Kapitel 22

Hicks Street 256 war ein typisch viktorianisches Haus, irgendwann um die Jahrhundertwende erbaut. Untypisch für die Gegend waren dagegen die schweren, finsteren Vorhänge, die sämtliche Fenster in allen Stockwerken verdunkelten.

»Vielleicht sind die Leute, die hier wohnen, lichtempfindlich«, schlug Amanda vor. »Mit einer Photophobie.«

»Das Wort hast du gerade erfunden«, sagte Matt.

»Nein.« Aber sicher war sie sich nicht.

»Die sind nicht lichtempfindlich«, sagte er. »Die wollen nicht, dass jemand in ihren Angelegenheiten herumschnüffelt.«

Amanda klingelte bei Todd Phearsons Wohnung im ersten Stock. Eine Frauenstimme ertönte knackend über die Sprechanlage. »Hallo?« Es klang wie Sylvia, aber Amanda war sich nicht sicher. Sie hatten nur kurz miteinander gesprochen.

»Hallo. Hier ist Amanda Greenfield. Ich möchte zu Todd Phearson.«

Pause. Es musste Sylvia sein. Sie muss mich hassen, dachte Amanda. Sie fragte sich, ob Paul wohl angerufen hatte, um seine Frau und seinen Schwiegervater zu warnen. Egal. Eine Warnung hätte auch nicht viel geholfen. Todd musste Amanda empfangen. Es ging um Geld. Was Sylvia betraf, so war es nicht Amandas Angelegenheit, sie über ihre Freundschaft zu Paul aufzuklären, die nun sowieso zu Ende war. Amanda klingelte erneut. »Amanda?«, klang es aus der Sprechanlage. Es war Todd. »Das ist nicht der Zeitpunkt und der Ort für Geschäfte.«

»Ich habe das Geld, Todd. Fünfundfünfzigtausend Dollar. «

Das Schloss sprang auf. Matt drückte die Tür auf und trat zur Seite, um Amanda den Vortritt zu lassen, eine galante Geste. Todd stand in seiner Wohnung, die Tür nur spaltbreit geöffnet. Er nickte und sagte: »Amanda.« Sie stellte Matt als ihren Partner vor. Todd nickte ihm zu.

»Dürfen wir hereinkommen?«, fragte sie und blickte auf den Schopf ihres widerwilligen Gegenübers hinunter.

»Das halte ich für keinen guten Vorschlag, ich kenne diesen Mann nicht. Er könnte gefährlich sein«, sagte Todd. Dann fragte er Matt: »Tragen Sie eine Waffe?«

»Er freut sich lediglich, dich zu sehen«, sagte Amanda.

»Warum halten Sie mich für gefährlich? Wegen meines Aussehens? Zu vergammelt für einen so distinguierten Mann wie Sie? Wer hätte gedacht, dass jemand, der sich so kleidet wie Sie, ein Dieb und Erpresser ist.«

»Mir gefällt nicht...«

»Möchtest du dein Geld haben oder nicht?«, fragte Amanda.

»Natürlich will ich mein Geld.«

»Lässt du uns nun in die Wohnung?«, fragte Amanda wieder.

Widerwillig trat er zurück und ließ sie eintreten. Todds Wohnungseinrichtung passte in die Epoche. Die Wände waren pastellgrün gestrichen. Die Sofas, drei im vorderen Raum der riesigen salonartigen Wohnung, waren alle mit schwerem Brokat bezogen. Löwentatzen bildeten die Beinchen der Sofas und des Couchtisches aus Zedernholz. Der orientalische Teppich auf dem Boden nahm sich prachtvoll aus — handbestickt, mindestens viereinhalb Meter lang und drei Meter breit. Seine Farben — weinrot, Brauntöne, dunkelgrün — fand Amanda zu düster, aber er war sicher echt und musste zwanzigtausend Dollar gekostet haben. Amanda überlegte, ob ihre Eltern diese Wohnung je gesehen hatten. Sie hätten den übertriebenen Prunk gehasst, dessen war sie sicher. Matt sah ebenfalls angewidert aus.

»Ein herrlicher Teppich, Todd«, sagte Amanda.

»Er wäre noch viel schöner, wenn der Hund nicht darauf gepinkelt hätte.« Plötzlich sprang ein kleiner Jack Russell aus dem hinteren Teil der Wohnung auf sie zu. Er rannte direkt zu Amanda. Hunde liebten sie, Tiere kommunizierten mit ihr auf einer kosmischen Ebene.

»Hallo, du kleiner Teufelsbraten«, sagte sie und bückte sich, um den Hund an ihrer Hand schnuppern zu lassen. Er schnupperte, hob die Lefzen und schnappte zu. Amandas Reflexe waren in der Kälte nicht eingefroren: Gerade noch rechtzeitig zog sie die Hand zurück.

»Das ist der Hund meiner Tochter«, sagte Todd, als würde das sein Verhalten erklären. Amanda erinnerte sich an ihren Zusammenstoß mit Sylvia in der Halle. Richtig. Sie wusste, sie hatte den Hund schon einmal gesehen. »Sylvia«, rief Todd. »Ruf den Köter zurück.«

Im nächsten Moment erschien Sylvia. Sie wirkte nervös. Es schien, als hätte sie auf dem Flur gelauert und die Ohren gespitzt. Amanda strahlte sie an. Sie war ebenso ein Opfer wie alle anderen.

»Es freut mich, dich wiederzusehen«, sagte Amanda.

»Komm her, Rover«, befahl Sylvia und überging Amandas Gruß. Sie griff das Hündchen mit den bebenden Lefzen beim Halsband und trippelte schnell mit ihm in den Flur zurück.

»Nun«, sagte Todd und nahm auf seiner feudalen Couch Platz. Seine Beine baumelten in der Luft. »Wo ist das Geld?«

Amanda gab Todd das gelbe Telegramm. »Was ist das?«, fragte er und las. »Das ist ja sehr aufregend. Glückwunsch, Amanda. Da hast du ja etwas, worauf du zurückgreifen kannst. Ich habe euch gesagt, dass ich auf Bargeld bestehe. Dieses Blatt Papier ist nichts wert.«

»Die Banken haben schon geschlossen«, entgegnete Amanda. »Ich schreibe dir einen Scheck aus.«

Er schüttelte den allmählich kahl werdenden Kopf. »Bar oder gar nicht, Amanda.« Er rutschte von der Couch herunter auf seine winzigen Füße. »Oder hältst du mich für einen kompletten Idioten? Du denkst, du kannst zu mir nach Hause kommen, sagen, dass du das Geld hast, und mir dann anbieten, einen Scheck auszustellen? Auf diesen Trick falle ich nicht herein. Und für Unfug habe ich keine Zeit. In einer Stunde bin ich im Heights Café. Wenn du das Geld hast, wie du ja behauptest, dann bring es mir — bar — ins Restaurant. Ich gebe dir sogar Zeit bis 17.30 Uhr. Und ich wette um ein Gratis-Dinner für das ganze Viertel, dass du es nicht schaffst.«

Amanda rutschte das Herz in die Hose. Wieder einmal atmete sie mehrfach tief ein und aus, um nicht die Fassung zu verlieren. »Ein Dinner für das ganze Viertel. Abgemacht.«

Damit verließen Matt und Amanda die Wohnung. Sie hatte keine Ahnung, was sie jetzt machen sollte. Es war schon weit nach 15 Uhr und die Banken hatten längst geschlossen. Ob die Zeit reichte, Tausende und Abertausende von Dollar an einem Geldautomaten abzuheben? Enthielten Geldautomaten überhaupt so viel Geld? »Es gibt eine Citibank und eine Chemical beim Rite Aid mit insgesamt vielleicht fünfzehn Geldautomaten«, sagte Matt.

Amanda und Matt rannten zu den Banken in der Montague Street. Die Außentemperatur musste während der letzten fünfzehn Minuten um fünf Grad gesunken sein. Amandas Finger wurden steif in ihren Manteltaschen. Sie erreichten die Filiale der Chemical erst um 15.45 Uhr.

»Wir sollten zur Citibank gehen, dann muss ich nicht die zusätzliche Gebühr von einem Dollar fünfzig pro Transaktion bezahlen«, sagte Amanda.

»Bleiben wir lieber hier«, wandte Matt ein.

Nachdem sie zirka fünf Minuten in der Schlange gewartet hatten, war die Reihe an Amanda. Sie drückte verzweifelt ihre Geheimnummer: 424464 (I Ging) und verlangte eine Barauszahlung von fünfhundert Dollar.

»Was machst du denn?«, sagte Matt. »Gib fünftausend Dollar ein.«

Amanda fügte dem Betrag noch eine Null hinzu. Dann warteten sie. Eine Meldung auf dem Bildschirm wies sie darauf hin, dass sie nur zweitausend Dollar auf einmal abheben konnten. Amanda änderte den Betrag und der Automat spuckte das Geld aus dem Geldschlitz. Sie war geblendet von so viel Grün — alles frische, neue Hundertdollarscheine. Sie steckte das Geld in die Tasche, nahm den Beleg, gab ihn Matt und begann den Vorgang von vorn.

»Da stimmt etwas nicht«, sagte Matt.

»Was?«

»Dem Beleg zufolge beträgt das Guthaben nur neunzehntausend Dollar!«

»Das gibt es doch gar nicht.« Amanda drückte auf den Bildschirm, um den Kontostand abzufragen. Sie erhielt Einblick in die Liste mit den Transaktionen des Tages, angefangen bei der Überweisung von achtzigtausend Dollar bis hin zu Dutzenden von Zweitausend-Dollar-Abhebungen.

»Frank war da. Sie hat das Geld. Wir müssen sie finden«, sagte Amanda. »Sie muss auf dem Weg zu Todd sein.« Waren sie auf der Straße an Frank vorbeigelaufen? Was war geschehen? Woher wusste Frank von dem Guthaben? Welch ein Durcheinander.

»Soll ich das Geld wieder einzahlen?«, wollte Amanda hinsichtlich der zweitausend Dollar in ihrer Tasche wissen. Nervös drehte sie sich zu dem halben Dutzend Leute um, die in dem Wirrwarr der Metallstangen in der Schlange standen.

»Behalt es. Vielleicht brauchen wir es noch«, sagte Matt. »Du glaubst, Frank ist im Heights Café?« Seine Stimme zitterte. Dafür, dass er sich anscheinend nichts aus Geld machte, wirkte Matt reichlich nervös.

Amanda nahm ihn kurz in die Arme. »Keine Angst. Ich bin sicher Frank hat das Geld. Es ist in sicheren Händen. Vielleicht übergibt sie es Todd gerade in diesem Augenblick.«

»Nein, das tut sie nicht«, sagte eine laute Stimme hinter ihnen. Amanda drehte sich um, um zu sehen, wer gesprochen hatte, und erschrak. Sylvia McCartney stand am oberen Ende der Warteschlange und hielt ein scharfes, dreißig Zentimeter langes Schlachtermesser in der einen und die Hundeleine in der anderen Hand. Rover, der die Aufregung des Augenblicks spürte, knurrte.

Die sechs Personen, die in der Schlange standen, und die drei, die gerade an den Geldautomaten waren, sondierten die Lage und entschieden, dass es wohl am klügsten wäre, sich schnell zu entfernen. Sobald sie die Halle verlassen hatten, schloss Sylvia die Banktür von innen. Die drei — Amanda, Matt und Sylvia, mit Rover waren es vier — blieben allein zurück.

»Vielleicht wären wir doch besser zur Citibank gegangen«, sagte Matt.