! Insel-Promis und Möchtegern-Sternchen, Köche, Journalisten, alte Freunde aus Hamburg, Berlin und München! Ansonsten bekomme ich alles zum Sonderpreis. Der Koch ist noch nicht lange Küchenchef und nutzt die Party als Werbung für sich. Soll mir recht sein.»
Elissa wurde vom Kellner unterbrochen, der zwei Sektgläser und ein Schälchen mit kleinen hellgrünen Kugeln auf den Tisch stellte.
«Was ist das denn Tolles?», wollte ich wissen und nahm mir eines von den Kügelchen. Sah auf jeden Fall essbar aus.
«Meine Güte, du lebst echt im Osten, oder? Das sind Wasabi-Nüsse. Die sind auf Sylt schon fast wieder out, wenn sie überhaupt je richtig in waren. Vollkommen zu Recht, wie ich finde, ekelhafte, viel zu scharfe Mistdinger.» Sie trank einen Schluck Sekt, dann ereiferte sie sich gleich weiter. «Muss ich Oke gleich sagen, das geht schon mal gar nicht. Sollen die doch einfach was von ihrem selbst gebackenen Olivenbrot und diesem wahnsinnig guten Öl hinstellen, das ist zehnmal besser als diese grüne Zumutung.»
«Ach, ich finde die ganz lecker.» Ich nahm mir gleich noch eine Handvoll der kleinen Kügelchen.
«Prost, mein Schatz. Es ist toll, dass du mitfeierst.» Elissa erhob ihr fast leeres Glas, um mit mir anzustoßen. «Und komm bloß nicht auf die Idee, irgendjemandem zu verraten, wie alt ich werde.»
«Was hast du denn auf die Einladungskarten geschrieben?»
«Kommt und feiert mit mir meinen Geburtstag bei gutem Wein und gutem Essen. Ich hoffe, die Geschenke werden auch gut.»
Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. «Das ist nicht dein Ernst, oder?»
«Natürlich», beteuerte Elissa und versuchte, ein ernstes Gesicht zu machen. «Du wirst ja in ein paar Wochen ebenfalls vierzig, das wirst du doch auch nicht herumerzählen?»
«Darüber habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht.» Hatte ich tatsächlich nicht, denn im Gegensatz zu Elissa gehörte ich nicht zu den Frauen, über denen der Vierzigste schwebte wie ein Damoklesschwert. «Eigentlich ist das für mich ein Geburtstag wie jeder andere. Im Grunde kann ich ganz entspannt sein: Ich bin verheiratet, habe zwei Kinder, einen Beruf, der mir Spaß macht …»
Elissa kippte den letzten Rest Sekt herunter und winkte nach dem Kellner, um nachzuordern. «Willst du damit andeuten, dass ich anders vierzig werde als du, weil ich kinderloser Single bin? Hör mal, Mäuschen, nimm es mir bitte nicht übel, ich hab dich wirklich sehr lieb. Aber so alt, wie du manchmal daherredest, kann ich nie im Leben werden.»
«Was soll das denn heißen?», fragte ich entrüstet zurück.
Elissa legte ihre Hand auf meine. «Nur weil ich mir vom Leben andere Dinge erhoffe als du, geht es mir doch nicht schlecht», redete sie mit mir wie mit einem verstockten Kind. «Überleg doch mal, wie sich das aus meinem Blickwinkel darstellt: Seit gut fünfzehn Jahren läuft dein Leben nach Schema F ab, der Mann ist immer derselbe, der Sex mit diesem Mann wahrscheinlich auch. Dann kam erst das eine, danach das andere Kind.» Sie hielt kurz inne, tätschelte meine Hand und schenkte mir ein bedauerndes Lächeln. «Du wohnst in Brandenburg, in einer Stadt, die die Bezeichnung ‹Stadt› eigentlich nicht verdient, und triffst die Ladys, mit denen wir schon in der Schule nichts zu tun haben wollten und die heute wie damals herumsitzen und sich langweilen.»
«Falkensee hat über vierzigtausend Einwohner und ist sehr wohl eine Stadt, und außerdem ist es fast schon in Berlin. Das kann man ja wohl mit Flensburg überhaupt nicht vergleichen.»
Ihrem Blick nach zu urteilen, hatte Elissa offensichtlich Zweifel, was den Wahrheitsgehalt meiner Ausführungen anging.
«Zum Teil sind die Menschen, die da leben, durchaus kultivierter als einiges von dem Pack, das mir heute in der Friedrichstraße über den Weg gelaufen ist», verteidigte ich mich weiter. «Und ich kann auch nicht sagen, dass ich mich langweile. Außerdem möchte ich auf keinen Fall später mal alleine dasitzen. Ohne Mann und ohne Kinder oder Enkel. Denkst du darüber nie nach?»
Sie nickte. «Doch, natürlich. Und mir graut davor, ein verhutzeltes Weibchen zu werden, das nur von seinen Erinnerungen lebt und zum Seniorenskat geht, um überhaupt jemanden zum Reden zu haben.» Sie schien kurz nachzudenken, bevor sie weitererklärte: «Oder krank zu werden, und niemand ist da, der sich um mich kümmert. Jetzt gerade bin ich ganz gerne allein. Wenn es mir zu einsam wird, rufe ich eben einen von meinen schwulen oder kinderlosen Freunden an oder fahre für ein Wochenende nach Hamburg. Fürs Rentenalter baue ich darauf, dass die Freunde, die ihr Leben jetzt ähnlich leben wie ich, später auch noch da sind. Hauptsache, es ist nicht langweilig.»
«Aber ich finde, mein Leben ist gar nicht langweilig, jedenfalls habe ich noch nie morgens dagesessen und gedacht: Was mach ich jetzt bloß mit dem langen Tag?», beteuerte ich.
«Das ist ja noch schlimmer.» Elissa schüttelte bedauernd den Kopf. «Ilse. Ich mache mir manchmal echt Sorgen um dich. Du warst so ambitioniert früher und hattest so große Pläne. Jetzt hast du nicht einmal deinen Fotoapparat mitgebracht, um auf meiner Party zu knipsen oder tolle Sylt-Bilder mit nach Hause zu bringen.»
Wie konnte Elissa bloß gleichzeitig so nachdenkliche Reden schwingen und parallel dazu derartige Mengen Alkohol trinken, ohne betrunken zu werden?
«Manchmal denke ich, dass du dir gar keine Gedanken mehr darüber machst, was du eigentlich willst», bohrte sie unbeirrt weiter. «Was dich glücklich macht und wie du dein Leben ein wenig aufregender gestalten kannst. Damit meine ich nicht einen Ausflug mit den Kindern in den Filmpark Babelsberg oder ins Legoland am Potsdamer Platz.»
«Du musst dir keine Sorgen machen. Ich bin glücklich. Und seit ich die Dessous verkaufe, bin ich noch zufriedener als vorher. Meine Tage sind ausgefüllt. Ich habe mein Haus und meinen Garten. Wir machen Urlaub und …»
«Und genau so wird es die nächsten vierzig Jahre weitergehen.» Wieder schüttelte Elissa den Kopf. «Tu mir einen Gefallen und vergiss deine Familie für die nächsten drei Tage. Wir sind alte Schulfreundinnen, die auf der schönsten Insel Deutschlands so richtig auf den Putz hauen und einen Mega-Geburtstag feiern werden.» Anscheinend reichte es Elissa jetzt wohl mit den trüben Gedanken. «Hast du eigentlich schon Pläne für deinen Vierzigsten?»
«Mir ist gar nicht danach, ein riesiges Fest zu geben», wehrte ich ab. «Kann man ja auch zum Einundvierzigsten machen, das ist dann etwas ganz Besonderes.»
Elissa verdrehte die Augen. «Also noch keine Pläne», stellte sie seufzend fest. «Wenn dir nichts einfällt, kannst du gern mit deiner Brut hier anrücken. Ich muss sowieso im Januar nach London zu einem Verlag, der einen neuen Restaurantführer machen will. Wenn deine Gören sich immer schön die Hände waschen, bevor sie sich auf meine feinen Sofas werfen, könnt ihr meine Wohnung haben.» Plötzlich hob sich ihr Blick über meine Schulter, und sie begann zu strahlen. «Und nun stelle ich dir meinen neuen Lieblingskoch vor.»
Hinter mir kam ein junger Mann mit einem Teller in der Hand auf unseren Tisch zugeeilt. Hätte Elissa ihn nicht als den Küchenchef des Restaurants angekündigt und würde er nicht eine Kochjacke tragen, hätte ich vermutet, er sei ein Praktikant ihrer Zeitung, der irgendeinen Botendienst erledigen musste. Eigentlich war der Mann noch ein Junge, wahrscheinlich hätte er rein rechnerisch unser Sohn sein können. Optisch erinnerte er mich ein bisschen an diesen Geiger, auf den Hanna und ihre Freundinnen gerade so abfuhren, David Garrett. Große blaue Augen, volle Lippen, leicht kantiges Gesicht, aber noch genug Fülle in den Wangen, um niedlich statt schön zu sein. Nach dem zu urteilen, was man unter dem Piraten-Kopftuch erkennen konnte, waren seine Haare dunkelblond und schulterlang. Mit den schmalen Hüften und breiten Schultern war er gebaut wie ein Dressman. Tatsächlich sehr appetitlich. Die Optik wurde von einem Lächeln gekrönt, das Justin Bieber in den Selbstmord getrieben hätte.
«Oke, mein Schatz! Da bist du ja endlich. Wir sind schon halb verhungert.»
Elissa stellte sich auf die Zehenspitzen und umarmte den jungen Wilden. Dabei versuchte sie, ihm nicht den Teller aus der Hand zu stoßen. Ich blieb einfach sitzen, schaute zu und trank meinen Sekt. Das kannte ich schon von Elissa: Wenn ihre Begeisterung sich Raum suchte, war für anderes und andere einfach kein Platz. Das musste man aussitzen wie der Altkanzler. Offensichtlich hatte der Koch meine Freundin und ihre Eigenheiten auch schon kennengelernt. Er machte nicht einmal den Versuch, sich aus ihrer Umarmung zu befreien, sondern ließ sich von ihr knuddeln und grinste, bis sie wieder von ihm abließ.
«Das ist meine liebste Freundin Ilse. Ilse, darf ich dir Oke Christiansen vorstellen? Ein wunderbarer Koch, toller Mann und Garant für einen besonderen Geburtstagsabend.» Elissa schob den Kopftuch-Mann, der aufgrund der Vorschusslorbeeren leicht verlegen wirkte, in meine Richtung. Dann setzte sie sich wieder und begutachtete die kleinen Köstlichkeiten auf dem großen Teller, den Oke auf den Tisch stellte. «Das sieht ja phantastisch aus.»
Ich begutachtete erst einmal den Koch. Oke schüttelte mir die Hand, sah mir in die Augen und lächelte strahlend. Dabei entblößte er zwei Reihen sehr gerader und sehr weißer Zähne. Hatten erfolgreiche Köche sonst nicht normalerweise eine Wampe oder schütteres Haar oder wenigstens schlechte Zähne? Dann musste dieser Typ ein Fake sein. Er sah aus wie ein Starschnitt, den ich mir früher aus der Bravo herausgerissen hätte. Noch immer schaute er mir in die Augen. Ich kam mir fast vor wie damals, als küssen noch viel zu gewagt war und wir uns mit den Jungs, die wir toll fanden, um die Wette in die Augen gesehen hatten. Wer zuerst wegschaute oder blinzelte, hatte verloren. Heute verlor ich.
«Ich bin Oke, Moin.» Er hielt meine Hand über dem Tisch ein paar Sekunden zu lange fest und rückte dann näher an Elissa heran, um ihr die mitgebrachten Häppchen zu erklären. «Ich habe alles gemacht, wie du wolltest – nichts Gewöhnliches und nichts, bei dem man zum Essen an einem Tisch sitzen muss. Es gibt etwas zum satt werden und in Erinnerung behalten: Ente mit Quitte am Spieß, mariniert mit Sojasoße und Honig. Filoteigröllchen mit Birnen, Brie und Pinienkernen und eine kalte Ingwer-Avocado-Suppe, die wir morgen in kleinen Einmachgläsern servieren. Dann hätten wir hier Lammspieße mit Paprikaschoten und Tomaten, einen Krautsalat aus viererlei Kohl, gebackene Feigen mit Ziegenkäse-Pinienkern-Füllung und Bruschetta mit Schwarzkohl und Parmaschinken.»
Während er redete, zeigte er auf die verschiedenen appetitlich angerichteten Speisen, und mir lief das Wasser im Mund zusammen. Wie konnte sich jemand all diese Namen merken und Dinge zubereiten, denen man nach dem Kochen noch ansah, was sie sein sollten? Ich war an den Töpfen und Pfannen nicht gerade eine Heldin. Eigentlich achtete ich nie sonderlich darauf, was ich zu mir nahm, um satt zu werden. Wenn Hanna einen Salat wollte, machte ich Salat, und wenn Tom sich zum Mittagessen Pfannkuchen wünschte, dann briet ich eben Pfannkuchen. Außer meinen Spezialitäten verfeinerte Ravioli und Spiegeleier mit Spinat reichte es aber aus, um meine Familie satt zu bekommen. Allerdings war in Falkensee auch noch nie jemand auf die Barrikaden gegangen, wenn Perle Alma etwas kochen wollte. Im Vergleich zu meinen Würstchen mit Maggie oder Pellkartoffeln mit Quark sah das hier unglaublich köstlich aus. Ich wusste nicht, wo ich mit dem Probieren beginnen sollte.
Elissa tat sich da weniger schwer. «Bohhhh, iph daph legga», schmatzte sie zwischen zwei Bissen. «Und das willst du morgen wirklich alles auftischen? Da könnt ihr ja wohl heute Nacht durchkochen.»
«Einen Teil haben wir schon fertig, und den Rest kriegen wir auch noch hin. Du musst mir nur unbedingt sagen, was dir gar nicht schmeckt. Und vor allem musst du dich wegen der Desserts entscheiden, ich habe fünf zur Auswahl, von denen schaffen wir aber bis morgen nur zwei.»
Dieser Mann litt offensichtlich nicht unter Minderwertigkeitskomplexen, was seinen Job anging. Der wusste, was er konnte. Natürlich ging ich ab und zu mit Toni essen, auch in teurere Restaurants. Das Essen gestern bei Elissa zu Hause war wirklich köstlich gewesen, aber das hier war unvergleichlich. Winzig kleine Portionen, die man sich mit einem Happs in den Mund stecken konnte und die dort eine wahre Explosion des Genusses auslösten. Zutaten und Gewürze waren so fein aufeinander abgestimmt, dass man den Bissen am liebsten zwischen Zunge und Gaumen lagern wollte. Mindestens bis ins neue Jahr. Einiges hatte ich noch nie zuvor geschmeckt, anderes noch nie in diesen Kombinationen.
Was ihm aber anscheinend nicht bewusst war, war seine besondere Wirkung auf Frauen. Elissa hatte recht gehabt, in seinem Fall aß das Auge mit. Das Essen war grandios. Wenn der Mann zu solchen kulinarischen Kreationen fähig war, was konnte der dann noch mit seinen Händen anfangen? Ich erwischte mich dabei, wie ich seine langen braunen Finger anstarrte und ins Darüber-werde-ich-nie-im-Leben-sprechen-Nirwana abtauchte.
«Na, habe ich dir zu viel versprochen?» Elissa lachte.
Ich öffnete die Augen, die ich tatsächlich geschlossen hatte, um mich noch besser auf den Geschmack zu konzentrieren. Wahnsinn. Diese Aromen gingen durch Mark und Bein. Ich fühlte mich fast wie nach richtig gutem Sex. Mir gegenüber saß ein selig lächelnder Oke.
«Wenn jemand mein Essen so genießen kann wie du, ist das für mich die schönste Belohnung», sagte er. Dann stand er auf. «Ich hole dann mal die Nachspeisen. Möchtet ihr vielleicht einen Wein trinken? Oder einen Kaffee?»
«O ja, einen Kaffee nehme ich gern», bedankte ich mich.
«Du hast meine Frage noch nicht beantwortet.» Elissa biss das letzte Stückchen Lammfleisch von einem Spieß und seufzte.
«Welche Frage?»
«Ob ich dir zu viel versprochen habe.»
«Was den Koch angeht oder das Essen?»
«Das gehört doch zusammen. Wenn dir das Essen schmeckt, dann gefällt dir auch der Koch und umgekehrt.»
Ich schüttelte den Kopf. «Finde ich nicht. Ich habe schon sehr gut gegessen bei Menschen, die von Schönheit so weit entfernt waren wie Lachs von Leberkäse. Und ich habe extrem fiese Sachen aufgetischt bekommen von Köchen, die spitzenmäßig aussahen.»
«Hört, hört, meine Freundin Ilse, die Restaurant-Kennerin. Wann warst du denn das letzte Mal essen?»
«Gestern Abend.»
«Ja, bei mir zu Hause. Das zählt nicht, das waren doch eher Häppchen, und alles war fertig gekauft. Ich meine in Falkensee oder in Berlin mit Toni.»
«Lass mich überlegen, also das war …»
«McDonald’s zählt auch nicht.»
«Na gut, ich gehe nicht so oft in schicke Restaurants wie du», musste ich zugeben. «Aber ich kann gutes Essen trotzdem von schlechtem unterscheiden. Und dieses hier war phantastisch. Ich kann mich nicht erinnern, jemals so besondere Geschmäcker erlebt zu haben.»
«Ich weiß, was du meinst. Und wie findest den Koch? Anfangs dachte ich, der wäre schwul, weil er so unglaublich aufmerksam und zuvorkommend ist. Vielleicht sollte ich nur noch Männer mit nach Hause nehmen, die das Bedienen richtig gelernt haben», lachte Elissa dreckig.
Ich wartete kurz mit der Antwort, da ein Kellner meinen Kaffee an den Tisch brachte. «Elissa, der könnte unser Sohn sein, der ist doch höchstens zwanzig. Wie schafft so ein Junge es überhaupt, Küchenchef in einem erstklassigen Restaurant wie diesem zu werden?»
«Also, erstens sieht der nur aus wie zwanzig und ist in Wirklichkeit schon über dreißig. Und zweitens ist er einfach super in seinem Job», setzte Elissa zu einer geradezu überschwänglichen Lobeshymne an. «Wahrscheinlich kommt es ihm entgegen, in der Küche zu stehen und sich mit den Kollegen nur über Handzeichen und Pfannenschwenken zu verständigen, ein großer Redner ist der Mann nämlich nicht gerade. Friese eben!»
Während Elissa redete und redete, fragte ich mich, ob sie bisher lediglich seine Kochkünste getestet oder seine Qualität auch in anderen Bereichen abgecheckt hatte.
«Er hat noch echte Leidenschaft für seinen Beruf, und er liebt es, mit Gewürzen und Kräutern zu experimentieren und etwas Neues in der Küche zu schaffen. Das schmeckt man. Oke hat schon als Jugendlicher im Restaurant seines Onkels in Rantum ausgeholfen. Der hat sein Talent erkannt und ihm dann nach Feierabend immer ganz besondere Koch-Aufgaben gestellt.»
Himmel! Wahrscheinlich würde meine Freundin als Nächstes die Biographie dieses Küchenmeisters schreiben. Mit ihrer Begeisterung war sie auf jeden Fall noch lange nicht am Ende.
«Nach seiner Ausbildung ist er auf dem Motorrad um die halbe Welt gereist und hat überall in die Töpfe geguckt, sich inspirieren lassen und Dinge gegessen, die wir nicht einmal ins Haus lassen würden. Das bringt einen natürlich auf ganz neue Ideen. Der traut sich was, und allein das sollte ihm bald einen ersten Stern einbringen. Ich muss wirklich sagen, ich habe lange, lange nicht so gut und so besonders gegessen. Und wenn ich das sage, dann …»
«… ist das ein echtes Kompliment», vollendete Oke den Satz und stellte ein Tablett mit Schälchen und kleinen Tellern auf den Tisch. «Bitte schön, Ladys, eine creation de l’amour, wie ich immer sage, anlässlich eines ganz besonderen Festes.»
«Das will ich wohl meinen.» Elissa griff nach ihrem Sektglas. «Meinst du, es könnte noch einmal jemand nachschenken?»
Oke winkte einem Kellner, um Elissas Wunsch zu erfüllen. Dann sah er mich an, blickte auf den Dessertteller, sah wieder mich an und wieder die Nachspeisen, griff schließlich nach etwas, das wie ein Himbeertörtchen für Zwerge aussah, und hielt es mir vor den Mund. «Mund auf, Augen zu. Sag mir, was du schmeckst.»
Es kam mir seltsam vor, mich von dem Jüngling füttern zu lassen, aber ich wollte keinen Aufstand machen. Bisher hatten mich die Kostproben aus der Küche ja eher angenehm überrascht. Also schloss ich die Augen. Ich spürte die Wärme von Okes Fingern vor meinen Lippen, roch das Aroma der Beeren – und noch irgendetwas Süßes. Fühlte, wie das Törtchen in meinen Mund geschoben wurde, und begann zu kauen. Wohlige Wärme breitete sich in mir aus, wie nach einer Massage oder einem langen heißen Bad.
«Lass die Augen geschlossen, entspann dich», dirigierte Okes sanfte Stimme meine Geschmacksnerven. «Konzentrier dich ganz auf den Geschmack, auf die Süße, die Schärfe und die Säure. Sag mir, was du erkennen kannst.»
«Hey, was ist denn das für eine Sonderbehandlung? Und ich?» Elissa gab sich Mühe, beleidigt zu klingen. Dabei wusste ich, dass sie sich nicht viel aus Nachspeisen machte.
«Baschilikum!» Endlich wusste ich den ersten Geschmackseindruck einzuordnen. Ungewöhnlich zu den Himbeeren, aber köstlich. Ich öffnete die Augen und überlegte, was ich als Nächstes probieren wollte.
«Yes!!» Oke streckte eine Faust in Siegerpose in die Luft. «Ich wusste, dass du eine Geschmacksexpertin bist. Himbeeren mit einem Hauch Basilikum und rotem Pfeffer auf einem Bett aus Baiser und weißer Schokolade.»
«Na, ich weiß nicht. Geschmacksexpertin?», maulte Elissa. «Ilse trinkt ja immer noch Rotwein aus dem Supermarkt wie zu unserer Studienzeit, obwohl ihr Mann Italiener ist und genug Geld verdient, um wöchentlich Kisten aus seiner Heimat einzufliegen. Und sie kann durchaus mal ein paar Tage nur belegte Brote essen, ohne das Gefühl zu haben, ihr würde etwas fehlen.»
«Gegen eine gut gemachte Schnitte ist doch nichts einzuwenden. Wenn das Brot gut ist, kann das ein tolles Erlebnis sein», verteidigte Oke mich, griff nach einem anderen Törtchen und ließ es wieder auf meinen Mund zuschweben.
«Euer Brot hier sowieso. Tu mir einen Gefallen, Oke, und lass diese Wasabi-Dinger weg und stell stattdessen lieber Brot und Öl auf den Tisch. Oder meinetwegen etwas wie ‹Dreierlei vom Schälchen› dazu. Du hattest doch vergangene Woche noch so ein Sauerampfer-Sößchen zum Dippen.»
«Wein aus dem Supermarkt ist übrigens nicht mehr die Plörre, die wir zu unseren Studentenzeiten aus dem Tetrapak genuckelt haben.» Bevor ich den nächsten Leckerbissen probierte, musste ich die kleine Beleidigung von Elissa unbedingt richtigstellen. Schließlich wollte ich vor Oke nicht wie der totale Dorftrottel dastehen. Es schmeichelte mir, dass er so um mein Wohlergehen besorgt war. Wann hatte Toni eigentlich das letzte Mal für mich gekocht? Nein, anders: Hatte Toni eigentlich überhaupt mal für mich gekocht?
«Im Discounter meines Vertrauens gibt es eine sehr gute Auswahl spanischer Rotweine. Wenn du dich anstrengst, wird dir sicher wieder einfallen, dass Toni die viel lieber trinkt als die italienischen. Danke, ich möchte erst dieses hier kosten.» Schnell zeigte ich auf ein braunes knubbeliges Ding, das an eine schrumpelige Pflaume erinnerte. So konnte ich der Hand, die bereits sehr vertraulich auf meine Lippen zusegelte, gerade noch ausweichen. Langsam wurde mir unheimlich, welche Gefühle diese Finger bei mir auslösten. Außerdem konnte ich nicht aufhören, auf Okes Lippen zu starren, wenn er sprach, und mir vorzustellen, wie diese weichen Lippen … Nein! Nein! Nein!
«Das sind Quitten aus dem Ofen mit Zimt und Marzipan, noch lauwarm und mit eiskalter Crème fraîche.» Oke legte das Törtchen, das er mir zugedacht hatte, wieder zurück und erklärte weiter. «Dann hätten wir noch Mini-Lavendel-Muffins, Pfefferminz-Schokoladenmousse von dunkler Schokolade und Elissas Favorit: Lebkuchenparfait mit alkoholgetränkten Kirschen, geschichtet im Glas.»
«Das Parfait musst du morgen unbedingt machen», bestimmte Elissa schmatzend. «Bei den anderen Desserts bin ich mir nicht so sicher. Was meinst du, Ilse? Lieber die Quitten oder die Muffins?»
«Weiß ich noch nicht. Lass mich erst alles richtig durchprobieren. Könnte ich noch einen Kaffee bekommen und ein stilles Wasser?», wandte ich mich wieder an Oke. «Wieso bist du eigentlich nach Sylt gekommen? Du hast doch schon fast überall auf der Welt gearbeitet. Und dann gerade Nordfriesland?» In Smalltalk war ich schon immer gut gewesen.
Oke sah mir so tief in die Augen, als würde er zu einem Liebesschwur ansetzen. «Sylt ist momentan in Sachen Gastronomie etwas ganz Besonderes. Hier kommen Leute her, die eine gute Küche zu schätzen wissen und für gutes Essen so viel Geld ausgeben wie andere für einen gebrauchten Kleinwagen. Ich hatte keine Lust mehr, mir von irgendeinem Küchenchef sagen zu lassen, welche Gewürze zu welchem Fisch passen und was seiner Meinung nach gar nicht ging. Dazu habe ich inzwischen zu viel gesehen und probiert.» Während seiner Ausführungen spielte er mit dem winzigen silbernen Salzstreuer herum. «Es gibt einige Spitzenköche hier auf der Insel, bei denen ich vielleicht noch etwas lernen kann, das wird Elissa dir sicherlich gesagt haben.» Er nickte in ihre Richtung und lächelte, als würde er jeden Moment für einen Werbekatalog für sexy Meisterköche fotografiert werden. «Ich finde es einfach traumhaft an der Nordsee mit dem Wind und dem Meer, das ist eben mein Zuhause. Wenn man viel arbeitet, dann muss doch auch der Freizeitwert stimmen, oder?» Oke winkte wieder nach einem Kellner, rückte den dicken Filzstift in seiner Brusttasche zurecht und zog sein Piratenkopftuch etwas tiefer in die Stirn. «Ich muss jetzt zurück in die Küche. Lasst es euch schmecken und nehmt euch die Zeit, die ihr braucht. Bis später.» Er stand auf, strich Elissa über den Kopf, schenkte mir ein inniges Lächeln und verschwand in Richtung Küche.