9. Kapitel

Als ich erwachte, starrte ich direkt in die Visage von Darth Vader. In der glänzenden schwarzen Maske, die auf einem großen Karton neben dem Bett stand, konnte ich schemenhaft meine zerzausten Haare erkennen. Im nächsten Moment spürte ich den Schmerz: Mein Kopf fühlte sich an, als hätte jemand mehrere Lagen Stacheldraht darumgewickelt und die dann kräftig angezogen. Der grüne Sekt! Hätte ich bloß irgendwann die Reißleine gezogen. Aber ich hatte ja den Hals nicht voll bekommen können. Ich erinnerte mich dunkel, dass ich im Laufe des Abends sowohl mit dem Fernsehmann als auch mit dem dunkelhaarigen Läufer Brüderschaft getrunken hatte.

Ich wollte mich gerade wieder zurücksinken lassen, um die schlimmste Welle des Schmerzes an mir vorbeiziehen zu lassen, da fuhr mir der Schreck durch den ganzen Körper. Sofort kam ich wieder in die Senkrechte: Darth Vader? Wo war ich hier eigentlich? Elissa hatte noch nie auf diesen ganzen Star Wars-Kram gestanden.

Vorsichtig drehte ich mich nach links und entdeckte unter der Bettdecke einen Schopf dunkelblonder Haare. Scheiße! Scheiße! Scheiße! Mein Herz klopfte bis zum Hals, und mir wurde heiß.

Noch vorsichtiger lupfte ich die Bettdecke und sah erleichtert, dass ich bis auf die Stiefel noch mein komplettes Outfit von Elissas Geburtstagsparty trug. Immerhin. Außer tiefem Alkoholrausch-Schlaf schien zwischen mir und dem schönen Koch nichts passiert zu sein, an das ich mich erinnern müsste.

Elissa! Die machte sich wahrscheinlich schon wahnsinnige Sorgen um mich. Ich wollte hier weg. Schnell und unauffällig. Ich hatte keine Lust auf Gespräche und erst recht nicht auf eine Fortsetzung dessen, was hier gestern Abend stattgefunden hatte. Was immer das auch gewesen sein mochte. Darüber musste ich ganz in Ruhe nachdenken, wenn mein Puls sich wieder normalisiert und der Restalkohol-Nebel sich aus meinem Hirn verzogen hatte. Nicht hier und jetzt, und schon gar nicht neben dem Mann, der ab und zu ein lustiges Schnarchen hören ließ, wenn er sich auf die Seite drehte. Goldig.

Ich horchte auf Okes Atem. Ruhig und gleichmäßig bis auf die einzelnen Schnarcher. Er schlief noch immer tief und fest. Süß, wie er dalag. Oben lugte nur der blonde Schopf unter der Decke hervor und unten ein halber, für einen Mann außergewöhnlich gut gepflegter Fuß.

Ich schaute mich um. Das Bett stand in einem großen, nein, in einem wahnsinnig großen Raum. Ein Ein-Zimmer-Apartment unter dem Dach. Ganz gemütlich eigentlich. Überwiegend weiß gestrichene Wände, an einer davon lehnten ein paar große bunte Bilder. Auf dem vordersten konnte ich eine Art Collage in Öl mit dem Brandenburger Tor erkennen, und ein weiteres zeigte eine türkisfarbene und gelbe Coladose. Rechts davon hatte Oke eine lange Kleiderstange auf Rollen als Raumteiler aufgestellt, auf der Hemden und Hosen hingen. Auf der linken Seite sah ich eine Tür, die vermutlich ins Badezimmer führte.

Ich musste wirklich dringend auf die Toilette, aber wenn ich jetzt ins Bad ginge, würde ich Oke vermutlich wecken. Deshalb entschied ich mich für den Weg, der mich wahrscheinlich aus dieser Wohnung herausführen würde, schlüpfte leise aus dem Bett und schlich an mehreren unausgepackten Umzugskartons, einem halb eingeräumten Bücherregal und der offenen Küche vorbei zu einer Tür, die nach Ausgang aussah. Zumal sich hier eine Garderobe befand, an der mein Mantel hing. Meine Stiefel lagen auf dem Boden neben der Handtasche. Ich schnappte mir alles, öffnete so leise wie möglich die Tür und stand wenige Sekunden später in einem Treppenhaus mit Holzstufen und einem roten Geländer.

Puuhhh. Das war schon mal geschafft. Ich hatte zwar keinen Schimmer, wo ich gerade war, aber immerhin hielt ich meine Handtasche mit dem Handy und meinem Geld in der Hand. Ich konnte mir also einfach ein Taxi rufen und zu Elissas Wohnung zurückfahren. Aber zunächst schlüpfte ich in die Stiefel und den Mantel. Während ich die Treppe hinabstieg, tastete ich nach Kopfschmerztabletten und dem Handy in der Tasche. In der Hoffnung, dass dieser hämmernde Druck aus meinem Kopf bald verschwinden würde, schluckte ich die Pillen trocken hinunter. Vorher wäre ich sicher nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Ein Blick auf mein Handy zeigte mir zweiundzwanzig Anrufe in Abwesenheit, drei Nachrichten auf der Mailbox, und es war schon nach zwölf. Toni und Tom hatten versucht, mich zu erreichen, Oma Etti ebenfalls. Zu Hause war doch nichts passiert? Auf der Straße angekommen, drückte ich die Kurzwahltaste für Toni.

«Hallo, mein Schatz. Schon ausgeschlafen? Wie war die Party?» Toni klang eigentlich wie immer.

«Ja. Okay. Ich habe die Anrufe von dir und deiner Mutter und Tom gesehen, irgendetwas nicht in Ordnung bei euch?» Konnte man meiner Stimme etwas anmerken?

«Nein, alles prima. Wahrscheinlich hat Tom sich gelangweilt. Ich musste ein Konzept fertig schreiben und hatte keine Zeit für ihn. Hanna hat bei einer Freundin übernachtet und ist noch nicht wieder zu Hause, und meine Mutter wollte wissen, wo du die Ausstechförmchen aufbewahrst, weil sie mit Tom Kekse backen wollte.»

Anscheinend war ich für meinen Mann noch die Frau, die vor einigen Tagen mit ihm in seinem Bett gelegen hatte. Ich war erleichtert. «Dann ist ja gut. Hab die Mailbox noch gar nicht abgehört.»

«Gib mir doch mal das Geburtstagskind. Ich möchte auch gratulieren.»

Wie dumm von mir. Ich hätte wissen müssen, dass Toni Elissa persönlich gratulieren wollen würde.

«Ach, das ist ganz schlecht, weil … weil … Also Elissa, dieeee … die schläft noch. Ja, die schläft noch tief und fest.» In diesem Moment näherte sich ein Krankenwagen mit Blaulicht und Tatütata.

«War das ein Krankenwagen? Wo bist du denn?»

Im Lügen war ich noch nie gut gewesen. «Ich bin gerade mal raus, eine Runde spazieren gehen, ähhhh … Ich konnte nicht mehr schlafen und brauchte frische Luft.»

Toni lachte. «Verstehe. War ein bisschen viel Alkohol im Spiel gestern, was? Spricht ja für ein rauschendes Fest. Aber etwas anderes hätte ich von Elissa auch nicht erwartet. Muss ich mir Sorgen machen?»

«Quatsch, wieso Sorgen, weswegen denn?» Mir wurde heiß und kalt. Ich fühlte mich wie Alice im Wunderland im Gespräch mit der bösen Königin. «Nein. Mir geht es gut. Nur ein bisschen Kopfschmerzen. So viel habe ich gar nicht getrunken.»

«Hauptsache, du hattest einen schönen Abend. Hier ist Oma Etti, ich reich dich mal weiter. Willst du auch noch mit Tom sprechen?»

«Nein, lieber später. Ich melde mich heute Abend wieder, okay?» Wenn ich mir bis dahin eine Strategie überlegt habe, fügte ich in Gedanken hinzu.

«Prima. Tschüs, mein Schatz.» Es knackte und raschelte, dann hörte ich Oma Etti am anderen Ende der Leitung.

«Ilse?» Manchmal klang meine Schwiegermutter am Telefon, als könnte sie nicht glauben, dass man mit diesem Gerät eine Verbindung von einer großen Stadt in die andere hinbekam.

«Ja, ich bin noch dran. Du wolltest wissen, wo die Backsachen liegen?» Ich versuchte mich an einem neutralen und nicht zu überschwänglichen Ton.

«Die habe ich inzwischen gefunden. Aber du musst doch irgendwo noch die Blechdosen haben, die ich dir letztes Jahr mitgebracht habe. Wir wollen gleich ein paar Weihnachtskekse auf Vorrat backen, das kann ich nun wirklich nicht in Plastikdosen lagern. Das geht immer zu Lasten des Aromas. Im Schrank ist nur die Brotbox von Tom.»

Die Brotbox von Tom mit dem Star Wars-Bild vorne drauf erinnerte mich an meinen Aufwach-Moment. Was kümmerten mich Blechdosen und Zimtsterne? Ich hatte meinen Mann angelogen und die Nacht mit einem sehr viel Jüngeren verbracht. Egal, was da passiert war – oder eben auch nicht. Treue ging anders.

«Ilse? Sag doch was! Du bist doch sonst nicht so unkonzentriert.»

Natürlich, Mütter haben einen Instinkt für Dinge, die nicht laufen wie gewohnt. Gott sei Dank fiel mir wieder ein, wo ich die Keksdosen hingeräumt hatte.

«Na, da schau ich gleich mal nach», kündigte Etti endlich nach meiner gestammelten Auskunft an. «Geht es dir wirklich gut? Du klingst irgendwie seltsam.»

Es war allerhöchste Zeit, dieses Gespräch zu beenden.

«Ja. Mir geht’s wunderbar. Viel Spaß beim Backen und gib Tom einen Kuss von mir. Er soll nicht alle Kekse aufessen, damit ich auch noch probieren kann.»

Etti lachte. «Falls überhaupt genug Teig zum Ausrollen übrig bleibt. Wenn es nach deinem Sohn ginge, dann könnten wir einfach den rohen Teig ausstechen und in die Plätzchendosen legen.»

Oma Etti legte auf, ich schob das Handy wieder in die Tasche und schaute mich um.

Ich stand an einer Straßenecke irgendwo auf Sylt.

Okes Haus war weiß und offenbar frisch gestrichen. Links und rechts davon befanden sich weitere kleine Mehr- und Einfamilienhäuser aus den siebziger Jahren, zum Teil mit Balkonen, zum Teil mit großen Gärten davor. Im Sommer war es sicher schön, hier zu sitzen und zu versuchen, das Meeresrauschen zu hören. An einem klirrend kalten Tag wie heute wollte man nur ins Warme. Der Wind pfiff förmlich um die Ecken, und ich ärgerte mich, dass ich keine Mütze eingepackt hatte. Das war meinem Brummschädel nicht gerade zuträglich. In einigen Vorgärten standen mit Lichterketten geschmückte Weihnachtsbäume, in einem sogar ein leuchtender Elch auf dem Rasen. Im Haus nebenan wurden die Urlauber von einem großen Weihnachtsmann aus Holz begrüßt, der neben der Eingangstür stand und ein «Frohe Weihnachten»- und ein «Gutes neues Jahr»-Schild in der Hand trug. Ich versuchte, irgendetwas zu entdecken, das mir bekannt vorkam. Schließlich holte ich noch einmal tief Luft und lief dann die Straße einfach in eine Richtung hinauf, ohne zu wissen, wo ich gerade war. Nach einigen Minuten erreichte ich eine Querstraße, die ich zum Glück schon einmal gesehen hatte. Auch heute, am Sonntag, waren reichlich Autos und Radfahrer unterwegs, denn es war zwar klirrend kalt, aber die Sonne hatte sich vorgewagt und sorgte für ein ganzes Arsenal an geschmacklosen Sonnenbrillen unter hochgeföhnten Haaren und Fellmützen, die auch einem Russen zur Ehre gereicht hätten. Je weiter ich ging, desto dichter drängten sich die Touristen. Um einen Straßennamen zu finden, den ich dem Taxiunternehmen mitteilen konnte, trottete ich langsam zur nächsten Häuserecke. Strandstraße. Ich wusste, dass das eine Parallelstraße zur Einkaufsstraße in Westerland war, zu Elissa war es also gar nicht weit. Ich konnte auf der Strandpromenade weitergehen und mir tüchtig das Hirn durchpusten lassen. Irgendwo unterwegs gab es sicher auch einen starken schwarzen Kaffee zum Mitnehmen, eine Toilette und ein kaltes basisches Wasser gegen den Kater. Ich kuschelte mich tief in meinen Mantel. Etwas mehr frische Luft und etwas mehr Zeit zum Nachdenken würden mir sicher guttun. Scheiß auf das Taxi.

***

Ich fand mich schließlich in einer Nachmittagsvorstellung im Kino wieder. Zuerst war ich auf dem Weg zu Elissas Wohnung doch in die falsche Richtung gelaufen. Dafür war ich auf ein Café gestoßen, wo ich endlich auf die Toilette gehen und einen Kaffee kaufen konnte, um mir unterwegs wenigstens die Hände zu wärmen.

Die ganze Zeit versuchte ich, den vorigen Abend mit Oke zu rekonstruieren. Ich wusste noch, dass wir schließlich doch getanzt hatten. Und dass ich immer mehr von dem Sekt getrunken hatte und später noch andere selbstgebrannte Spezialitäten.

Als mir eine leere Hamburgerverpackung vor die Füße wehte, fiel es mir wieder ein: Irgendwann, fast schon zur Frühstückszeit, hatte Oke wissen wollen, ob ich Lust auf einen Burger oder eine Currywurst hätte, deshalb waren wir von der Party verschwunden. Und ich wusste auch wieder, dass der Bürgersteig vor dem Hotel wie die Glitschbahnen gewesen war, die wir als Schulkinder bei Frost mit heißem Wasser gemacht hatten. Mit meinen profillosen Sohlen und den vielen Schnäpsen im Blut wäre ich fast aufs Pflaster gesegelt, wenn Oke mich nicht festgehalten hätte. In diesem Moment waren wir uns plötzlich ganz nah gewesen.

Ich wanderte an spärlich beleuchteten und üppig dekorierten Schaufenstern vorbei und nippte an meinem Kaffee. Der warme Dampf des Getränks vertrieb die eisige Luft für einen Moment. So wie in der vergangenen Nacht, als wir in der klirrenden Kälte plötzlich Nase an Nase dagestanden hatten. So nah, dass ich Okes Körperwärme spüren konnte. Und dann küssten wir uns.

Auch der letzte Alkoholdunst in meinem Gehirn konnte nicht verhindern, dass mir dieser Moment nun wieder glasklar vor Augen stand. Ich hatte nicht eine Sekunde gezögert. Wenn ich recht überlegte, war der Kuss vielleicht sogar von mir ausgegangen. Beim Küssen hatte ich an gar nichts gedacht, sondern fand es einfach nur schön. Vielleicht weil Oke mich wärmte, weil er mir mit meinem Vier-Promille-Kopf Halt gab oder weil mich der Kuss an meine Studentenzeit erinnerte und ich mich am Geburtstag meiner Freundin so alt gefühlt hatte.

Danach waren wir Hand in Hand zu McDonald’s gelaufen und hatten uns dort gegenseitig mit Pommes gefüttert. An die Taxifahrt zu Okes Wohnung konnte ich mich nur noch verschwommen erinnern. Und an den Weg in seine Wohnung gar nicht mehr. Wahrscheinlich war ich im Auto eingeschlafen und hatte das dann in seinem Bett nahtlos fortgesetzt. Zum Glück. Denn heute, im grauen Licht dieses kalten Dezembertags, kam ich mir wegen des Kusses und der Nacht in Okes Bett vor wie die schlimmste Ehebrecherin.

Und dann kam ich an dem kleinen Kino vorbei, in dem in wenigen Minuten ein neuer Film mit Julia Roberts laufen sollte. Das war mir gerade recht, denn ich hatte noch keine Lust auf Erklärungen bei Elissa und weitere Anrufe von meiner Familie.

Ich brauchte Ablenkung. Aber der Film war doch nicht meditativ und drehte sich nicht in erster Linie um gutes Essen, wie ich gehofft hatte. Gleich zu Beginn ließ Julia Roberts sich von ihrem Mann scheiden und machte sich dann in Italien, Indien und auf Bali auf die Suche nach sich selbst. Was sie fand, war ein Mann, der sie über alles liebte. Bis es so weit war, durfte ich allerdings miterleben, welche Gedanken die Heldin sich über ihr Leben machte.

Und ich? War ich auch nur mit Toni zusammen, weil es einfacher war, statt etwas Neues zu wagen? Liebten wir uns noch? Liebte ich ihn noch? Oder hatte ich mich in Oke verliebt? Was hatte mich dazu gebracht, nach mehr als fünfzehn Jahren Ehe einen anderen Mann zu küssen? Und wieso hatte ich mich dabei so gut gefühlt?

In meinem Kopf ging es zu wie in einem Karussell: auf und ab und hin und her. Nie zuvor hatte ich mich gefragt, ob mein Leben eigentlich romantisch genug war. War ich ausreichend in der Welt herumgekommen, um für den Rest meiner Tage in Falkensee zu leben und mich um meinen Mann, meine Kinder und später vielleicht auch um meine Enkel zu kümmern? Konnte ich mein Leben genießen und jedem Tag etwas Besonderes abgewinnen? Oder hatte ich mir jahrelang etwas vorgemacht und warf Toni insgeheim vor, dass ich meinen Jugendtraum mit der Fotografie nicht verwirklichen konnte, weil ich schon während des Studiums schwanger geworden war? Betrog ich mich selbst mit der Ausrede, dass ich für einen Meister in Fotografie zu alt und so eine Ausbildung zu teuer sei? War ich überhaupt gerne Mutter?

Bis Julia Roberts und Javier Bardem sich endlich in den Armen lagen, weil sie erkannt hatte, dass er der einzig Wahre und das wirklich Wichtige für sie war, hatte ich jeden Überblick über mein eigenes Leben verloren. Ich fühlte mich entsetzlich und war hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, sofort nach Falkensee zu fahren – oder nie wieder nach Hause zurückzukehren und in einer fremden Stadt im sonnigen Ausland ein neues Leben zu beginnen.

Eine Weile blieb ich noch im Dunkeln sitzen, bevor ich mich wieder in meinen Mantel hüllte und in die Kälte Nordfrieslands hinausstapfte.