13. Kapitel
Die Tage vergingen wie im Flug. Ich kümmerte mich um die Kinder, begann damit, Weihnachtsbesorgungen zu erledigen und meine Liste für den Winterurlaub abzuarbeiten. Und ich brachte Oma Etti zum Flughafen. Nach mehreren Tagen und Nächten war die Erinnerung an Okes Vanillegeruch nach und nach schwächer geworden. Die Gedanken an ihn allerdings nicht. Auf meine blöde SMS hatte er spät in der Nacht geantwortet, zum Glück hatte das Handy auf meinem Schreibtisch und nicht wie sonst neben dem Bett gelegen. Seitdem simsten Oke und ich uns ab und zu oder schrieben E-Mails, in denen wir Wetterinfos über Sylt und Brandenburg austauschten, ich mir Kochtipps einholte oder ihm lustige Geschichten über Tom erzählte.
Hallo, liebe Ilse, hier hat es heute geschneit, sieht wunderschön aus. LG Oke oder
Tom hat heute gesagt, Rotkäppchen-Sekt sei Ossi-Prosecco – was trinkst du? LG Ilse oder
Muss heute ein Buffet für 60 Personen anrichten, deshalb wenig Zeit. LG Oke
Kurz und knapp, unregelmäßig und unverbindlich. Ich fühlte mich Oke nahe, ohne das Gefühl zu haben, etwas Verbotenes zu tun. Die Frage, ob es mir gefallen würde, wenn Toni mit irgendeiner Frau auf ähnliche Weise in Kontakt stünde, stellte ich mir lieber nicht. Bisher hatte ich Toni nichts von meiner Begegnung mit Oke erzählt. Meinem Alltag zwischen Aufstehen, Schulbrote schmieren und Einkaufen waren keine Sylt-Nachwirkungen anzumerken. Toni war wie immer und schien an mir keine Veränderung festgestellt zu haben. Elissa hatte recht: Es war ja wirklich nichts passiert. Warum sollte ich Unruhe in meine Ehe bringen, nur weil ich mich ein bisschen danebenbenommen hatte? Das passierte doch dauernd irgendwo auf der Welt in den besten Familien.
Ein paar Tage vor Weihnachten fand ich mich auf dem schwarzen Ledersofa im Wohnzimmer meiner Nachbarin Sabrina wieder, rechts von mir Victoria, ebenfalls eine Nachbarin, und auf dem zweiten Sofa uns gegenüber saßen Susanne und Annette. Auf dem Boden zwischen uns lag ein Kuhfell, darauf stand ein sehr flacher, sehr großer Couchtisch voller benutzter Gläser und einer derartigen Menge leerer Sektflaschen, dass man eher an ein Klassenfest als an eine Verkaufsparty für sexy Unterwäsche denken konnte.
Sabrina hatte mit großem Erfolg im Hort ihrer kleinen Tochter eine Einladung zu einer Dessous-Party aufgehängt. Fast zwanzig sexuell ausgehungerte Damen im Alter von zwanzig bis Mitte vierzig hatten sich in den vergangenen Stunden um Tangaslips und Baumwollschlüpfer nahezu geprügelt. Inzwischen waren die meisten mit ihrer Beute abgerauscht, und ich saß mit der Gastgeberin und ihren besten Freundinnen zum Abschluss des Abends bei einem letzten Glas Sekt zusammen.
Meine Taschen hatte ich schon gepackt und ins Auto geschafft. Da Sabrina nur zwei Querstraßen von mir entfernt wohnte, beschloss ich spontan, den Abend mit Alkohol ausklingen zu lassen und später nach Hause zu laufen.
Wahrscheinlich würde die Hälfte der Ladys mich und den Sekt morgen ordentlich verfluchen, wenn sie sahen, was sie alles an Spitze und Seide eingekauft hatten. Annette zum Beispiel war optisch eher das Modell «norddeutsche Kartoffelbäuerin»: robuster Körperbau und reichlich Muskelmasse verteilt auf knappe zwei Meter Körpergröße, immer knallrote Bäckchen und Locken, wie andere Leute sie früher nur mit einer Doppeldosis Dauerwellflüssigkeit hinbekamen. Ausgerechnet dieses Weib hatte sich Modell Trixie (reizvolle Wäschelinie aus transparentem schwarzen Netzstoff, Elasthan, Satin und Spitze, Bügel-BH ab 74,95 €, passender String ab 42,99 €) ausgesucht, das am schmalsten geschnittene und zarteste Modell von allen aus meiner Kollektion. Ich wollte mir lieber nicht vorstellen, wie Trixie an Annette aussah. Immerhin hatte sie sich nicht für die Corsage aus der Serie mit passenden Nipple Tassels entschieden: Klebekreise mit Blumenmotiv, die man einfach auf die Brustwarzen klebte.
Aber Annette hielt das schwarze Etwas immer noch ganz verliebt mit der einen Hand fest und streichelte es, während sie mit der anderen im Sekundentakt Perlwein in sich hineinschüttete.
«Haaaach, bin ich froh, dass ich heute hergekommen bin. Ich dachte erst, in meiner Größe gibt es sowieso nichts, aber das ist ja wirklich ein Traum. Nächstes Jahr kannst du gerne mit deinen Sachen mal zu mir kommen. Jetzt habe ich schon so viel für Weihnachtsgeschenke ausgegeben, aber Ende Januar bekomme ich wieder Geld vom Verlag.»
Annette war Autorin für Sachbücher, die in keinem Haushalt fehlen durften. Hilf dir selbst, sonst hilft dir dein Chef, Räum deinen Schreibtisch auf und beginne ein neues Leben und Du musst die Frösche nicht nur küssen, um den Prinzen fürs Leben zu finden. Für diese Lebens-Unweisheiten hätte ich niemals Geld ausgeben, aber damit stand ich wohl alleine da. Denn Annette hatte ihren Porsche selbst bezahlt und wohnte in einem schicken Penthouse am Berliner Gendarmenmarkt. Eines ihrer Bücher fand sich immer unter den Top Ten der Sachbuch-Bestseller, und wahrscheinlich wusste sie selbst kaum noch, wie viele dieser Werke sie mittlerweile verfasst hatte.
«Ja, das sind himmlische Sachen, und das Preis-Leistungs-Verhältnis ist außerordentlich. Wusstet ihr, dass angeblich jede Frau in Deutschland mindestens einen BH von einem allseits bekannten Kaffeeanbieter in ihrem Kleiderschrank hat? Aber das ist ja hinsichtlich der Materialbeschaffenheit überhaupt kein Vergleich.» Victoria, Geschäftsführerin einer Bioladenkette, hätte wesentlich besser in Modell Trixie gepasst. Knappe 1,58 m, Modelmaße, Kurven an den richtigen Stellen. Ihre langen, glatten, weißblonden Haare zeigten nie einen schwarzen Ansatz an der Kopfhaut. Entweder, Victoria ging einmal im Monat zum Bleichen zum Friseur, oder sie hatte von Natur aus diese unglaubliche Haarfarbe. Die kleine Schönheit hatte sich ein Set aus Lederimitat in Schwarz und Rot gekauft (Modell Divine, Bustier ab 99,95 €, Tai-Slip ab 32,99 €). Wenn Männer wüssten, was manche Frauen untendrunter anhatten, würden sie wohl schön die Augen aufreißen.
«Sagt mal, ihr seid doch alle verheiratet, habt ihr eigentlich noch Sex mit euren Männern?» Sabrina schaute fragend in die Runde. Anscheinend hatte die Sektmenge auch bei ihr deutlich die Hemmschwelle gesenkt.
Allgemeines Schweigen, verlegenes An-die-Wände-Starren.
«Ich frage ja bloß. Wir reißen uns hier ein Bein aus, kaufen tolle Wäsche und wollen sexy aussehen, und bei unseren Männern können wir froh sein, wenn sie täglich die Unterhose wechseln.»
«Im Ernst, möchtest du, dass dein Sven Tangaslips oder Schlüpfer im Tigermuster trägt? Dann bestelle ich die für die nächste Verkaufsparty», bot ich an.
«Da kommt’s mir ja schon hoch, wenn ich mir Daniel in so einem Pornostring nur vorstelle!» Victoria lachte und schüttelte sich. «Ich steh auf diese eng anliegenden Unterhosen mit etwas Bein – Trunks heißen die, glaube ich. Nicht zu verwechseln mit den schlabbrigen Boxershorts, die finde ich eher abtörnend.»
«Knackiger Hintern ist wichtig – ist doch egal, was drum herum ist, oder? Bleibt doch dann eh nicht lange an.» Susanne schenkte sich Sekt nach. «Ralf hat mich neulich mit eng anliegenden Shorts überrascht, bei der auf den Beinen Supermann-Motive aufgedruckt waren, und in der Mitte stand Man of Steel. Zum Kaputtlachen, aber auch ganz schön sexy.»
«Wie oft ist denn eigentlich normal?» Sabrina war noch nicht am Ende mit ihren Gedanken. «Manchmal denke ich, man müsste öfter mal. Aber dann habe ich mir meistens schon meinen Jogginganzug angezogen, eine Flasche Wein geöffnet und es mir vor dem Fernseher gemütlich gemacht …»
«Da gibt es keine Regel, das muss doch jeder selbst entscheiden. Das hängt doch davon ab, ob kleine Kinder im Haus sind, ob man viel arbeitet …» Ich war sicher, dass es auf der ganzen Welt kein Nachschlagewerk gab, in dem stand, wie oft man es tun musste, um als verheiratete Sexgöttin mit Kind durchzugehen.
«Ilse, das sind nur blöde Ausreden dafür, dass man in Wirklichkeit keine Lust hat. Hast du von dieser Frau aus Amerika gehört, die ihrem Mann zum Geburtstag ein Jahr lang jeden Tag Sex geschenkt hat?», fragte Susanne.
«Jeden Tag?» Ich überlegte kurz, ob ich mir das überhaupt vorstellen wollte.
«Jeden Tag, außer wenn jemand krank war oder sie ihre Regel hatte. Die haben sich immer neue Plätze und Möglichkeiten gesucht, um eine Nummer zu schieben.»
«Als wenn man sonst nichts zu tun hätte.» Victoria verdrehte die Augen. «Ich finde, Ilse hat recht, das muss jedes Paar für sich herausfinden. Mir reicht es am Wochenende und vielleicht noch zu besonderen Anlässen wie Weihnachten oder an Geburtstagen.» Sie zog ihre langen schlanken Beine aufs Sofa und lehnte sich zurück.
«Laut renommierten Psychologen ist eine Erhöhung der sexuellen Aktivität bei langen Beziehungen oftmals förderlich für das Liebesleben», dozierte Annette.
«Was du nicht sagst.» Wieso musste ich ausgerechnet jetzt an Oke denken? Trug er eigentlich Trunks oder gewöhnliche Slips? Ob ich ihn das per SMS fragen konnte? Offenkundig zeigte der Alkohol auch bei mir seine Wirkung. «Muss man denn mit dem Ehemann schlafen, oder geht es einfach nur darum, Sex zu haben?»
Alle vier angeschickerten Damen starrten mich an.
Sabrina hatte sich als Erste wieder gefasst. «Hast du etwa einen Lover? Ist er jünger oder älter? Ist das der Typ, von dem mir Sylvia neulich erzählt hat, dieser Bäcker, den du auf Sylt getroffen hast?»
Ich spürte, wie sich meine Gesichtshaut wie unter der kalifornischen Sonne erwärmte und in etwa den Farbton von Modell Sally annahm (Set aus Seidensatin, raffinierter Mittelsteg mit Schnürdetail, Halbschalen-BH ab 77,95 €, Retroslip ab 49,95 €): dunkelrot. «Quatsch. Der ist kein Bäcker, sondern Koch, ein ziemlich guter sogar.»
Jetzt hatte Sabrina erst recht Lunte gerochen. «Ha! Ich fasse es nicht, unser Mauerblümchen hat sich einen jugendlichen Liebhaber genommen, um dem Ehealltag zu entfliehen. Soll das ein Liebesverhältnis bleiben, oder planst du etwas Größeres? Raus damit!»
«Das ist doch Unsinn. In meiner Ehe läuft alles bestens, und Oke ist einfach ein Freund von Elissa, der auf ihrer Geburtstagsparty gekocht hat und den ich am Bahnhof zufällig wiedergetroffen habe, als Sylvia dazukam. Das Beispiel mit dem Lover war nur so dahingesagt. Man liest doch immer wieder von Prominenten, die eine Affäre haben, und danach geht’s auch in der eigenen Ehe wieder ab wie Schmidts Katze, wenn ihr versteht?» Eine schwache Ablenkung, aber sie funktionierte.
Victoria sprang jedenfalls sofort darauf an: «Das habe ich auch schon gelesen. Oft sind es übrigens die Frauen, die sich einen Typen suchen und nicht umgekehrt. Aber dass mich mein Mann betrügen würde, kann ich mir nicht vorstellen. Der liebt mich, egal wie oft ich mit ihm schlafe.»
«Wenn du dich da mal nicht täuschst, Herzchen.» Annette nahm einen großen Schluck Sekt und schob Sabrina ihr Glas zum Nachfüllen zu. «Man kann sich nie sicher sein. Ich dachte auch immer, Boris geht schön jeden Tag in sein Amt, kümmert sich um Baugenehmigungen und freut sich, wenn es abends Gulasch oder Linsensuppe gibt. Dann fing er irgendwann an, später nach Hause zu kommen, musste auf einmal an den Wochenenden auf irgendein Grundstück und was nachsehen. Dieses Grundstück entpuppte sich nach hartnäckigen Recherchen meinerseits als eine junge Architektin, die ein Praktikum in seiner Verwaltung machte.»
Ich war platt. «Dein Boris hat dich betrogen?»
«Dazu ist es nicht gekommen.» Annette grinste siegesgewiss. «Er hatte sich mit der Lady einige Male zum Kaffeetrinken getroffen, bevor ich dahintergekommen bin. Als ich ihn zur Rede stellte, war er fast erleichtert und rechtfertigte sich damit, dass ich mich immer mehr von ihm abwenden würde, auch körperlich. Da hat er die Nähe anderswo gesucht.»
«Was für ein Quatsch.» Sabrina schenkte uns allen noch einmal Sekt nach. «Und wieder mal sind die Frauen schuld.»
Susanne räusperte sich. «Ich sehe das so: Im Grunde bin ich doch nichts Besseres als eine Prostituierte mit nur einem Freier. Mein Mann bekommt von mir genau so viel Sex, wie er haben möchte – und glaubt mir: Männer wollen immer. Ich bekomme dafür von ihm eine Karte für unser gemeinsames Konto. Er nötigt mich nicht, einen Job anzunehmen, und ich frage nicht, wo er seine Überstunden macht.»
Victoria war entsetzt. «Nur weil du Hausfrau bist, musst du doch nicht die Beine breit machen, sobald dein Mann nach Hause kommt.»
«Ihr tut ja so, als wäre Sex so etwas wie eine doppelseitige Lungenentzündung. Ob ihr’s glaubt oder nicht, ich habe Spaß daran, fast jeden Tag mit meinem Mann zu schlafen. Vielleicht solltet ihr in dieser Richtung mal einen Zacken zulegen, der Appetit kommt ja bekanntlich beim Essen.» Susanne grinste uns an. «Und wenn ich mal keine Lust habe, lass ich meinen Gatten trotzdem ran, weil er dann einfach viel ausgeglichener ist. Männer sind da anders als wir, die brauchen das wirklich.»
«Nach den Recherchen für mein neues Buch kann ich euch nur sagen, dass es nicht einfach ist, heutzutage ein ganz normales Sexleben zu pflegen», warf Annette ratgeberhaft ein. «Inzwischen wird sogar in Frauenzeitschriften über Stellungen gefachsimpelt, überall gibt es Nachhilfe in Sachen ‹Wie werde ich eine Sexgöttin› oder ‹Wie bringe ich meinen Mann um den Verstand›.»
«Da muss ich mich kaum anstrengen – mein Mann hat einen Großteil seines Verstandes schon während des Studiums auf diversen Trinkgelagen eingebüßt», scherzte Victoria, deren Artikulation inzwischen sehr nach geschwollener Zunge klang.
«Ich muss dann auch mal los.»
Die Diskussion hier wurde mir langsam zu heiß. Ich war nur froh, dass die Inhalte von den Liebhabern wieder zu den Ehemännern gewechselt hatten. Aber würde ich denn Oke als meinen Liebhaber bezeichnen? Dazu gehörte meiner Meinung nach doch etwas mehr als ein paar Textnachrichten, ein Kuss und eine gemeinsame Nacht ohne Körperkontakt.