19. Kapitel

Ich überlegte kurz, es so zu machen wie Samantha in Sex and the City und mich mit Sushi bedeckt nackt auf den Küchentresen zu legen. Aber angesichts der Jahreszeit kam ich wieder davon ab und entschied mich für den Klassiker: Überall verteilte ich Kerzen, ließ frühzeitig eine gute Flasche Rotwein vor sich hin atmen, besorgte Blumen und stellte sie in die große Bodenvase neben dem Tisch. Tatsächlich gelang es mir mit Hilfe meiner Kochbuchsammlung und zwei Telefonaten mit Oma Etti, etwas zusammenzustellen, das Ähnlichkeit mit einem Menü hatte.

Jetzt saß ich mit einem Glas Sherry in einem eleganten kleinen Schwarzen und meinen heißesten roten Dessous (so wie die Italienerinnen, die zum Jahreswechsel als Glücksbringer rote Unterwäsche trugen) auf dem Sofa. Ich starrte in das brennende Kaminfeuer und versuchte, mir vorzustellen, wie der Abend verlaufen würde. Noch immer hatte ich keinen blassen Schimmer, wie ich reagieren sollte, wenn Toni mir angesichts meines festlichen Auftritts eine große Beichte über seine außerehelichen Aktivitäten ablegte. Noch weniger wusste ich, wie ich damit klarkommen würde, wenn er mich weiter belog.

Zum Glück wurden meine Grübeleien bald durch das Geräusch des Schlüssels in der Tür, ein Rumpeln, als Toni seine Tasche auf den Boden im Flur fallen ließ, und ein fröhliches «Hallooo, jemand zu Hause?» unterbrochen.

Kurz darauf stand Toni mit einem Gesichtsausdruck zwischen Überraschung und Erschrecken im Eingang zum Wohnbereich. Er schnupperte dem Duft aus dem Backofen nach und lächelte mich verlegen an, als ich auf ihn zukam.

«Hab ich was vergessen? Hochzeitstag? Jahrestag? Haben wir im Lotto gewonnen?»

Ich küsste ihn auf beide Wangen und hauchte «Willkommen zu Hause» in sein Ohr. «Ich wollte uns mal wieder einen romantischen Abend machen», erklärte ich ihm. «Setz dich doch, ich habe eine Kleinigkeit vorbereitet.»

«So kenne ich dich ja gar nicht. Du bist doch sonst nicht gerade begeistert, was Menüfolgen angeht. Erkenne ich da den Einfluss einer gewissen Freundin? Hat Elissa dir etwa beigebracht, dass essen mehr ist als bloße Nahrungsaufnahme?» Toni ging zu dem alten schwarzen Apothekerschrank, in dem wir die Gläser und Spirituosen aufbewahrten, und schenkte sich einen Malt-Whisky ein. «Das riecht phantastisch. Sind die Kinder nicht da?» Er deutete mit dem Kinn in Richtung Tisch, auf dem nur zwei Gedecke standen.

«Wir sind ganz für uns. Nur du und ich und unsere Geheimnisse.» Bildete ich mir das ein, oder überzog Tonis Gesicht eine ganz leichte Röte? Hatte er nicht eben auffallend hastig noch einen Schluck Malt gekippt, um mich nicht ansehen zu müssen? Ich ging hinter den Küchenblock, um im Ofen nach dem Rinderfilet zu sehen.

Toni blickte in sein Glas, schenkte sich nach und starrte dann mit leerem Blick aus dem Fenster in unseren dunklen Garten. Ja, mein Lieber, nun lass dir schnell etwas einfallen, wie du aus der Nummer wieder herauskommst, dachte ich. Wäre ich nicht so unglaublich verletzt gewesen, hätte mir dieser Abend sogar Spaß gemacht.

«Setz dich, es gibt gleich die Vorspeise. Möchtest du ein Glas Champagner oder lieber Weißwein? Ich habe Krabben und Thai-Spargel auf einem Bett von Rote-Bete-Sprossen vorbereitet, dazu passt beides.»

Toni lachte. Er lachte mich und meine Bemühungen um einen kulinarisch erleuchteten Abend einfach aus.

«Du klingst wie diese Typen in den Restaurants, wo meine Geschäftsessen stattfinden. ‹Auf einem Bett von› oder ‹im Sößchen aus› … Werde ich heute Abend auch satt? Ich habe nämlich riesigen Hunger.» Toni fläzte sich in seinen Stuhl am Esstisch, und ich hatte Mühe, die Ruhe zu bewahren.

Vielleicht war es doch keine gute Idee, diesen Mann an meiner Seite halten zu wollen? Wie konnte ich jemanden lieben, der meine Anstrengungen um unsere Beziehung nicht einen Hauch zu schätzen wusste? Wieso wollte ich einen Kerl, der sich über meine Kochkünste lustig machte, wenn ich selbst mit einer Dose Ravioli glücklich sein konnte? Einen Moment war ich kurz davor, den Herd abzuschalten, meinen Koffer zu packen und ganz weit weg zu fahren.

Aber dann sah ich Tonis lachende Augen, seine vom Alkohol geröteten Bäckchen und seine Vorfreude auf das Essen und wusste wieder, warum ich ihn geheiratet hatte und seine Frau bleiben wollte.

«Ich nehme Champagner! Wenn ich schon in den besonderen Genuss komme, dass meine Frau mir ein Sternemenü kocht, will ich bei den Getränken klotzen. Immer her mit dem feinen Gesöff.»

Also doch eine Art von Anerkennung, das war immerhin ein Anfang. Ich nahm den Champagner aus dem Kühlschrank und schenkte uns ein. Beim Anstoßen sah ich Toni tief in die Augen, in der Hoffnung, dort irgendetwas zu erkennen: Liebe oder Abneigung oder eine andere Gefühlsregung, die mir endlich Aufschluss gab.

Toni deutete meine forschenden Blicke anders. «Bist du sicher, dass du essen willst, oder steht dir womöglich der Sinn nach etwas anderem?» Er grinste anzüglich und leckte sich mit der Zunge über die Lippen.

«Nein, erst essen wir», betonte ich nachdrücklich. Ich stellte mein Glas ab und ging zur Anrichte, um die vorbereiteten Teller mit den Vorspeisen zu holen. Weil ich den ganzen Tag kaum etwas gegessen hatte, spürte ich bereits den Alkohol. Während der nächsten Gänge musste ich darauf achten, mit reichlich Wasser auszugleichen, sonst würde aus meinem hehren Plan schnell ein alkoholisierter Fressabend ohne jede Eleganz. Dafür hatte ich nicht den ganzen Tag in der Küche gestanden.

Toni war begeistert von der Vorspeise und aß anschließend mit Genuss das Rinderfilet mit Möhrchen aus dem Ofen, die Bohnen im Speckmantel und die Rosmarinkartoffeln.

Ich hatte gerade den lauwarmen Schokoladenkuchen mit Vanilleeis gekrönt und mich wieder an den Tisch gesetzt, als ein Piepsen den Eingang einer Textnachricht auf Tonis Handy anzeigte. Er murmelte «Entschuldigung» und griff nach dem Telefon, um zu nachzusehen, wer ihm schrieb.

In mir begann es zu brodeln. Toni errötete schon wieder und versuchte, meinem Blick auszuweichen, während er begann, eine Antwort in sein Handy zu tippen. Ich rührte heftig Zucker in meinen Espresso, bemühte mich, Haltung zu bewahren und den wunderbaren Abend weiter zu genießen. Toni aß einen Löffel Kuchen mit Eis und verdrehte gerade genießerisch die Augen, als das böse Telefon das Eintreffen einer weiteren SMS verkündete. Wieder ein hastiger Blick auf das Display, die Andeutung eines Lächelns … Und in mir explodierte etwas. Mit Anlauf und Alarm.

«Na, ist das die Freundin von Engelchen? Will sie auch zum Essen kommen? Spinnst du eigentlich?» Mein Espressolöffel flog quer über den Tisch und verfehlte den Kopf meines Mister-Liebesnachrichten-Versenders nur um Millimeter. «Hältst du mich für komplett bescheuert?» Es tat unglaublich gut, den ganzen Druck des Abends endlich herauszulassen. Was in französischen Spielfilmen funktionierte, klappte bestimmt auch im Einfamilienhaus in Falkensee, dachte ich und warf die Tasse dem Löffel hinterher. Das Porzellanteil segelte an Tonis Ohr vorbei gegen die Wand und prallte davon ab, ohne zu zerbrechen, was meiner aufgestauten Wut nicht besonders guttat.

Mein Mann starrte mich fassungslos an, die Hand mit dem Löffel auf halber Strecke zum Mund wie eingefroren. Das Handy neben ihm piepte weiter.

«Du kannst doch nicht in aller Seelenruhe mir gegenübersitzen und mit deinem Verhältnis Liebesbotschaften austauschen! Eigentlich hatte ich gehofft, wir kriegen das wieder hin, haben einen schönen Abend, reden über alles und machen einen Neuanfang. Aber was deine Gefühle für mich angeht, lag ich anscheinend noch mehr daneben als vermutet. Wie groß muss deine Verachtung für mich sein, wenn du zu so etwas in der Lage bist …»

Bei jedem meiner Worte wurden Tonis Augen ein Stückchen größer. Er legte den Löffel ab und schnappte nach Luft. «Ilse, warte mal, was meinst du denn mit ‹Verhältnis›? Ich verstehe nicht …», versuchte er, mich zu unterbrechen.

«Du verstehst nicht? Verstehst du das besser?» Meiner Frage folgte ein weiteres Geschoss in seine Richtung. Dieses Mal mein Champagnerglas, das sofort zu Bruch ging und an der roten Wand einen nassen Fleck hinterließ. Während ich kurz darüber nachdachte, ob man die Tapete wohl neu würde streichen müssen, versuchte ich, die Tränen zu unterdrücken, die mit aller Macht hervordrängten. «Du fährst mit irgendeinem Mädchen in ein Hotel und erzählst mir etwas von Dreharbeiten für einen Werbespot. Du bist kaum noch zu Hause, und wenn, dann verschickst du heimlich Nachrichten mit deinem Handy oder suchst nach Liebes-Fluchtburgen im Internet für den nächsten Ausflug mit deinem Häschen.» Es fühlte sich an, als rutschte der Klumpen, der seit Tagen in meinem Hals klemmte, mit jedem Satz ein Stück tiefer in meinen Magen. «Während ich zu Hause den Laden zusammenhalte, mich um die Kinder kümmere und dafür sorge, dass der Kühlschrank gefüllt ist.» Ich kam mir selbst jämmerlich vor. Trotzdem konnte ich nicht verhindern, dass mir vor Selbstmitleid die Tränen aus den Augen schossen, die ich so mühsam zurückgehalten hatte. Ich fiel in mich zusammen wie ein misslungenes Soufflé und heulte wie ein Teenager.

Toni stand von seinem Stuhl auf, kam um den Tisch herum und legte seine Hände auf meine Schultern. «Jetzt reg dich mal wieder ab, und dann erklärst du mir in aller Ruhe, was du mit Engelchen, Häschen und Liebchen und so meinst. Ich stehe leider auf dem Schlauch und habe keine Ahnung, was hier gerade abgeht.»

Ich schniefte und versuchte, seine Hände abzuschütteln, die warm auf meinen Schultern lagen. Langsam ließ der Tränenfluss nach, und die Wut verschaffte sich wieder Raum. Wie hatte mir nur all die Jahre entgehen können, mit was für einem Lügner ich zusammenlebte? Machte einen auf Unschuldslamm, stopfte sich mein mühsam zubereitetes Menü in den Rachen und sendete seiner Liebsten nebenher eindeutige Botschaften aufs Handy.

Toni gab seufzend auf. Er nahm seine Hände von meinen Schultern und setzte sich wieder auf seinen Platz. Dann schenkte er uns Wein nach, nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas und reichte mir seine Serviette, als er sah, dass meine bereits vollgeheult war. Ich hatte große Lust, noch mehr Dinge an die Wand zu werfen. Aber da aller Wahrscheinlichkeit nach ich diejenige sein würde, die den ganzen Dreck wieder wegmachte, beließ ich es dabei, Toni sein Papiertuch an den Kopf zu werfen. Das tat zumindest ein bisschen gut.

Er saß immer noch da wie der Depp vom Dienst. «Geht’s wieder?», wollte er wissen und sah mich dackelig an.

«Nein, es geht nicht wieder.» Ich spürte, wie sich mein innerlicher Korken weiter löste und drohte, den Weg für eine Explosion aufgestauter Gefühle freizugeben. «Und es wird auch morgen nicht wieder gehen, wenn du nicht endlich mit dieser scheinheiligen Nummer aufhörst. Wie kannst du dich an den Tisch setzen, Wein in dich reinschütten und so tun, als wäre ich für dich die beste Ehefrau der Welt?»

«Aber das bist du doch …», wandte er hilflos ein.

Langsam ging mir auf, dass die Idee mit dem tollen Essen und der körperlichen Annäherung harmlos ausgedrückt ein absoluter Schuss in den Ofen war. Scheiß auf Diplomatie. Ich trank einen Schluck Wein, der jedem Bauarbeiter zur Ehre gereicht hätte, und ließ den Korken sausen.

«Weißt du was, du bist ein echter Drecksack! Betrügst mich und machst einen auf liebender Ehemann. Fährst in der Weltgeschichte herum und schläfst mit einer anderen – ach, vielleicht war es gar nicht nur eine, vielleicht waren es sogar mehrere? Ich habe in deinem Büro Belege für Schmuck gefunden, im Internet suchst du nach besonderen Hotels …»

Toni schlug mit der Faust so heftig auf den Tisch, dass der Brotkorb umfiel und sein Glas bedenklich wackelte. Ich hatte meinen Kelch sicherheitshalber in der Hand behalten und schenkte mir auf den Schreck großzügig nach.

«Die Frage ist ja wohl, wer hier den größeren Mist gebaut hat. Wieso fragst du mich nicht einfach, bevor du so wirres Zeug vor dich hin phantasierst?» Ich konnte mich nicht erinnern, meinen Mann jemals so wütend gesehen zu haben. «Ich habe keine Freundin oder Geliebte und auch keinen Harem. Ich betätige mich nicht nebenberuflich als Zuhälter oder Trainer einer Mädchen-Laufmannschaft. Du hast kein Recht, in meinen Unterlagen herumzuschnüffeln und in meinem Computer Dinge nachzulesen, die dich nichts angehen.»

«Selbstverständlich geht mich das etwas an!» Ich fühlte mich im Recht, schließlich hatte ich genügend Beweise gefunden.

«Ja, wenn ich dich betrogen hätte, würdest du dich jetzt bestimmt besser fühlen, weil du dann eine prima Ausrede hättest, warum du einen Fehler gemacht hast. So funktioniert es bei dir ja am besten: selber Mist bauen, und dann sind aber die anderen schuld.» Sein Ton wurde schärfer. «Hanna hat dir deinen Lebenstraum von der großen Karriere als Fotokünstlerin verdorben, weil sie zu früh auf die Welt wollte. Deine Mutter ist dafür verantwortlich, dass du so eine miese Köchin bist. Und alles andere kannst du ja mir in die Schuhe schieben.»

Ich wollte reagieren, aber mir fiel keine gute Antwort ein. Deshalb trank ich einfach weiter und hörte Toni wohl oder übel zu.

«Du musst endlich damit anfangen, dein Leben in den Griff zu kriegen. Wenn du wieder mehr fotografieren willst, dann mach das doch. Wer hindert dich daran? Ich bezahle dir gern die Meisterschule, wenn es das ist, was du gerne möchtest.» Er sah mich an, und ich konnte sehen, wie sich seine Wut in Mitleid verwandelte. «Wenn du keine Lust mehr hast, mit den Schlüppern durch die Wohnzimmer zu touren, dann lass es eben sein. Und wenn du mich nicht mehr liebst, dann lass mich gehen.» Toni stützte den Kopf auf die Hände und schloss die Augen. Er seufzte. «Ich kann nicht mehr. Es ist mir zu anstrengend, mich ständig dafür zu rechtfertigen, dass ich glücklich mit meiner Arbeit bin. Ich will kein schlechtes Gewissen haben, weil ich meine Kinder und meine Frau so sehr liebe, dass ich keine anderen Menschen brauche. Ich möchte nicht länger um Sex betteln müssen. Und ich werde kein Logbuch darüber führen, mit welchen Frauen ich beruflich zu tun habe, damit es zwischen uns nicht zu Missverständnissen kommt.»

Jetzt fiel mir wieder ein, was ich vergessen hatte. «Aber wer war dann die Frau auf deinem Hotelzimmer, als du angeblich beim Dreh warst und ich dich in Barcelona angerufen habe? Außerdem wüsste ich wirklich gern, warum eine Kollegin aus der Agentur dich Engelchen nennt.»

Er runzelte die Stirn, überlegte kurz und antwortete dann zögernd. «Im Hotel? Warte … Eigentlich ist es scheißegal, wer in meinem Zimmer war. Wenn ich dir sage, dass nichts passiert ist, dann sollte das wohl ausreichen.» Er schien tatsächlich sein Hirn zu martern, wen ich meinte. «Aber wenn du es unbedingt wissen willst, das war wohl Lizzy, das Model, von dem ich dir erzählt hatte. Wir mussten sie kurzfristig engagieren, und dann war auf einmal mitten am Tag das Licht Mist. Also haben wir eine Drehpause eingelegt, und Lizzy wollte sich einen Moment ausruhen. Da habe ich ihr mein Zimmer angeboten.» Er stieß zischend die Luft zwischen den Zähnen aus. «Da wir gerade dabei sind: Die Hotels habe ich im Internet angesehen, weil ich mit dir nach deinem Geburtstag verreisen wollte. Und die Quittung aus dem Juwelierladen war für dein Geburtstagsgeschenk.» Er hielt kurz inne. Standen ihm wirklich Tränen in den Augen? «Dann wären da noch die Wärmepilze und das große Zelt und die Einladungskarten für die Überraschungsparty zu deinem Geburtstag. Habe ich noch etwas vergessen?» Er tat, als würde er nachdenken. «Natürlich – Engelchen! Die Praktikantin hatte ich eingespannt, um mir beim Organisieren zu helfen. Und Hilke war der Meinung, dass ein so phantastisch organisiertes Fest höchstens durch das Wetter verdorben werden könnte. Darauf habe ich geantwortet, dass immer die Sonne scheint, wenn Engelchen reisen. Da hatte ich meinen neuen Spitznamen in der Agentur weg. Wärst du in der letzten Zeit mal vorbeigekommen, hättest du gehört, dass sogar Andreas und Jürgen mich Engelchen nennen. Aber vielleicht leide ich ja unter Altershomosexualität und nehme alles mit, was nicht bei drei auf dem Baum ist.»

«Das ist doch nicht wahr.» Ich konnte nur noch flüstern.

«Wieso darf das nicht wahr sein? Weil du mir nicht zutraust, dass ich eine Riesenparty auf die Beine stellen kann? Ilse, du hast alles verdorben. Nicht nur mir, sondern auch den Kindern. Die haben mir nämlich geholfen, Ideen zu entwickeln und umzusetzen. Tom bastelt seit Tagen heimlich an den Einladungskarten, und sogar Hanna war Feuer und Flamme, einen coolen DJ aufzutreiben. Wir wollten deinen Vierzigsten für dich zu etwas ganz Besonderem machen.» Er stieß ein enttäuschtes Lachen aus. «Das zumindest ist dir gelungen – diese Überraschung werde ich so schnell nicht vergessen.»

«Aber … du hast doch … Es ist doch klar, dass …» Doch auf einmal war mir gar nichts mehr klar. Toni saß vor mir und starrte den Tränen nahe in sein Glas.

In meinem Kopf drehte sich alles, und das lag nicht nur daran, dass ich in den letzten Minuten ein Glas Wein nach dem anderen in mich hineingeschüttet hatte. Ich war der letzte Dreck. Ein ekelhaft misstrauisches, spionierendes Weib, das einen liebenden Mann wie Toni nicht verdient hatte. In was für einen Wahnsinn hatte ich mich bloß mit meinen dummen Verdächtigungen hineingesteigert?

Ich legte meine Hand vorsichtig auf Tonis. «Es tut mir leid.»

Wütend schüttelte er meine Hand ab. «Es tut dir leid?», brach es förmlich aus ihm heraus. «Was genau tut dir denn leid? Dass du uns die Überraschung verdorben hast? Dass du dich wie ein unreifer Teenager benommen hast? Dass du mein Vertrauen missbraucht hast? Dass du mich nicht mehr liebst?» Für einen Moment schienen Tonis Augen Funken zu versprühen. «Ilse, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Was machen wir denn jetzt?»

Ich konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Und dann begann auch Toni zu weinen. Schließlich saßen wir da wie zwei Darsteller in einem miserablen Film, zwischen leeren Weinflaschen, Essensresten, den Scherben des Geschirrs und unserer Ehe und heulten uns die Augen aus dem Kopf.

Ein Handy piepste beim Eingang einer SMS, aber Toni reagierte nicht. Schniefend putzte ich mir die Nase. Das Telefon gab noch einmal piepsend bekannt, dass es etwas Neues zu lesen gab.

«Willst du nicht nachsehen? Vielleicht ist es wichtig.»

Toni sah mich mit roten Augen an. «Das war nicht meins.»

Also fischte ich mein Handy hinter dem Brotkorb hervor. Tatsächlich hatte ich eine neue Nachricht. Von Oke. Ausgerechnet. Ein zusätzlicher Hinweis auf meinen miesen Charakter. Ich wollte jetzt nicht lesen, was er schrieb, und schaltete das Handy einfach aus.

«Ilse, auch wenn du mich für unsensibel hältst – du musst dir überlegen, ob ich noch der richtige Mann für dich bin. Ich habe doch in den letzten Wochen gespürt, dass du nicht ganz hier, bei mir, bei uns bist.» Er sah so traurig aus. Und ich hatte gedacht, er wollte mich verlassen. «Ich dachte, das hängt mit deinem runden Geburtstag zusammen. Damit, dass es für dich nicht einfach ist, vierzig zu werden. Aber vielleicht hast du ja auch einfach genug von mir. Wenn ich daran nichts ändern kann, müssen wir wohl herausfinden, wie wir getrennter Wege gehen können, ohne dass die Kinder Schaden nehmen …»

«Aber ich will mich gar nicht von dir trennen! Und es ist auch nicht wahr, dass ich dich nicht mehr liebe.» Langsam begriff ich, dass ich mit meinen Aktionen mehr Schaden angerichtet hatte, als ich mir jemals hätte vorstellen können.

«Aber irgendetwas stimmt doch nicht mehr zwischen uns», beharrte Toni. «Du willst nicht mehr mit mir schlafen, du erzählst kaum noch etwas, du unterstellst mir ein Verhältnis … Das klingt für mich nicht nach einer Frau, die sich nach ihrem Ehemann verzehrt.»

Es war absurd und absolut unpassend, aber auf einmal musste ich unfreiwillig über seine Formulierung grinsen. Auch Tonis Mundwinkel verzogen sich ganz leicht nach oben. Und dann noch ein wenig.

«Witzig ist das eigentlich nicht», sagte er dann.

«Nein, das ist das Gegenteil von witzig», stimmte ich ihm zu. «Das ist so bescheuert, dass man eigentlich nur darüber lachen kann. Du hättest die allerbesten Gründe, dich entweder auf der Stelle von mir zu trennen oder mich umgehend in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie einweisen zu lassen. Und jetzt muss ich dir was erzählen: Ich habe angefangen, dir zu misstrauen, weil ich mich selbst fast in einen anderen Mann verliebt hätte.» Jetzt war meine letzte Chance, reinen Tisch zu machen und Toni ehrlich zu erklären, warum ich auf ihn so verändert gewirkt hatte. «Ich war total aus dem Häuschen, als plötzlich jemand die Frau in mir sah. Und nicht die Mutter oder die Ehefrau oder die Dessous-Vertreterin. Wie sehr ich dich liebe, habe ich erst gespürt, als es fast zu spät gewesen wäre. Als ich dir dann ganz nah sein wollte, war da plötzlich diese Frau am Telefon, und da dachte ich …»

Von einer Sekunde auf die nächste war Toni das Lächeln wieder wie aus dem Gesicht gewischt. «Du hast gedacht, wenn du mich betrügst, würde ich das wohl auch mit dir machen?! Mein lieber Scholli, du tickst echt nicht richtig. Das ist ja alles noch viel schlimmer, als ich befürchtet habe.» In seinen Augen konnte ich sehen, wie kurz der Zorn in ihm aufwallte. Aber schon in der nächsten Minute hatte er sich wieder unter Kontrolle. Er stützte sein Gesicht auf beide Hände und sah mich an wie ein Hund, der um eine Streicheleinheit bettelt. «Und wer ist der Typ?»

«Das ist doch egal. Es ist ja nichts gelaufen, und es wird auch nichts laufen. Ich fühlte mich geschmeichelt, weil ein jüngerer Mann mich toll fand. Das war auch schon alles.»

Wieder saßen wir da und starrten uns an. So offen und lange hatten wir seit Monaten nicht miteinander geredet. Endlich zeichnete sich auf Tonis Gesicht so etwas wie ein heller Sonnenstrahl zwischen grauen Regenwolken ab.

«Vielleicht sollten wir die Kinder zur Adoption freigeben, dann hätten wir öfter Abende wie diesen, an denen wir uns in Ruhe unterhalten können. Dann käme es nicht zu solchen schlimmen Missverständnissen. Ich liebe dich nämlich. Sehr.»

«Ich glaube nicht, dass jemand Interesse an einem pubertierenden Teenager und einem quasseligen Tierfreak hat, das können wir vergessen.» Ich spürte, wie es in mir zu gluckern begann.

«Hast du den Kassenbon aufbewahrt? Möglicherweise können wir die beiden gegen zwei gute Flaschen Rotwein umtauschen.» Toni prustete los, und ich merkte, wie sich die gesamte Anspannung der letzten Zeit in einem riesigen Lachanfall Bahn brach.

***

Ein paar Stunden später saßen wir zusammen auf dem Fußboden vor unserem breiten Sofa und knutschten wie vor fünfzehn Jahren. Es lief eine uralte Kuschelrock-CD, ein Glas kippte um, und Toni schmeckte nach der Schokolade vom Nachtisch und roch nach Ankommen und Zuhausesein. Ich dachte wirklich nur ganz kurz darüber nach, wie ich den fetten Rotweinfleck aus dem Teppich wieder herausbekommen sollte, wenn er erst einmal eingetrocknet war.

Wir quatschten über unsere alten Studentenzeiten, über Hannas ersten Schultag und Toms Kuschelbedürfnis. Wir machten uns auf die Suche nach den Tagen, an denen die große Verliebtheit zwischen uns verschwunden und die vielen Dinge, die uns früher wichtig gewesen waren, im Alltag untergegangen waren. Wir forschten nach den Fäden, die uns und unsere Beziehung über die Jahre zusammengehalten hatten. Die wollten wir wieder aneinanderknüpfen, dazu waren wir beide bereit. Wir redeten und weinten, wir lachten und erklärten uns, tauschten Erinnerungen aus und kuschelten uns aneinander. Aus dem Kuscheln wurde Küssen, und das Küssen steigerte sich gerade zu mehr, als es an der Haustür klingelte.

«Wer kann das sein?» Toni sah auf die Uhr und rappelte sich auf, während er sein Hemd in den Hosenbund stopfte. «Um diese Zeit?»

Ich schob ihn mit sanftem Druck zurück. «Bleib liegen, Engelchen. Ich gehe nachsehen. Vielleicht hat Tom es nicht in einem Zimmer mit fünf anderen Jungs ausgehalten, die von Körperhygiene ungefähr so viel verstehen wie von Atomphysik, und wollte lieber zwischen seine eigenen sauberen Laken schlüpfen», suchte ich nach einer Erklärung für die Störung.

Ich öffnete die Haustür.

«Ilse! Gott sei Dank, du bist da. Ich hätte sonst nicht gewusst, wohin …»

Etwas sehr Mageres und Verzweifeltes, das mich ein wenig an Sylvia erinnerte, fiel mir um den Hals und brach in Tränen aus.

«Mein Männe hat mich rausgeworfen. Er hat was mit dem Dreckstück Gundula, das bei ihm die Buchhaltung macht. Kannst du dir das vorstellen? Das Weib ist dreimal so dick wie ich und trägt ausschließlich Tweedröcke und Twinsets. Was findet er bloß an so einer?»

Ich versuchte, das heulende Etwas von mir wegzuschieben. «Nun beruhig dich doch erst mal. Mensch, Sylvia, und was willst du jetzt von mir? Warum bist du nicht zu einer von deinen Yoga-Freundinnen gefahren?»

«Spinnst du? Wenn ich bei einer von denen auftauche, erzählen die das doch überall herum, und ich kann mich nirgendwo mehr sehen lassen. Das wäre unerträglich peinlich!» Sie klang, als könnte sie nicht glauben, dass ich überhaupt so eine blöde Frage stellte. «In einem Hotel kann ich auch nicht bleiben. Was, wenn mich dort jemand erkennt? Was sollte ich denn dann für eine Geschichte erzählen? Dass mein Ehemann mich mit einer wesentlich älteren und hässlichen Schrapnelle hintergeht, glaubt mir doch kein Mensch.»

Schicksalsergeben zog ich Sylvia ins Haus und sah erst jetzt die zwei Monsterkoffer hinter ihr, in denen mühelos der Inhalt meines gesamten Kleiderschrankes Platz gefunden hätte. «Du willst doch nicht hier übernachten?»

Wieder Sturzbäche von Tränen. «Ilseeee, ich habe doch sonst niemanden!»

«Aber hier bei uns, also ich weiß nicht …» Ich wollte mich doch mit Toni aussöhnen. Das konnte ich jetzt ja wohl abhaken.

«Ist doch kein Problem. Das Gästezimmer ist frei, das Bett frisch bezogen, und genug zu essen und zu trinken ist auch im Haus.» Toni stand grinsend in der Tür zum Wohnzimmer. «Hallo, Sylvia. Natürlich sind wir in solch einem Notfall für dich da. Bleibst du länger?» Er deutete auf die Schrankkoffer.

«Ich habe nur eingepackt, was ich für ein oder zwei Nächte brauche.» Langsam ebbte Sylvias Schluchzen ab. «So richtig glaube ich noch nicht, was mein Männe mir da erzählt hat. Das kann er doch nicht ernst gemeint haben, oder was meinst du, Ilse?»

Ilse meinte, dass dieses selbstgefällige Luder umgehend in ein Hotel fahren oder eine ihrer unterbelichteten Freundinnen beim Kalorienzählen stören sollte. Aber Toni führte Sylvia bereits ins Wohnzimmer und platzierte sie auf dem Sofa. Er schenkte ihr großzügig aus der offenen Flasche Rotwein ein und grinste mich hinter ihrem Rücken an.

«So, die Damen, dann will ich bei den Frauengesprächen nicht länger stören. Ich gehe ins Bett. Schlaft gut.» Als Toni an mir vorbeiging, streichelte er mir mit der Hand über den Po und flüsterte mir ins Ohr: «Mach nicht so lange, ich warte oben auf dich.»

Das hatte er sich ja großartig ausgedacht. Sylvia leerte in Rekordgeschwindigkeit ihren Wein, dann starrte sie mit leerem Blick an die Wand. Ich setzte mich ihr gegenüber und schenkte uns beiden nach. «Nun erzähl mir ganz in Ruhe, was eigentlich passiert ist. Vielleicht hast du dich ja verhört oder etwas missverstanden. Manchmal kommt es vor, dass zwei Menschen ein und dieselbe Sache völlig unterschiedlich interpretieren.»

«Ha!» Sylvias ohnehin strenge Gesichtszüge wurden noch strenger, soweit das bei den Botoxmengen unter ihrer Haut möglich war. «Von wegen, falsch interpretiert. Mein wunderbarer Ehemann hat sich heute nach dem Abendessen zurückgelehnt, sein Glas geleert und dann eiskalt verlangt, dass ich so schnell wie möglich sein Haus verlasse. Er würde sich um einen angemessenen Unterhalt für mich nicht drücken, aber ich könnte sicher einen Teil meiner Ausgaben künftig selbst bestreiten, da ich weder krank noch behindert wäre.»

Wow, so viel Auflehnung hätte ich Männe gar nicht zugetraut. «Vielleicht wollte er dich nur daran erinnern, dass er das Geld verdient, und wünscht sich von dir mehr Wertschätzung?»

«Ja, klar», konterte Sylvia sarkastisch. «Deswegen hat er auch die Kreditkarten zurückverlangt und meinen Autoschlüssel einkassiert.»

Jetzt begriff ich, warum kein Wagen vor unserer Haustür gestanden hatte, offenkundig hatte Sylvia ein Taxi genommen. «Bestimmt wünscht er sich von Gundula auch einfach nur Wertschätzung, selbstgestrickte Socken und ab und an eine heiße Hühnersuppe. Gundula, schon dieser Name!»

Vielleicht lag Sylvia damit gar nicht so daneben. Vielleicht hatte ihr Mann tatsächlich einfach Sehnsucht nach Geborgenheit und Liebe, statt ausschließlich als Hausbank betrachtet zu werden.

«Und woher weißt du von Gundula?» Vielleicht hatte sie ähnlich detektivische Fähigkeiten entwickelt wie ich in meiner jüngsten Vergangenheit?

«Das hat er mir erzählt. Du kannst dir vorstellen, dass ich komplett unter Schock stand, als er mir die Kreditkarten abgenommen und ein paar hundert Euro für die nächsten Tage hingelegt hat. Ich dachte, jeden Moment springt dieser gruselige Typ mit der versteckten Kamera um die Ecke.» Sylvia war der Schreck immer noch anzusehen. «Stattdessen musste ich mir anhören, dass da diese Frau ist. Gundula eben. Aus der Buchhaltung seiner Kanzlei. Natürlich habe ich die schon gesehen, bei Weihnachtsfeiern oder wenn ich mal da war, um ein paar Einkaufstaschen abzustellen oder so. Die sieht aus wie eine Freundin meiner Mutter. Wenn das jemand erfährt, bin ich geliefert.» Sylvia kippte den Inhalt ihres Weinglases in einem Zug herunter und schenkte sich, ohne zu fragen, den Rest aus der Flasche ein.

«Also geht es dir gar nicht um deinen Mann, sondern darum, dass du nicht doof dastehst? Wenn dein Mann dich mit einem achtzehnjährigen Topmodel betrügen würde, würde es dir nichts ausmachen, verstehe ich das richtig?» Anscheinend hatte ich Sylvia falsch eingeschätzt.

«Wer redet denn hier von betrügen? Du glaubst doch nicht im Ernst, dass die Sex miteinander haben? Allein die Vorstellung ist so ekelhaft, dass ich gleich Herpes-Pickel kriege. Igitt!! Die spielen vielleicht Scrabble oder gehen walken, aber die ziehen sich doch nicht nackt aus … Oh mein Gott, nein, das will ich mir nicht vorstellen.»

Sylvia blieb, was sie war: ein selbstsüchtiges, egoistisches Miststück. Eigentlich fand ich, sie hatte genau so eine Situation verdient. Und eigentlich hätte man sofort Plakate von Männe und Gundula drucken lassen und an allen Litfaßsäulen ankleben müssen, um niemanden über die neuen Tatsachen im Unklaren zu lassen. Andererseits tat mir Sylvia auch ein wenig leid. Der eigene Mann wollte lieber ein gemütliches Vollweib statt seiner durchdesignten Ehefrau, die ihr ganzes Taschengeld für eine neue Nase und pralle Pobacken ausgegeben hatte. Ihre Freundinnen waren in Wahrheit lediglich Botoxgefährtinnen, Shoppingberaterinnen oder Diätassistentinnen. Kinder hatte sie nicht, und zu ihrer Familie hatte sie seit Jahren kaum noch Kontakt. Ihre Eltern waren mit der Ehe nicht einverstanden gewesen und nicht einmal zu der pompösen Hochzeitsfeier erschienen.

Nun stellte sich heraus, das Sylvia in all den Jahren, in denen bei ihr alles um die richtige Figur, die richtigen Klamotten und das richtige Aussehen gegangen war, komplett vergessen hatte, was für sie das Richtige war. Und jetzt war Sylvia richtig allein.

Ich legte meinen Arm um sie, als sie wieder zu schluchzen begann. «Jetzt leg dich erst einmal hin und schlaf dich aus. Morgen überlegst du dann, ob du nicht vielleicht in deiner Ehe auch einige Dinge falsch gemacht hast. Ich bin sicher, dass dein Mann nichts dagegen hat, sich noch einmal mit dir hinzusetzen und darüber zu sprechen.»

«Aber ohne Gundula.»

«Ja, selbstverständlich ohne Gundula.»

«Hach.» Sylvia schnäuzte sich wie ein Waldarbeiter in eine meiner gestärkten Festtagsservietten. «Ich weiß gar nicht, ob ich ihn wiederhaben will. Es war wirklich bequem, immer genug Geld zu haben und nie darüber nachzudenken, was ich kochen soll. Aber manchmal habe ich dich um deine Familie, deine Kinder und deinen Job beneidet.»

«Um die Dessous-Partys?» Wieso mich jemand um diesen Job beneidete, konnte ich wirklich nicht verstehen. Berufe zum Neidischwerden waren doch eher Chirurgin oder Polarforscherin.

«Ja, das ist doch ein tolle Sache: Du bist umgeben von himmlischer Wäsche und verdienst damit auch noch Geld. Das muss dich unglaublich zufrieden machen.»

Dass Sylvia noch nie die hellste Kerze auf der Torte gewesen war, war mir klar, aber für derart oberflächlich hatte ich sie nicht gehalten.

«Sylvia, ich mache diesen Job nur, weil er sich prima mit dem Familienleben vereinbaren lässt. Ich kann selbst bestimmen, wann und wie viel ich arbeite. Wenn eins meiner Kinder krank ist, rufe ich die Gastgeberin eben an und verschiebe die Party auf einen anderen Abend. Natürlich macht mir das auch Spaß, aber ursprünglich hatte ich ganz andere Träume.»

Sylvia hatte sich inzwischen vom Esstisch den Teller mit der angegessenen Nachspeise geholt, die Toni dort hatte stehen lassen, und schaufelte sich den Rest in einem Affentempo in den Mund. Anscheinend hatte sie Angst, sich bald auch kein Essen mehr kaufen zu können.

«Efft?? Waff wollteft du denn ma machen?», nuschelte sie zwischen Vanilleeis und Brocken von Schokoladenkuchen.

«Eigentlich wollte ich Fotografin werden.»

«Ftimmt. Jepft erinner ich mich.» Sie schluckte das Dessert herunter. «Du hast doch damals diese coolen Bilder von unserer Abschlussparty gemacht. Mensch, sahen wir da noch alle gut aus. Nicht eine Falte hatte ich und eine Haut zum Niederknien.»

«Daran hat sich doch nichts geändert.»

Sylvia wollte sich gerade wieder den Löffel in den Mund schieben, doch dann musste sie unfreiwillig kichern. «Stimmt, aber heutzutage habe ich das glatte Gesicht nicht meiner Jugend zu verdanken, sondern dem Konto meines Mannes … oder Exmannes?» Sie schaute mich unglücklich an, wieder stiegen ihr die Tränen in die Augen.

«Willst du mehr Schokoladenkuchen? Es ist bestimmt auch noch Vanilleeis da. Wenn du möchtest, kann ich die Torte ein bisschen warm machen.» Essen war doch immer eine gute Medizin. Aber zu spät, die Tränen kullerten bereits, bevor ich aufgestanden war.

«Ich habe es gar nicht verdient, dass du so nett zu mir bist. All die Jahre habe ich mich immer nur darum gekümmert, Geld auszugeben und schön zu sein. Und nun sitze ich hier und heule, weil mein Mann mich mit einer fetten alten Schachtel betrügt und ich das keiner meiner Freundinnen erzählen kann, weil die mich alle auslachen würden.» Sie schwang ihre Gabel in meine Richtung. «Scheiß auf die Kalorien und die schlanke Linie. Gib mir eine doppelte Portion von deinem Kuchen und Schlagsahne auch, wenn welche da ist. Jetzt fängt ein neues Leben an!»