11. Kapitel

Nach einer nahezu schlaflosen Nacht, in der mir viele Gedanken durch den Kopf schwirrten, schickte ich eine SMS an Oke. Ich bat ihn um Verständnis und darum, mir nicht böse zu sein. Er antwortete nicht, und ich kam zu keinem Ergebnis, ob ich deswegen nicht vielleicht doch ein bisschen enttäuscht war.

Elissa nahm sich am Morgen Zeit für ein ausgiebiges Frühstück mit mir, anschließend wollte sie in die Redaktion.

«Tut mir leid, Süße, ich wäre gern noch ein wenig mit dir durch die Stadt gebummelt oder hätte dich wenigstens zum Bahnhof gebracht. Aber heute muss ich mich um das Sonderheft kümmern, sonst hole ich das nie wieder auf», entschuldigte sie sich, bevor sie eingehüllt in die Kaschmir-Strickjacke, die sie nach unserem Strandausflug endlich ausgepackt hatte, verschwand.

Nachdem ich das Frühstücksgeschirr abgeräumt und alle Essensreste in den Kühlschrank gestellt hatte, schminkte ich mich und packte meine Sachen zusammen. Ich hatte keine Lust, noch einmal alleine bummeln zu gehen. Mir war auch nicht nach einem Kaffee zwischen lauter fremden Menschen in einem Restaurant oder Café. Immer wieder fragte ich mich, ob meine Entscheidung richtig gewesen war, Oke vor meiner Abfahrt nicht mehr zu treffen. Womöglich würde es mir leichter fallen, wieder nach Falkensee zu fahren, wenn ich mich vorher Auge in Auge mit ihm ausgesprochen hätte. Vermutlich wäre mein Gewissen dann reiner, und ich könnte mich davon überzeugen, dass ich wirklich nichts für ihn empfand.

Aber stattdessen kuschelte ich mich auf Elissas gemütliches Sofa und versuchte zu lesen. Als ich zum dritten Mal einen Artikel über eine besondere Art las, eine Pute vor dem Braten einzulegen, und nichts davon in meinem Hirn ankam, gab ich auf und schaltete den Fernseher ein. Nachrichten, Eiskunstlauf, eine Wiederholung von Wetten, dass?, eine Gerichtsshow und ein Boulevardmagazin konnten mich auch nicht fesseln. Vermutlich war es am besten, wenn ich zum Bahnhof fuhr und die verbleibende Stunde dort wartete, die Reisenden beobachtete und so die Zeit gedankenlos vertrödelte.

Meine schweren Koffer schleppte ich einzeln zum Fahrstuhl. Auf meine Frage an den Taxifahrer, ob er mir beim Tragen helfen könne, rief er nur in die Gegensprechanlage: «Neee, dat geiht nich, junge Fruu. Dor hett mi ook keen een wat vun seggt in de Zentrale. Ik heff dat inne Rüch.»

Von wegen, was im Rücken und die Zentrale hätte ihm nichts von Helfen gesagt. Wahrscheinlich hatte der Penner schon vor dem Klingeln das Taxameter angestellt. Männer!

Die Fahrt zum Bahnhof gestaltete sich zäh. Es hatte angefangen zu schneien, und die dicken weißen Flocken bildeten sofort eine matschige, rutschige Schicht auf den überfüllten Straßen.

«Nu kiek di dat mol an. Dat is doch jümmers dat sölbige. Dor lannen mol een oder twee Flocken Schnee bi uns un allns is to laat. Wat blieven de Lüüd nich tohus, wenn se dat nich köönt mit dat dore Autoföhrn bi düsset Wedder», lamentierte und meckerte und analysierte der Taxifahrer auf Plattdeutsch weiter.

Ich ließ mich von seinem leiernden Ton und der Wärme im Auto einlullen und beobachtete die Menschen auf der Straße. Einige schoben ihre Fahrräder, andere hatten sich die Kapuzen und Mützen tief in die Stirn gezogen. Nahezu allen war anzusehen, dass sie sich lieber an einem Strand auf einem Liegestuhl den Rücken mit Sonnenmilch einreiben lassen würden, als hier durch das winterliche Westerland zu stapfen.

Nachdem der Fahrer mit den Rückenbeschwerden mich meine Koffer auch wieder selbst aus dem Kofferraum hatte hieven lassen, zeigte er sich kurz beleidigt aufgrund des niedrigen Trinkgelds, ließ die Fensterscheibe auf der Beifahrerseite schnell und ohne ein Wort des Abschieds nach oben gleiten und düste davon.

Ich schleppte mein Gepäck an den grünen Reisenden Riesen vorbei, die inzwischen zarte weiße Schneemützen bekommen hatten, über den Bahnhofsvorplatz, durch die Halle und die grün-weißen Holztüren hindurch bis zum Platz vor den Bahnsteigen und hier in das kleine Café. Dort ließ ich mich auf einem der unbequemen hohen Barhocker nieder. Natürlich musste man sich den Kaffee selber holen, hier kam niemand an den Tisch und fragte nach Wünschen. Wäre ja auch zu schön gewesen. Da ich noch über eine Stunde Zeit hatte, bat ich einen älteren Herrn am Nebentisch, auf meine Koffer zu achten, holte mir einen großen Milchkaffee und bediente mich großzügig bei den ausliegenden Zeitschriften. Obwohl ich eigentlich keinen Hunger hatte, kramte ich aus meiner Handtasche eine große Tafel Schokolade hervor und blätterte mich dann durch die Skandale und Gerüchte in der Welt der Stars und Sternchen. Dann piepte mein Handy und zeigte eine Kurznachricht an.

Wir wünschen dir eine schöne Heimreise und freuen uns, dass du bald wieder zu Hause bist. Tausend Küsse von uns allen, Toni.

Ich hatte gerade zu Ende gelesen, als die nächste Nachricht eintraf.

Süße, hatte gehofft, ich erwische dich noch, wollte dich mit einer ausgedehnten Mittagspause überraschen, nun bist du schon weg. Komm gut nach Hause und bald wieder her. Wenn ich etwas tun kann, lass es mich wissen. Wir hören voneinander per E-Mail. Sei gedrückt, Elissa.

Im Grunde war ich froh, dass wir uns verpasst hatten. Den ganzen Morgen hatten wir beide versucht, das Thema Männer zu umschiffen. Das hatte mehr als einmal zu verlegenem Schweigen und unangebrachten Lachern geführt. Ich wollte in Frieden mit meiner Freundin auseinandergehen. Vielleicht hatte sie ja recht mit ihren Anschuldigungen, aber im Moment wollte ich das nicht hören.

Piep-piep. Noch eine Nachricht traf ein, bevor ich Toni oder Elissa antworten konnte.

Gute Reise.

Oke hatte nicht einmal seinen Namen unter den Text gesetzt, aber anhand der abgespeicherten Telefonnummer konnte ich die SMS zuordnen. Wie sollte ich das denn jetzt verstehen – wirklich als guten Wunsch? Oder war das eher ironisch gemeint, im Sinne von: «Verpiss dich, blöde Ziege!» Noch in Gedanken, tippte ich Grüße an meine Lieben in Falkensee ins Handy, danach wollte ich Elissa kurz schreiben.

«Moin.» Auf einmal stand Oke neben mir, stützte seinen Ellenbogen auf den Tisch und sah mir direkt in die Augen.

Sofort fing mein Herz an zu hämmern, und ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg.

«Oke! Was machst du denn hier? Ich … ich habe gerade erst deine Nachricht gelesen …»

Wow, roch der Mann gut – irgendeine geheime Zutat war definitiv in seinem Aftershave. Mir wurden die Knie weich bei seinem Vanilleduft.

«Ich hole hier einen Gastkoch ab. Der kommt aus Berlin und will sich für zwei Tage meine Mannschaft in Aktion begucken. Da dachte ich, die kenn ich doch. Wollt nur schnell persönlich tschüs sagen.» Sicher war ihm nicht bewusst, wie gut er aussah mit seinen von der Kälte geröteten Wangen, in der dicken Steppjacke und den engen Jeans.

Ich saß auf meinem Hocker wie angenagelt. Der Kaffee schmeckte plötzlich wie Katzenpipi. Oke stand da und sah mich an.

«Ja, also denn – tschüs, nä. Man sieht sich.» Er schickte sich an, zum Bahnsteig zu gehen.

Offensichtlich war Oke enttäuscht von mir. Auf jeden Fall war er mit einem Mal zu seiner friesischen Wortkargheit zurückgekehrt. Nach Wohlgefühl hörte sich das nicht an. Und ich saß da wie ein Backfisch und hatte keine Ahnung, was ich sagen oder tun sollte. Auf keinen Fall wollte ich, dass Oke jetzt einfach verschwand, so viel war mir wenigstens klar. Deshalb griff ich nach seiner Hand.

«Oke? Es tut mir leid, wenn ich dich verletzt habe. Das wollte ich nicht.» Immerhin zog er seine Hand nicht gleich wieder weg.

«Was genau tut dir leid? Dass wir uns geküsst haben?»

Wie sollte man denn bei diesem Anblick vernünftig nachdenken? Diese gesprenkelten Augen, deren knallblaue Farbe ich nur erkennen konnte, wenn ich ganz nah vor ihm stand. Diese sinnlichen Lippen, die so wunderbar küssen und strahlend lächeln konnten. Am liebsten hätte ich diesen attraktiven Typen in einen meiner großen Koffer gepackt und am Ende der Welt ein neues Leben mit ihm begonnen. Auch wenn dieses böse kleine Männchen in meinem Kopf mich mit fiesen Hammerschlägen ständig an meine Kinder und meinen Mann in Brandenburg erinnerte. Also rutschte ich lieber doch ein wenig von Oke ab, ließ seine Hand los und sah ihn einfach nur an.

«Ilse? Ilse, bist du das? Das ist ja ein Ding, dass wir uns ausgerechnet hier treffen. Ich fasse es nicht.»

Auf einmal sah ich mich einer grinsenden Sylvia gegenüber. Sie trug ein totes Tier mit Ärmeln dran und winkte ihren Taschen schleppenden Ehemann heran. «Herzi, schau doch mal, wer da ist. Meine Schulfreundin Ilse und …?»

«Wenn ich euch vorstellen darf: Sylvia, das ist Oke, ein Freund von Elissa. Oke, das ist Sylvia, eine alte Schulfreundin, die jetzt in Potsdam wohnt, in der Nähe von Falkensee.»

Oke schüttelte Madame Doppel-D und ihrem bemitleidenswerten Lebenspartner die Hand. «Freut mich. Moin.»

«Ach so, ein Freund von Elissa? Die hast du hier besucht?» Ich wünschte, ich könnte Sylvia irgendwie das bescheuerte Grinsen aus dem Gesicht wischen.

«Ja, also … nein. Elissa hat ihren vierzigsten Geburtstag gefeiert, und Oke hat für das Fest gekocht.»

«Ach, verstehe, dann hast du dich gerade einfach nur bedankt.» Sylvia lachte blöd und musterte Oke von Kopf bis Fuß. «Bei dem Altersunterschied wäre jede andere Vermutung ja auch schwachsinnig. Hahahahaha.» Sylvia freute sich über ihren Witz, bohrte aber gleich noch etwas tiefer in der Wunde. «Und Toni ist noch ein paar Zeitschriften kaufen gegangen?» Sie sah sich nach meinem Mann um.

«Toni ist zu Hause und kümmert sich um die Kinder. Das war ein reines Freundinnen-Wochenende.»

Ich konnte förmlich mitlesen, wie sich unsichtbare Untertitel unter diesen Satz drängten: Ja, glaub mir, du blöde Pute! Und hör auf, Oke so anzustarren!

Sylvias Mann schien die ganze Situation höchst unangenehm zu sein. Er griff schnell nach einer Illustrierten vom Tisch und blätterte darin herum.

«Ach so, ein Freundinnen-Wochenende. Eigenartig, dass wir uns gar nicht gesehen haben, wir sind auch schon seit Freitag hier. Hatte ich doch erzählt, dass ich Manfred zu einer Tagung begleite, um ein paar Weihnachtseinkäufe zu machen. Die Suite im Mirabell war ein Traum. Mein erstes Weihnachtsgeschenk habe ich auch schon bekommen. Toll, oder? Echter Zobel.» Sylvia drehte sich um die eigene Achse, um uns ihren Pelzmantel von allen Seiten vorzuführen.

Ich fand Pelzmäntel seit jeher ekelhaft, und an Okes Gesichtsausdruck las ich ähnliche Empfindungen ab. Er hatte sich einen Schritt abseits gestellt und trank von meinem Kaffee, der inzwischen kalt sein musste.

«Also, wir müssen dann auch mal. Wir wollten noch schnell ein Piccolöchen und ein paar Knabbereien für die Fahrt besorgen, bevor wir uns in den Zug setzen.» Sie lächelte Oke vielsagend an und schenkte mir dann ein bedauerndes Lächeln. «Normalerweise könnten wir unterwegs weiterreden, aber wir haben reservierte Plätze in der ersten Klasse und fahren nur bis Hamburg, weil mein Männe da morgen noch einen Termin hat, und du …»

«Ich fahre in der zweiten Klasse und weiß noch gar nicht genau, wo ich sitze. Das Geld für die Reservierung spare ich mir, allein findet man ja eigentlich immer einen Platz», entgegnete ich.

«Ach, ich dachte, dein Koch würde dich begleiten.» Sylvia grinste Oke frech an und leckte sich anzüglich über die Lippen. «Schade. Mit Ihnen hätte ich mich gern länger unterhalten», ließ sie ihn wissen. Dann packte sie ihren Manfred, der erschrocken das bunte Magazin wieder auf den Tisch fallen ließ, und zog ab in Richtung Champagner – nicht ohne ein: «Tschüssi, wir sehen uns, Ilselein. Du musst unbedingt vor Weihnachten noch einmal mit deinen Sachen nach Potsdam kommen, Manfred ist ganz wuschig geworden von den Dessous, die ich bei dir gekauft habe. Und meine Yogagruppe möchte auch bei dir shoppen.» Weg war sie.

«Scheiße! Ausgerechnet die doofe Kuh muss hier auftauchen und mich mit dir sehen. Wahrscheinlich weiß der ganze Landkreis von dir und mir, bevor ich überhaupt einen Fuß auf den Falkenseer Bahnsteig gesetzt habe. Verdammte Kacke, was erzähle ich jetzt Toni?» Ich hätte mich schwarz ärgern können über mein miserables Talent, anderen etwas vorzumachen.

«Was gibt es denn da zu wissen? Und was soll sie bitte gesehen haben?» Oke sah jetzt richtig traurig aus, und es brach mir beinahe das Herz.

«Oke. Ich kann das nicht. Du bist wirklich niedlich, und ich hab dich gern. Aber ich werde nicht mein Leben in Falkensee aufgeben, nur wegen eines tollen Kusses und einer Nacht in einem fremden Bett. Während der ich noch dazu komplett angezogen war.»

«Aber das heißt doch nichts.» Er stand da wie ein einziges Ausrufezeichen.

«Du warst auch angezogen. Zumindest an den entscheidenden Stellen.» Ich erhob mich vom Hocker und zog den Reißverschluss an meinem Mantel zu. «Es tut mir leid. Ich muss jetzt zum Zug.»

Oke machte ein Gesicht wie ein Golden Retriever, der in den Regen hinaussoll. «Ilse. Ich erwarte doch gar nicht, dass du sofort bei mir einziehst. Aber ich spüre, dass ich dir nicht gleichgültig bin. Vielleicht könnten wir uns einfach mal in Hamburg treffen, oder …»

Im Grunde war es schon ein Kompliment, dass Oke mehr als einen Satz am Stück an mich richtete – das waren ja fast schon Reden. Ich nahm meine Tasche und die Koffer und stellte mich vor Oke auf.

«Lass mich in Ruhe über alles nachdenken. Ich verspreche hoch und heilig, dass ich mich melden werde. Aber jetzt muss ich wirklich gehen.»

Ich gab ihm links und rechts einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange und lief dann, ohne mich noch einmal umzusehen, in Richtung meines Bahnsteigs.