12. Kapitel

Der Zug war rappelvoll, aber gleich zu Beginn des Wagens fand ich noch einen Platz, hinter dem ich auch meine Koffer deponieren konnte. Den Mantel hängte ich neben den Sitz, um mich darin einzukuscheln, falls es kühl wurde. Bevor ich es mir auf dem Fensterplatz bequem machte, wühlte ich einen Krimi und den Rest der Schokolade aus der Handtasche und suchte nach meinem kleinen tragbaren CD-Spieler. Dabei fiel mir eine CD in die Hände, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Das Cover war selbst gestaltet und zeigte eine weiße Kochmütze mit grinsendem Gesicht auf rotem Grund. Der Titel lautete: «Mit Liebe gekocht». Ich musste nicht lange raten, wer mir dieses kleine Geschenk in die Tasche geschmuggelt hatte. Von wegen «einen Gastkoch am Bahnhof abholen». Wie es aussah, hatte Oke ganz genau gewusst, wo er mich finden konnte. Zu den Klängen der White Lies starrte ich aus dem Fenster in die dunkler werdende Landschaft und fühlte, wie der Schneeregen gegen die kühle Scheibe klatschte.

Let’s grow old together

And die at the same time

Let’s grow old together

And die at the same time.

Ich sah Oke vor mir, wie er leidenschaftlich mitsang, seine blauen Augen sich in meine versenkten und seine weichen Lippen sich zu einem Lächeln verzogen. Das schlechte Gewissen plagte mich. Was sollte ich Toni erzählen, was lieber nicht? War es wirklich am besten, einfach zur Tagesordnung überzugehen und so zu tun, als wäre nichts gewesen? Sollte ich das Wochenende auf Sylt als ein Freundinnen-Wochenende abhaken und wieder die liebevolle Ehefrau und Mutter sein, die sich mit Schlüpper-Verkäufen ein Taschengeld dazuverdiente?

Mir war klar, dass ich das nicht konnte. Es war ein schönes Gefühl, so umschwärmt zu werden. Ich fühlte mich wie von innen gewärmt, während ich der Musik lauschte, und musste lachen, als ich feststellte, dass Oke ausschließlich den White-Lies-Song immer wieder auf die CD gebrannt hatte.

Irgendwie sollte es doch hinzukriegen sein, diese Gefühle zu bewahren, etwas daraus zu machen und trotzdem niemandem weh zu tun. So gut gelaunt und beschwingt hatte ich mich ohne Alkohol das letzte Mal gefühlt, als … Ich konnte mich nicht erinnern.

Wenn bloß Sylvia, diese Zicke, nicht aufgetaucht wäre! Die würde garantiert quatschen, bei der Gymnastikgruppe und der nächsten Tupperparty und am Glühweinstand auf dem Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche, wo sich die bekannte Truppe aus sogenannten Freundinnen plus Ehemännern alljährlich an den Freitag- und Samstagabenden einfand. Allein deswegen musste ich mit Toni über das Wochenende sprechen. Auch wenn sie eigentlich nichts ausplaudern konnte – ich würde bei jeder Anspielung garantiert rot anlaufen und schon deshalb verdächtig wirken.

Inzwischen hatte der Zug den Hindenburgdamm verlassen und hielt in Klanxbüll auf dem Festland. Ein junges Mädchen stieg ein, ganz in Schwarz gekleidet und mit gepiercter Nase. Sollte Hanna sich je dermaßen verunstalten, würde ich sie an diesem Ring quer durch ganz Brandenburg ziehen.

Das Mädchen drückte sein Handy ans Ohr und ließ sich schwer auf den freien Sitz neben mir fallen.

«Ey, weißt du, du hast gesagt, du willst lieber eine rauchen, statt mit mir nach Niebüll zum Shoppen zu fahren. Wir sehen uns nächste Woche. Tschau.»

Ja, so konnte man das natürlich auch machen. Kurz, knackig, konsequent. Aber das war noch nie meine Art gewesen.

«Der Typ spinnt doch. Sagt mir erst, er würde mir diese voll coole Jacke kaufen, die ich in Niebüll gesehen habe, weil weißte, er hat ja schon ’n richtigen Job, und ich bin noch am Überlegen, für was ich mich dann mal so entscheide, und verdien hier und da mal ’n paar Euronen mit Kellnern oder Einhüten bei meiner Schwester oder so, nä. Und dann lügt er rum, er muss unbedingt erst noch zu Ende rauchen und wär außerdem ganz dringend mit Jörgen verabredet – voll, ey.»

Anscheinend strahlte ich wohl so etwas wie mütterliche Wärme aus, wenn ich jetzt als Kummerkastentante herhalten sollte.

«Hast du auch so einen Spast zu Hause?» Diese Frage war nun ausdrücklich an mich gerichtet.

«Ja, also, um ehrlich zu sein, raucht mein Mann gar nicht. Der ist Sportler und achtet sehr auf seine Gesundheit.»

«Hört sich nicht gerade spannend an! Bist du deshalb auch alleine unterwegs?»

«Ähhh, nein, ich habe eine Freundin besucht, die ihren Geburtstag gefeiert hat.»

Ich hatte nicht den Eindruck, dass das Mädchen sich tatsächlich für meine Freizeitaktivitäten interessierte.

Sie lehnte sich auf dem Sitz, so weit es ging, zurück und nestelte winzige Kopfhörer aus der knallengen Jeans. «Ich bin jedenfalls erst mal durch mit dem Typen, der kann sich mal ’ne schöne Entschuldigung überlegen. Sonst muss er gar nicht mehr angeschissen kommen. Is’ ja nich’ so, dass ich nich’ noch einen im Leerlauf hätte, wenn du verstehst?» Sie zog vielsagend die Brauen hoch, steckte das Kopfhörerkabel in ihr Handy und drückte auf den Tasten herum, ohne noch weiter Notiz von mir zu nehmen.

Zwar wusste ich nicht ganz genau, was sie meinte, vermutete aber, dass ihre Situation der meinen nicht so unähnlich war. Mit dem Unterschied, dass ich nicht einfach nur mit einem Teenie «ging», sondern seit mehr als fünfzehn Jahren verheiratet war. Und optisch nicht allzu viel zu bieten hatte, sondern eher zum Durchschnitt gehörte. Eben total 80 B. Genau wie mein Leben: unaufregend und langweilig.

Aber mit Oke etwas Neues zu beginnen, stand überhaupt nicht zur Debatte. Wenn auch der Gedanke an ein Leben an der Nordsee mit einem jungen, szenigen Liebhaber durchaus seinen Reiz hatte. Hanna und Tom könnten mich besuchen, wann immer ihnen danach war …

Unsinn! Ich musste Restalkohol im Blut haben. Mit derartigen Gedankenspielen würde ich mich keine Sekunde länger beschäftigen. Tom war noch viel zu klein, um ohne mich auszukommen. Sein winziges Herz würde einen Schaden fürs Leben davontragen, wenn ich mich von seinem Vater trennte. Und Hanna wäre zuzutrauen, dass sie sofort und für immer jeglichen Kontakt zu mir abbrach, weil ich ihrem ach so geliebten Vater eine Scheidung zumutete.

Und Toni?

Toni würde wahrscheinlich für einen kurzen Moment traurig sein und dann sein Organisationstalent ausnutzen: Pläne machen fürs Mittagessen, den Fahrdienst für die Kinder und die Aufteilung der Möbel und Bücher.

«Guten Abend, meine Damen und Herren, die Fahrkarten bitte schön.» Der Schaffner, der seinen gut genährten Leib in den Wagen schob, unterbrach meine Gedanken.

Ich würde es einfach so machen wie immer. Abwarten und alles auf mich zukommen lassen.

***

Der Bahnhof in Falkensee war wie ausgestorben. Ich stieg als Einzige aus dem Zug aus. Auf einer Bank vor dem Kiosk gegenüber saß ein Penner in der Kälte im Dämmerschlaf und hielt sich an einer Dose Pils fest, der Kioskbetreiber gähnte und gewährte dabei freien Blick in seinen offenen Mund, als ich an seinem Fenster vorbeiging. Auch auf der Straße vor dem Bahnhof stand niemand, um mich abzuholen. Ich warf einen prüfenden Blick hinüber zu den beleuchteten Parkplätzen, konnte aber auch dort keinen Porsche sehen. Anscheinend hatte die Familie Romagnolo meine Ankunft ganz einfach vergessen. Ich hatte ja nicht unbedingt einen Empfang mit «Herzlich willkommen»-Plakaten und einem Kinderchor erwartet, aber allein mit meinem Gepäck im Schneeregen in der Dunkelheit zu stehen, war nicht gerade meine Traumvorstellung von einer Heimkehr nach vier Tagen Abwesenheit. Zum Glück stand wenigstens ein Wagen am Taxistand, für Falkensee keinesfalls selbstverständlich.

Nachdem ich die Haustür aufgeschlossen hatte, trat ich in ein dunkles und stilles Haus. Auf meine «Hallo»- und «Ich bin wieder da»-Rufe erntete ich keine Reaktion. Es war niemand zu Hause. In der Küche lag ein angebissenes Brot auf einem Teller, und der Kaffeevollautomat war noch an. Allzu lange konnte meine Familie also noch nicht ausgeflogen sein. Dann würde ich eben mit dem Auspacken meiner Koffer beginnen und mir anschließend ein großes Glas Rotwein gönnen.

Mit einem Teller Käsewürfel, Oliven und Gurkenscheiben sowie einem Glas Spätburgunder machte ich es mir wenig später auf einem der Sofas gemütlich. Nach diesen Wohnzimmermöbeln hatten Toni und ich lange gesucht. Die Sofas sahen aus wie in einem Hollywoodfilm, und man saß darin wie auf Wolken. Die sanften Farben des ruhigen Blumenmusters passten perfekt zum dunklen Holzfußboden des Wohnzimmers.

Ich hatte mich gerade auf dem Sofa vor dem Fernseher eingekuschelt, als die Wohnungstür aufgerissen wurde.

«Mami, Mami, endlich bist du wieder da! Wir waren Pizza essen, das war so was von lecker. Ich hatte eine große Erwachsenenpizza mit extra scharfer Salami. Hast du mir was mitgebracht?» Tom flog mir in die Arme und schmiss sich dann zu mir auf das Sofa.

«Natürlich habe ich dir etwas mitgebracht. Liegt in deinem Zimmer auf dem Bett. Dein Geschenk auch», sagte ich an Hanna gerichtet. Tom sprang wieder auf und rannte in freudiger Erwartung zu seiner Überraschung.

Meine Tochter war zusammen mit Oma Etti und Toni hinter Tom hereingekommen und nickte mir so lässig zu wie einer entfernten Verwandten. «Hi, Mum.» Dann verschwand sie betont uninteressiert ebenfalls in Richtung ihres Zimmers.

Ich stand auf, um Mann und Schwiegermutter zu begrüßen. Schon jetzt kam ich mir vor, als stünde auf meiner Stirn in roter Leuchtschrift «Betrügerin» geschrieben.

«Ilselein. Hattest du eine gute Heimfahrt? Ich dachte, du kommst erst um zehn.» Oma Etti warf Toni einen vorwurfsvollen Blick zu. «Wir lassen es uns gutgehen, und du wirst bei diesem fürchterlichen Wetter nicht einmal vom Bahnhof abgeholt. Das auch noch, Käsewürfel und Rohkost. Ich wärme dir schnell meine Suppe von heute Mittag auf. Die Kekse, die wir gebacken haben, musst du auch probieren.» Oma Etti war in ihrem Element. Kopfschüttelnd verschwand sie in der Küche.

Schließlich kam Toni näher und schaute mir in die Augen. «Du siehst irgendwie anders aus.»

«Wie anders?» Mir wurde heiß. Ich fühlte mich, als würde die Leuchtschrift auf meiner Stirn anfangen zu blinken.

«Ich weiß nicht so genau. Vielleicht … weicher. Ja, so würde ich das beschreiben.» Er küsste mich auf beide Wangen und setzte sich mit mir aufs Sofa.

«Weicher? Was meinst du denn damit?» Vielleicht doch zu viel des guten Essens? Ich hatte noch keine Gelegenheit gehabt, mich auf die Waage zu stellen.

«Wahrscheinlich hast du dich einfach gut erholt», erklärte Toni seinen Eindruck. «Wie war’s denn? Hast du dir auch die Insel angesehen, oder war es zu kalt? Ich glaube, ich war das letzte Mal vor zwanzig Jahren auf Sylt», erinnerte er sich. «Mit ein paar Studienkollegen. Da sind wir mit der Fähre von Rømø nach List gefahren und haben ein paar Tage auf der Insel gezeltet. Vielleicht sollten wir im Sommer mal nicht an die Ostsee fahren, sondern lieber nach Sylt?» Toni nahm sich mein Weinglas und trank einen Schluck. «Tut mir leid, dass ich dich nicht abgeholt habe. Ich war fest davon überzeugt, du würdest erst später kommen, und hatte mir extra noch im Internet die Verbindungen von Hamburg rausgesucht.»

«Ist nicht schlimm, ich bin ja jetzt da. Soll ich dir auch ein Glas Wein holen?» Ich wollte mich gerade aus den weichen Polstern schälen, doch Toni zog mich in seine Arme.

«Schön, dass du wieder da bist», flüsterte er mir ins Ohr.

Was sollte ich darauf antworten? Vielleicht: «Na ja, mal sehen, ob das wirklich so schön ist»? Zu meiner Rettung erschien Oma Etti mit einem dampfenden Teller Suppe in der Tür, und Toni rückte ein Stückchen von mir ab. Männer und ihre Mütter eben.

«So, mein Herzchen, hier ist etwas Warmes für dich. Erzähl, wie war es auf Sylt? Wie war das Wetter, und wen hast du auf der Geburtstagsparty getroffen?» Etti setzte sich auf das Sofa uns gegenüber und sah mich erwartungsvoll an.

Also berichtete ich vom glatten und menschenleeren Strand, dem endlos scheinenden Grau des Meeres, schwärmte vom wunderbaren Essen und brachte die beiden mit Restaurant-Tester-Geschichten von Elissa zum Lachen. Währenddessen versuchte ich, jeden Gedanken an Oke auszuklammern, und fühlte mich einfach grauenhaft.

Zum Glück ging Toni früh schlafen und störte sich nicht daran, dass ich mit Etti noch einen Krimi schauen wollte. Rein körperlich schien er mich wohl nicht allzu sehr vermisst zu haben, denn außer einem zarten Bussi auf die Wange gab es keinerlei erwähnenswerte Annäherung. Ich war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, mich zu ihm unter die Decke zu kuscheln, mich zu Hause zu fühlen und von seinem Schnarchen in den Schlaf wiegen zu lassen – und der Angst, mich neben meinem Mann nie wieder so wohl zu fühlen wie vor der Reise nach Sylt.

 

Tatsächlich wälzte ich mich die halbe Nacht im Bett herum, stand schließlich sehr früh am Morgen auf und ging unter die Dusche. Vielleicht in der Hoffnung, die Gedanken an Oke einfach mit heißem Wasser abzuspülen. Funktionierte natürlich nicht.

Mit einem großen Pott Kaffee setzte ich mich an meinen Schreibtisch, um die Post der vergangenen Tage zu öffnen. Bis ich die Kinder wecken und in die Schule bringen musste, blieb mir noch reichlich Zeit.

Während ich gepolsterte Umschläge mit Warenproben von Lucinda-Dessous öffnete, Rechnungen sortierte und die erste Weihnachtspost las, war ich in Gedanken auf einer wunderschönen Nordseeinsel. Was Oke um diese Zeit wohl machte? Wahrscheinlich lag er noch friedlich schlummernd im Bett. In dem Bett, in dem ich auch gelegen hatte. In dem Bett, aus dem ich geflüchtet war.

Schließlich warf ich die alten Briefumschläge in den Papiermüll, holte mein Handy und schrieb Oke eine Nachricht.

Hallo, Meisterkoch, alles schön bei dir? Ich bin gut zu Hause und auch fast schon wieder im Alltag angekommen. LG Ilse.

Ohne lange zu überlegen, drückte ich auf «Senden» und kam mir erst danach richtig bescheuert vor. Was hatte mich da denn geritten? So eine Nachricht hätte ich auch meinem Steuerberater schicken können, total unpersönlich und nichtssagend. Aber ich wollte etwas von Oke hören, wollte wissen, was er tat und ob er auch an mich dachte. Auf keinen Fall sollte der Kontakt zwischen uns sofort wieder abreißen. Und um wenigstens mir selbst gegenüber ehrlich zu sein, musste ich wohl zugeben, dass ich ein klein wenig verknallt war.