17. Kapitel
Am frühen Abend kam Hanna mit roten Wangen und strahlenden Augen nach Hause. Sie reagierte abwesend auf alle Fragen, die ich ihr zum Schultag und ihrer Freundin stellte. Die Sushis schaufelte sie gleichgültig in sich hinein. Ganz klar, an unserem Tisch saß ein verliebter Teenager. Und der kleine Bruder dieses Teenagers war natürlich unsensibel genug, diesen höchst privaten Zustand zum Tischgespräch zu machen.
«Hanna, warum packt dein Freund dich eigentlich beim Küssen am Hintern an? Hat der Angst, dass du ihm abhaust?» Tom musste über seinen eigenen Witz so sehr lachen, dass ihm die Reiskörner aus dem Mund flogen.
«Was für ein Freund?» Hanna war die Unschuld selbst. Wäre dieses sphinxhafte Lächeln nicht gewesen, hätte ich ihr sogar geglaubt. Aber wer einen kleinen neugierigen Bruder auf derselben Schule hat, braucht keine Feinde.
«Dieser Typ aus deiner Parallelklasse mit den komischen Haaren, hab ich doch gesehen, wie der dich heute abgeknutscht hat. Matthie und ich mussten danach erst mal kotzen gehen.» Tom machte Würgegeräusche.
«Tom! Nicht beim Essen!» Immerhin hatte unser Sohn es geschafft, Toni aus seinen Gedanken zu reißen, der bisher ähnlich verträumt wie meine Tochter am Tisch gesessen hatte.
«Aber das stimmt, Papa. Echt, Mann.» Tom griff beleidigt nach weiteren Sushi-Röllchen mit Gurkenfüllung und schüttete reichlich Sojasoße darüber.
Toni sah Hanna streng an. «Vielleicht klärst du deine Eltern darüber auf, wer dieser Junge ist, über den Tom so gut Bescheid weiß», versuchte er es mit väterlicher Güte. «Kennen wir ihn?»
Hanna wurde rot. «Ich hab doch gesagt, ich hab keinen Freund.»
«Hanna. Du kannst uns alles sagen. Wir sind nicht nur deine Eltern, sondern auch deine Freunde.» Toni klang wie ein alter Onkel in einem Mafiafilm.
Hanna verdrehte die Augen. Zu Recht, wie ich fand. Selbst ein Mann musste doch merken, dass sie sich bei jedem weiteren Nachfragen nur weiter verschloss.
«Weißt du, Mama und ich, wir würden gern an deinem Leben teilhaben, aber du erzählst uns ja nichts mehr. Und manchmal mache ich mir einfach Sorgen, man hört doch immer wieder von Jugendlichen, die Drogen nehmen oder auf Partys so viel Alkohol trinken, dass sie ins Krankenhaus eingeliefert werden müssen, oder …» Derartigen Unsinn hatte Toni doch früher nicht von sich gegeben?
«Mensch, Papa, krieg dich wieder ein.» Hanna warf wütend die Essstäbchen auf ihren Teller. «Ich will nicht heiraten und bin auch nicht schwanger. Du wirst bei mir keine Zigaretten finden, Bier und Wein schmecken mir nicht, und Drogen machen einen schlechten Teint, auf den ich gut verzichten kann. Wenn du irgendein Problem hast, dann such dir einen Psychiater und nerv mich nicht.» Beim Aufstehen stieß sie heftig ihren Stuhl zurück.
Toni starrte sie an. So einen Ausbruch hatte er an diesem Tisch noch nicht erlebt, erst recht nicht von seinem kleinen Mädchen.
«Kann ich in mein Zimmer gehen? Ich muss noch lernen.» Hanna sah mich fragend an.
«Ja, natürlich. Für mich ist das in Ordnung.» Ich warf Toni einen warnenden Blick zu. Er nickte nur und schenkte sich Wein nach.
Hanna rauschte ab.
«Bohh ey, was ist denn mit der los? Mama, ganz in echt, ich hab dich nicht angelogen, ich hab Hanna bestimmt mit diesem Typen gesehen. Der hat so coole Turnschuhe an, die mit dem Reißverschluss an der Seite, die du mir nicht kaufen wolltest, weil sie zu teuer waren.»
«Wir glauben dir ja. Und Hanna lügt auch nicht unbedingt. Wenn man Dinge verschweigt, dann ist das nicht gleich gelogen», erklärte Toni seinem Sohn.
Das war ja mal eine ganz neue Weltanschauung. Damit könnte Toni prima in die Politik wechseln. Wir sagen einfach mal nicht, dass das Geld für die Rentner knapp wird, dann haben wir nicht gelogen, wenn es am Ende nicht reicht. Wir sagen nicht, dass die Deiche die nächste Flut vermutlich nicht halten, dann macht es nichts, wenn beim nächsten Tauwetter alles unter Wasser steht. Wir sagen auch nicht, dass wir mit der Praktikantin rummachen, dann ist die Nummer mit dem treuen Ehemann keine Lüge.
Ich war froh, dass ich saß, denn ich spürte, wie mir die Beine zitterten. Ich holte tief Luft. «Das ist aber wirklich Unsinn. Du kannst doch nicht behaupten, nur weil man Dinge verschweigt, sind sie keine Lügen.» Das musste jetzt einfach raus.
Toni sah mich erschrocken an. Anscheinend war mein Tonfall etwas schärfer ausgefallen als beabsichtigt.
«Im Einzelfall mag das ja stimmen, aber ich möchte schon, dass ihr mir sagt, wenn etwas nicht gut gelaufen ist.» Ich wandte mich an Tom. «Wenn du zum Beispiel in einer Klassenarbeit eine Fünf bekommst und uns nichts erzählst, dann ist das zwar nicht gelogen, aber umso schlimmer, weil das zeigen würde, dass du kein Vertrauen zu uns hast. Spätestens am Schuljahresende sehen wir an deinem Zeugnis sowieso, wie du mitgearbeitet hast.»
«Geht ja gar nicht. Du musst doch alles unterschreiben, sonst kriege ich Ärger von Frau Plompun.»
«Das war ja nur ein Beispiel von Mama.» Toni sah allerdings nicht weniger verwirrt aus als Tom.
«Also hat Hanna kein Vertrauen? Sonst hätte sie das Knutschen zugegeben, oder?» Klar, dass Tom diese wirren Erklärungen zum Thema Wahrheit und Lüge nicht nachvollziehen konnte. In seinem Alter gab es Schwarz und Weiß, kein Grau dazwischen.
«Vielleicht war es ihr peinlich, vor uns allen darüber zu sprechen», musste ich sie in Schutz nehmen. «Weißt du, wenn man sich zum ersten Mal verliebt, ist das etwas sehr Persönliches. Lass sie doch erst einmal alleine damit klarkommen.»
Man konnte Tom förmlich ansehen, wie er versuchte, diesen Gedanken in seinem kleinen Hirn zu verarbeiten. Es war schon ein paar Wochen her, da hatte er mich abends gefragt, ob ich Toni oder Toni mir eigentlich zuerst gesagt hatte, dass er mich lieb hätte. Weil er nicht wusste, wie er einem Mädchen in seiner Klasse sagen sollte, dass er sie mochte, konnte er nicht einschlafen. Die Sorgen eines Zehnjährigen!
Aber offensichtlich erinnerte er sich jetzt daran, dass ich weder Hanna noch Toni von der Klassenkameradin erzählen durfte, denn er nickte und sagte: «Okay.» Dann stopfte er sich noch ein Sushi-Röllchen in den Mund und spülte mit Apfelsaft nach. «Darf ich auch aufstehen?»
Toni nickte nur, und Tom flitzte die Treppen hinauf in sein Zimmer.
«Was war das denn für eine Rede? Ist es etwa falsch, wenn ich wissen möchte, mit wem sich meine Tochter herumtreibt?», machte Toni seinem Unverständnis Luft, sobald Tom verschwunden war.
Ich spürte, wie in mir langsam die Wut aufkochte. «Erstens ist Hanna unsere Tochter. Und zweitens kann von Herumtreiben überhaupt keine Rede sein, wenn sie auf dem Schulhof einen Freund trifft.»
Toni schlug mit den flachen Händen links und rechts neben seinen Teller. «Von wegen, auf dem Schulhof einen Freund treffen. Sie hat den ja vor allem auf den Mund getroffen. Und wir wissen nichts davon! Ich erwarte, dass Hanna uns so wichtige Dinge erzählt. Schließlich geht es uns auch etwas an, wenn …»
«Wenn der Typ sein Taschengeld als Dealer aufbessert oder Hanna zu Flatrate-Sauf-Partys abschleppt, ja, dann ginge uns das etwas an. Aber wenn unsere Tochter sich verliebt und sie den neuen Freund am Anfang für sich alleine haben will, weil sie sich noch nicht sicher ist, ob das eine längerfristige Sache ist, dann sollten wir ihr die Entscheidung überlassen, was sie uns erzählt.» Ich versuchte, mich zu mäßigen, was mir einigermaßen schwerfiel. «Kannst du dich nicht mehr daran erinnern, wie es war, als du das erste Mal verliebt warst? Als alles so zerbrechlich und neu und ungewohnt war, dass man morgens beim Aufwachen Angst hatte, alles nur geträumt zu haben? Die letzten Menschen, denen man dann mit dieser Unsicherheit und ersten Verliebtheit kommen will, sind die uncoolen Eltern.»
«Aber wir sind doch nicht uncool!» Toni sah verzweifelt aus.
«Doch. Für Hanna sind wir spießige Eltern, die den Rasen mähen, im Supermarkt nach Sonderangeboten Ausschau halten und von Teenies und ihren Leidenschaften keine Ahnung haben.» Meine Güte, Toni glaubte wirklich, er wäre der beste Kumpel seiner Tochter. Zeit, ihn aus dem Peter-Pan-Traum aufzuwecken. «Wenn sie dich für ihren Freund halten würde, hätte sie sich jetzt mit dir aufs Sofa vor dem Kamin gekuschelt und über Zungenküsse und Petting diskutiert.»
«Jetzt übertreibst du aber.»
«Ach?» Um mich abzulenken, stand ich auf, holte eine Flasche Wasser aus dem Kühlfach und Gläser aus dem Küchenschrank. Dann setzte ich mich wieder zu Toni an den Tisch. «Hast du deinen Eltern immer gleich alles auf die Nase gebunden? Bei Pubertierenden muss man schon ein wenig nachsichtig sein! Wenn sie so weit ist, wird sie damit herausrücken, wer ihr Freund ist und wie ernst sie die Sache nimmt. Aber wenn du sie bedrängst oder versuchst, über Tom mehr herauszufinden, verspielst du das letzte bisschen Vertrauen, das sie in dich hat. Das kann ich dir versprechen.»
Toni sah mich nachdenklich an, trank einen Schluck Wasser und nickte. «Vermutlich hast du recht. Wenn wir erwarten, dass Hanna uns vertraut, sollten wir ihr dasselbe zugestehen.»
War das jetzt der Moment? Die passende Gelegenheit für ein klärendes Gespräch? Sollte ich das Stichwort zum Anlass nehmen, um über unsere Beziehung zu sprechen? In meinem Magen fühlte es sich an, als veranstaltete eine Zwergenmannschaft eine Weltmeisterschaft im Achterbahnfahren.
Und was sollte ich sagen, wenn Toni meine Vermutungen bestätigte? Wenn er mir erklärte, dass er sich in die Praktikantin verliebt habe und mit ihr morgen nach Mallorca fliegen werde, er sei nur kurz nach Hause gekommen, um seine Badehose zu holen? Außerdem hatte ich mir noch nicht überlegt, wie ich reagieren würde, wenn er mich anlog und alles abstritt. Mitten in diese Überlegungen hinein piepte mein Handy und signalisierte den Eingang einer Kurznachricht.
«Was Wichtiges?» Toni sah mich fragend an.
«Keine Ahnung. Kann ich später checken.» Ich begann, die Teller zusammenzustellen und die Reste unseres Abendessens zu den Abstellflächen in der Küche zu tragen.
Toni stand auf und schob seinen Stuhl an den Tisch. «Ich gehe dann in mein Arbeitszimmer, wenn das okay ist. Oder brauchst du Hilfe?»
«Nein danke, ich komm schon klar. Alles gut.»
Toni schenkte sein Weinglas noch einmal voll und nahm es mit nach oben.
Ich räumte Besteck und Teller in den Geschirrspüler, bis mir die SMS wieder einfiel. Das Handy lag neben der Kaffeemaschine. Es zeigte eine Nachricht von Elissa an:
Ruf mich an, wenn du allein bist oder lass uns chatten – warum meldest du dich nicht? Habe Oke getroffen!!!!
Ach, du liebe Güte. Was konnte Oke ihr erzählt haben, was sie noch nicht von mir wusste? Angesichts der vielen Ausrufezeichen bestand dringender Handlungsbedarf. Wenn ich mich nicht bald bei Elissa meldete, hatte ich hier Dauerbeschallung durch Textnachrichten und Anrufe. Aber erst musste ich mich um Hanna kümmern.
Hanna erzählte mir nichts über ihren Freund, obwohl ich alles versuchte, um mehr Informationen aus ihr herauszukitzeln. Weder geheucheltes Desinteresse noch Schmeicheleien oder erfundene Geschichten über die eigene erste Liebe führten zu Ergebnissen. Als Detektivin war ich wohl doch nicht so gut wie angenommen. Entweder war da tatsächlich nichts, oder ich stellte mich einfach zu dumm an. Hatte ich außerdem nicht selbst gesagt, wir sollten abwarten, bis sie von sich aus erzählte, welche Veränderungen es in ihrem Leben gab? Es ging meiner Tochter gut, sie wirkte glücklich und zufrieden, mehr konnte man als Mutter kaum verlangen.
Elissa schickte ich eine kurze Nachricht, dass es heute Abend mit einem ausführlichen Gespräch nicht klappen werde, weil Toni zu Hause sei. Ich erklärte ihr, dass ich lieber am nächsten Tag in Ruhe anrufen wollte.
Inzwischen schliefen beide Kinder, und ich lag ebenfalls im Bett und wartete auf Toni. Ich hatte ein Bad genommen, mich mit meinem betörend duftenden Körperöl eingerieben und eines der heißesten Outfits angezogen, das die Lucinda-Kollektion zu bieten hatte. Modell Céline (atemberaubendes, sexy schwarzes Minikleid mit wunderschöner Blumenstickerei, schwarzer Netztüll verleiht dem Stück seine leichte Optik, Träger aus einzigartiger Guipure, Nighty mit String ab 139,95 €). Nur die dazu passenden halterlosen Strümpfe hatte ich weggelassen, damit wäre ich mir unter der Bettdecke doch ein wenig nuttig vorgekommen. In Céline fühlte ich mich sexy und unwiderstehlich. Ich hatte mir fest vorgenommen, noch heute Abend den ersten Schritt auf dem Weg zur Rettung unserer Ehe zu machen. Früher hatten Toni und ich großartigen Sex gehabt. Aber nach der Geburt von Hanna hatten wir die Häufigkeit unserer körperlichen Begegnungen deutlich eingeschränkt. Ich war immer so müde gewesen. Als Hanna klein war, hatte ich ständig Angst, sie könnte aufwachen und dann in der Tür stehen und uns beobachten. Das konnte bekanntlich ein Trauma für den Rest des Lebens verursachen. Bis zu meiner Schwangerschaft mit Tom waren wir bereits dazu übergegangen, nur noch hohe Feiertage und Geburtstage mit Sex zu feiern. Nach der Geburt des zweiten Kinds schafften wir es, nahezu ganz auf den Beischlaf zu verzichten. Ich war zu kaputt, zu ungeduscht, zu lustlos, zu bequem geworden. Mit einem Glas Wein auf dem Sofa zu sitzen und irgendeinen belanglosen Film anzusehen, war mir schöner vorgekommen, als mich zwischen den Laken abzumühen. Sex und Lust brachte ich da schon lange nicht mehr in einen Zusammenhang. Diese Haltung war mir mit den Jahren so zur Gewohnheit geworden, dass ich fast schon verlegen wurde, wenn es in einem Film zwischen zwei Menschen besonders heiß herging und Toni neben mir auf dem Sofa saß. Natürlich hatten Toni und ich uns Auszeiten genommen und waren ab und zu übers Wochenende in ein schönes Hotel gefahren. Dann gingen wir nicht nur zusammen shoppen oder besuchten ein Museum, sondern wir nutzten diese Gelegenheiten auch, uns körperlich nah zu sein. Manchmal fühlte ich mich dann, als wären wir Teenager, die lieber knutschten, statt zum Frühstücksbuffet zu gehen. Allerdings konnte man es wohl nicht als gutes Zeichen werten, wenn einem der eigene Ehemann nach so vielen Jahren im Bett fremd und ungewohnt vorkam.
Wieso machte ich mir erst jetzt diese Gedanken über mich und meine Beziehung zu Toni? Warum hatte mir der Sex nie gefehlt, und warum sprachen wir nie miteinander über unsere Bedürfnisse? Wenn ich ehrlich war – und jetzt war es allerhöchste Zeit dafür –, dann musste ich zugeben, dass ich irgendwann aufgehört hatte, mir Mühe zu geben. Toni umschwärmte mich weiter mit Blumen und Pralinen, brachte mir von seinen Reisen kleine Geschenke wie Parfüm oder Lederhandschuhe mit, und fast immer ging es von ihm aus, wenn wir zu Hause Sex hatten. Konnte man verlernen, Lust zu haben? Konnte man sich abgewöhnen, mit dem eigenen Mann, den man liebte, im Bett Spaß zu haben? Wenn das so war, dann konnte ich vielleicht auch das Gegenteil bewirken. Deshalb hatte ich mich auf diese Nacht besonders vorbereitet und wartete nun auf Toni, um ihm zu zeigen, dass ich auch anders konnte – dass er sich seinen Spaß nicht bei einer anderen Frau zu holen brauchte.
Wie lange lag ich eigentlich schon hier und grübelte? Es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Die Digitaluhr auf dem Nachtschrank rechnete die Ewigkeit in knapp drei Stunden um. Also stand ich auf, schlüpfte in meinen roten Satin-Morgenmantel und huschte in Richtung Büro. Mein Herz klopfte wie wahnsinnig. Womöglich tauschte Toni gerade mit seiner neuen Flamme am Telefon heiße Liebesschwüre aus? Langsam näherte ich mich der Tür seines Arbeitszimmers. Es war kein Geräusch zu hören, also drückte ich leise die Türklinke hinunter und schaute in den schummerig beleuchteten Raum. Es brannte lediglich die Schreibtischlampe, auf dem Computermonitor rotierte ein Bildschirmschoner, und die Papiere an seinem Arbeitsplatz sahen aus, als hätte noch vor einer Sekunde jemand darin geblättert. Toni saß mit ausgestreckten Beinen auf dem Sofa, sein Kopf ruhte in einer sehr unbequemen Haltung auf dem Holzrand der Rückenlehne. Er schlief mit offenem Mund und schnarchte. Auf dem Tisch vor ihm ein halb volles Glas Malt, ein Glas Wasser sowie der aufgeschlagene Bildband, den ich ihm aus Westerland mitgebracht hatte. Vermutlich hatte er sich eine kleine Pause gönnen wollen und war darüber eingeschlafen. Super Voraussetzungen für meinen Verführungsversuch. Und ein weiteres deutliches Anzeichen dafür, dass meine sexuelle Anziehungskraft in den vergangenen Monaten – oder Jahren – doch stark nachgelassen hatte.
Ich nahm die Wolldecke vom Fußende des Sofas, rollte sie zusammen und bettete vorsichtig Tonis Kopf darauf. Murrend ließ er sich gefallen, dass ich seine Beine auf die Polster hob. Dann zog ich meinen Morgenmantel aus und deckte ihn damit zu.
Kurz überlegte ich, ob ich Tonis Handy auf neue Nachrichten oder häufig gewählte Nummern kontrollieren sollte. Aber das erübrigte sich, als ich feststellte, dass er das Gerät in die vordere Hosentasche gesteckt hatte. Wenn ich danach griff, würde er sicher aufwachen. Und bei unserer «leidenschaftlichen» Vergangenheit wäre es mehr als unglaubwürdig, mich dann mit einem Annäherungsversuch herauszureden. Auch ein erneutes Checken seiner Mails und der besuchten Internetseiten sparte ich mir, denn das helle Licht des Computerbildschirms hätte ebenfalls nur den Schlaf des Ehebrechers gestört.
Ich fühlte mich erschöpft und unglaublich müde. So musste es sein, wenn man meinte, man hätte einen Berg erklommen, und am Ziel erkannte, dass man lediglich einen Aussichtspunkt erreicht hatte und der Gipfel noch in weiter Ferne lag. Keine eindeutigen Beweise, keine Spuren, keine Ergebnisse. Vielleicht würde ich am Morgen klarer sehen.