Kapitel 10

Der Polizist war süß. Er sah wild und kuschelig zugleich aus, war groß und zweifellos italienischer Abstammung. Jüdische Mädchen fühlten sich zu Italienern hingezogen, denn anscheinend respektierten sie die Frauen, waren kinderlieb und achteten die Familie. Amanda musste den Hals recken, um sein dunkles Gesicht zu sehen. Sie überlegte für einen Moment, wie es wohl wäre, mit ihm zu schlafen. Groß wie er war, könnte er sie bestimmt hochheben und in der Luft herumwirbeln wie eine bewegliche Puppe. Sie wäre machtlos gegenüber seiner Kraft und Männlichkeit. Amanda lächelte den Polizisten an und fragte sich, ob er ihre Gedanken wohl ahnte, denn er erkundigte sich nach ihrer Telefonnummer. Das wunderte sie nicht, doch statt ihre eigene auszuhändigen, verlangte sie im Gegenzug die seine. Amanda würde sich nie einen attraktiven Mann entgehen lassen, der Interesse an ihr zeigte, aber im Augenblick konnte sie sich nicht vorstellen, an irgendjemandem Gefallen zu finden. Schließlich trauerte sie noch um Chick, ihre letzte große Hoffnung, einen echten Seelenfreund zu finden.

Sie verabschiedete sich mit einem hübschen Lächeln von dem Polizisten und ging nach oben in ihre Wohnung. Heute Nacht würde sie ihr Schlafzimmer wirklich nur zum Schlafen nützen. Frank würde das Geschäft schon managen. Zwar konnte man auf Amanda normalerweise immer zählen, sie war Balsam für jede gesellschaftliche Runde. Aber nachdem sie den ganzen Tag über nur Unerfreuliches erlebt hatte, war sie nicht mehr zu Smalltalk fähig. Sie dachte nicht einmal mehr daran, ihre Nachtcreme aufzutragen, bevor sie sich auszog und in ihrem pinkfarben tapezierten Zimmer ins kuschelig weiche Himmelbett schlüpfte. Die Tochter von Paul und Sylvia, die ihre Mutter am Ärmel gezupft und »Komm, gehen wir« gesagt hatte, ging ihr nicht aus dem Kopf. Schuld, Schuld und immer wieder Schuld. Amanda durchforstete ihr Gedächtnis nach Indizien für Pauls heimliche Liebe. Er hatte ihr oft zugelächelt. Und Drinks spendiert. Wenn sie sich in der Bar zu einer Verabredung einfand, hatte er oft die Augen verdreht und ungefragt Ratschläge erteilt. Aber die meisten Männer behandelten Amanda auf diese Weise. Brannte etwa in jedem ihrer Bekannten eine heimliche Leidenschaft für sie? Welch grauenhafte Vorstellung! Einfach absurd. Sie wusste, dass gutes Aussehen sehr hilfreich sein konnte, ein Werkzeug, aber es war nicht immer gleich ein Hammer. Sie sah Chick vor sich, den Schädel zertrümmert, und weinte im Dunkeln.

»Alles ist schief gelaufen«, klagte sie. Und angefangen hatte es in dem Augenblick, als Clarissa zur Tür hereinkam. Nein, das war unmöglich, ein Mensch bescherte doch kein Unglück. Sie dachte an das Unheil verkündende I Ging, das Frank geworfen hatte. Dann schloss sie die Augen und versuchte zu schlafen.

Sie musste für eine Weile eingenickt sein. Jedenfalls hatte sie Frank nicht kommen hören. Die Digitaluhr neben ihrem Bett zeigte 4.39 Uhr. Nur noch anderthalb Stunden bis sechs. Sie würde den ganzen Tag wie ein Zombie herumlaufen.

Immer wenn sie nicht einschlafen konnte, dachte Amanda an ihre verflossenen Liebhaber. An diesem Morgen erinnerte sie sich an eine Affäre, die sie auf dem College fast mit einem ihrer Lehrer gehabt hätte, einem Mann, in den sie schon einige Semester lang verliebt gewesen war. Eines Abends hatte er etwas zu viel Alkohol getrunken, als er zusammen mit einigen Studenten in einer Kneipe ein Basketballspiel angeschaut hatte. In der Halbzeitpause hatte er Amanda den Arm um die Schulter gelegt und gesagt: »Meine Frau hat eine problematische Schwangerschaft. Seit Monaten will sie keinen Sex mehr. Ich denke oft an dich, Amanda, und zwar auf eine Weise, wie ich es nicht tun sollte.« Die Einladung, mit ihm zu schlafen, wurde ihr auf einem Silbertablett serviert, verziert mit Goldrand und roten Lettern.

Amanda, damals 21 Jahre alt, erklärte sich einverstanden, die Kneipe zu verlassen und mit ihm in ein Gasthaus außerhalb des Campus zu fahren. Auf der Fahrt sprachen sie kein Wort. Auf dem Zimmer fielen sie auf das quietschende Bett und küssten sich. Nach zirka zehn Minuten Herumwälzen und Fummeln — Amanda fand ihn immer schon etwas schlaff — fing der Lehrer an zu schluchzen. Er richtete sich auf, setzte sich auf die Bettkante, stützte die Ellbogen auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen. Sein Weinen erinnerte an das Geheule eines Babys.

Zu Hause in ihrem Zimmer schlug Amanda die Decke zurück und stand auf. Zwecklos, sich etwas vorzumachen oder andere gescheiterte Affären zu vergegenwärtigen: Chicks Tod war ein Zeichen, beschloss sie. Es würde ihr nie gelingen, ihr romantisches Ideal zu finden, es war, als lastete ein Fluch auf ihr. Sie war gut aussehend genug, um Horden von Männern anzuziehen, aber darunter befand sich kein Einziger, den sie wirklich wollte. Sie sollte es machen wie Frank und aufgeben, dachte sie bitter. Ihren Seelenfreund gab es nur in ihren Träumen.

Amanda fror in ihrem pinkfarbenen Flanellnachthemd. Sie schlüpfte in ihren Chenille-Bademantel, schlitterte in Hausschuhen ins Wohnzimmer, setzte sich auf die Fensterbank und sah nach draußen auf die einsame, menschenleere Montague Street. In den Stunden vor Tagesanbruch sah Brooklyn friedlich aus. Die Gehsteige waren leer, die Straßenlaternen leuchteten gelblich. Amanda versuchte sich ein Bild davon zu machen, was für eine romantisch-tragische Figur sie wohl abgab, wenn sie in diesem Licht allein am Fenster saß. Einige Tauben trieben sich auf dem Bordstein in der Nähe eines Baumes herum, der in eines der quadratisch ausgeschnittenen Drecklöcher auf dem Gehsteig gepflanzt worden war. Jemand musste Brot für sie heruntergeworfen haben. Frank beschwerte sich immer über die Tauben und ihr Vorschlag zur städtischen Neuorganisation sah folgendermaßen aus: Man sollte sie fangen, braten und in Obdachlosenheimen als Jungtauben servieren. Amanda hingegen liebte alle Lebewesen und wollte nicht, dass irgendeinem auch nur ein Haar gekrümmt wurde. Tauben müssten stundenlang vor sich hin brutzeln, bis die ganzen Krankheitserreger abgetötet wären. Weiß der Himmel, was für...

crash.

Die Tauben flatterten auf die höchsten Äste des Baumes. Der Lärm schien direkt von unten zu kommen, aus dem Café. Amanda hielt Ausschau, ob sich irgendetwas bewegte, aber von ihrem Platz genau über dem Laden aus konnte sie nichts sehen. Sie müsste hinuntergehen und nachschauen. Oder Frank wecken und mit ihr gemeinsam nachsehen. Aber das wäre nicht fair. Frank brauchte ihren Schönheitsschlaf, dachte Amanda schmunzelnd, um sich im nächsten Moment selbst zu schelten: Nur weil Frank sich als Null fühlte, war das noch lange kein Grund, an ihrem wunden Punkt zu rühren. Die Tauben flogen zurück auf den Bordstein und Amandas Herzschlag beruhigte sich allmählich wieder. Da war kein Geräusch gewesen, sie hatte sich alles nur eingebildet. Und Frank hatte anscheinend auch nichts gehört, jedenfalls schlief sie weiter wie eine Tote.

crash.

Diesmal flatterten die Tauben davon, nach Westen Richtung New Jersey. Amanda beschloss, wenn sie schon bei ihrer Hauptbeschäftigung, die wahre Liebe zu finden, kein Glück hatte, so könnte sie es genauso gut woanders versuchen, wenn sich die Gelegenheit dazu bot. Sie lief in ihr Zimmer und zog Katzenlady-Kleidung über — eine schwarze Palazzo-Wollhose mit einer Kordel zum Zuziehen, ein schwarzes langärmeliges Lycra-T-Shirt, einen schwarzen Ledermantel und schwarze Turnschuhe der Marke Adidas (natürlich mit schwarzen Kaschmirsocken). Ihr Haar band sie zum Pferdeschwanz. Da es dunkel war, machte sie sich um das Make-up keine Gedanken. Auf dem Weg nach draußen berührte sie den Knauf von Franks Tür. Sie wird stolz auf mich sein, dass ich das alles allein in den Griff kriege, dachte Amanda und lächelte. Seit Mutter und Vater tot waren, suchte Amanda die elterliche Bestätigung bei ihrer großen Schwester, obwohl diese sie ihr selten zuteil werden ließ.

Die morgendliche Kälte fuhr Amanda in den bloßen Nacken. Von außen war im Erdgeschoss alles still. Keine Bewegung. Nichts. Amanda rüttelte am metallenen Gitter vor den Caféfenstern, um zu überprüfen, ob es abgeschlossen war. Die Gitterstäbe fühlten sich an wie Eiszapfen, aber die Frontfenster waren in Ordnung. Sie schloss das Gitter auf und betrat das Café durch die Haupttür. Abgesehen von der Neonbeleuchtung in den Vitrinen brannte kein Licht. Sie überprüfte die Toiletten und den Bereich hinter der Theke. Nichts. Sie spürte, wie die Erleichterung sich wärmend in ihrem Körper ausbreitete. Sie hatte sich ein Ziel gesetzt und es erreicht. Frank würde beeindruckt sein.

Krrrr. Diesmal war es kein lautes Geräusch, sondern ein Knarren von altem Holz, ein Krächzen, doch es traf Amanda fast wie ein Schlag. Das Geräusch kam aus dem Keller. Sie griff nach dem Telefonhörer, um die Polizei zu verständigen, doch es ertönte kein Freizeichen, die Leitung war tot. Angst schnürte ihr die Kehle zu. Was sollte sie nun tun? Amanda holte tief Luft und schloss die Augen. Dann nahm sie ihren ganzen Mut zusammen, schnappte sich ein Brotmesser und ging auf die Kellertreppe zu. So leise wie möglich öffnete sie die Tür zum Keller und spähte hinunter. Irgendwo da unten brannte ein Licht. Sie lauschte. Gedämpfte Geräusche drangen zu ihr, wie die Schritte von Füßen in Turnschuhen auf Zement.

Noch konnte sie umkehren, Frank verständigen. Sie brauchte die Sache nicht selbst zu regeln. Doch Amanda entschied sich weiterzugehen, endlich einmal etwas Begonnenes zu Ende zu bringen. Es war höchste Zeit, an sich zu arbeiten, in kleinen Schritten, dachte sie. Während sie die Treppe hinunterschlich, beglückwünschte sie sich zur Wahl ihrer Schuhe — Turnschuhe, ein cleverer Griff. Sie tastete sich vorwärts, eine Hand auf dem Geländer. In dem schwachen Licht konnte sie fast nichts sehen. Als sie auf der untersten Stufe angelangt war, durchflutete sie ein Gefühl des Stolzes. Ein Ziel hatte sie bereits erreicht. Vielleicht war es ja gar nicht so schwer, sich auf das zu konzentrieren, was man sich vorgenommen hatte, dachte sie. Clarissa würde ihr eine Eins plus geben für ihre Bemühung. Sollte sie sich weiter vor in den Keller wagen? Sie hielt kurz inne, um tief durchzuatmen, und lauschte, wie die Luft durch die Nasenlöcher hereinströmte und durch den Mund wieder hinausrauschte. Dann blickte sie sich um. Nichts war zu sehen, keine Spur, kein Schatten. Sie spähte in den L-förmigen Raum. Doch keine zwei Schritte weiter fühlte Amanda plötzlich eine kalte, tote Hand auf ihre Schulter fallen. Ihre Haut gefror. Sie schloss die Augen und schrie auf. Mit einem Mal schwebten ihre Füße nur mehr über dem schmutzigen Boden, baumelten in der Luft. Jemand hatte sie hochgehoben, ein kräftiger Arm umfasste ihre Taille. Sie schrie und eine breite Hand legte sich auf ihren Mund, die Nase und die Augen. Sie kämpfte und trat mit den Füßen um sich, in der Hoffnung, die Knie ihres Gegners zu treffen. Im Eifer des Gefechts hätte sie fast das klirrende Geräusch von Metall überhört, das auf einem Schädelknochen landete.

Amanda spürte, wie sich die Umklammerung löste und sie zu Boden glitt. Schnell rappelte sie sich auf, drehte sich um und entdeckte Matt, den Kellner. Er hielt die kaputte Cappuccino-Maschine im Arm und beugte sich über den regungslosen Körper eines riesigen Mannes, der eine Bäckerschürze trug. Sein blutender Kopf lag auf der untersten Stufe der Kellertreppe.

»Matt, du hast mich gerettet!«, schnaufte Amanda.

Matt errötete. »Ich habe getan, was ich konnte«, sagte er und scharrte mit den Füßen.

Amanda betrachtete den Bewusstlosen. Auf seiner Schürze stand: Patsie’s Breadstuffs. »Er hätte mich töten können. «

»Nie und nimmer«, sagte Matt. »Nicht, wenn ich da bin.« Matt stellte die Cappuccino-Maschine ab und zog einen kleinen Stenoblock aus seiner hinteren Jeanstasche. »Um 4.57 Uhr öffnete X mit einem eigenen Schlüssel von der Straßenseite her die Lukentür zum Keller. Er stieg mit drei grauen Pappschachteln die Kellerstufen hinunter und stellte sie ab. Anschließend schloss er die Tür hinter sich. Dann überprüfte er den Inhalt. Ein Waffenlager? Sprengstoff? Bomben? Er ging erneut zur Lukentür hinaus und kam Sekunden später mit neuen Schachteln zurück.«

Matt blickte zu Amanda. »Dann bist du heruntergekommen. Ich weiß nicht genau, was das alles soll, aber für mich riecht das nach einem Komplott.«

Amanda näherte sich dem vermeintlichen Waffenlager. »Für mich riecht das eher nach Keksen«, sagte sie und hob den Deckel einer der Schachteln an.

»Neeeeeeiiiiiiin!«, schrie Matt und hechtete hinter die Kellertreppe.

»Mm. Chocolate Chip«, stellte sie fest. Die Schachtel war randvoll mit Schokoladenplätzchen. Die nächste enthielt Muffins, die darunter Croissants. »Hast du das nicht gerochen?«, fragte Amanda. Der Duft war himmlisch.

Matt spähte hinter der Kellertreppe hervor. Als er sich überzeugt hatte, dass nichts in die Luft flog, ging er zu Amanda zurück. »Bin ohne Geruchssinn auf die Welt gekommen«, sagte er. »Aber trotzdem merke ich, wenn etwas stinkt.«

Amanda nahm eines der Plätzchen und biss hinein. »Was machst du überhaupt hier unten?«, fragte sie.

Matt fummelte an seinem Stenoblock herum. »Ich habe in den letzten Tagen... sagen wir... hier gecampt. Ich hoffe, du hast nichts dagegen.« Er zog die Augenbrauen hoch, als würde er eine weiße Fahne zum Zeichen seiner Kapitulation hissen.

»Deshalb wolltest du uns keine Adresse geben. Du bist obdachlos«, sagte Amanda.

»Jetzt sieh mich nicht so an«, protestierte Matt. »Ich ziehe gerade um.«

»Und deshalb führst du ein Notizbuch?«, fragte sie. »Du bist doch nicht etwa eine Art Undercover-Restaurant-Inspe-tor, der nach Ratten und Wanzen Ausschau hält?«

»Du hältst mich für einen Undercover-Irgendwas? Ich bin stolz darauf, genau das Gegenteil zu sein: Ich verkörpere die Ehrlichkeit — und die Ärmlichkeit kämpfe gegen die Maschinerie des Geldes aus Lügen und Enttäuschungen. Und manchmal schreibe ich mir eben gerne etwas auf. Literaturfritzen würden es vermutlich sogar das Führen eines Tagebuchs nennen.«

Amanda streckte die Hand aus. »Kann ich mal sehen?«

»Ist noch nicht fertig.«

»Nur einen Blick?«

»Zeigst du mir deins, zeig ich dir meins«, konterte er.

Amanda stöhnte. »Nicht schon wieder. Bitte, Matt. Behalte deine heimlichen Leidenschaften für dich.«

Matt war verblüfft. »Habe ich damit nicht einfach nur gesagt, dass ich nichts zu verbergen habe? Und wenn ich eine Leidenschaft für dich habe, dann bestimmt nicht heimlich. Nicht, dass ich eine hätte. Über meine Leidenschaft für dich muss ich noch mal nachdenken. Wenn ich eine Entscheidung getroffen habe, bist du die Erste, die es erfährt.«

»Ich kann es kaum erwarten«, sagte sie. »Was machen wir in der Zwischenzeit mit dem Muffin-Bäcker?« Amanda erinnerte sich vage daran, dass die Muffins montags, mittwochs und samstags geliefert wurden, und heute war Sonntag. Sie hatte sich nie den Kopf darüber zerbrochen, wer sie lieferte und wie das vor sich ging, denn mit den Lieferanten verhandelte Frank. Jetzt erinnerte sie sich daran, dass sie den Lieferwagen von Patsie’s Breadstuff vor dem Haus hatte stehen sehen. Vom Wohnzimmerfenster aus, wo sie gesessen hatte, als sie das laute Geräusch zum ersten Mal hörte, konnte man die Lukentür nicht einsehen.

»Meinst du, ihm ist etwas passiert? Sollen wir einen Rettungswagen rufen?«, fragte sie. »Was hast du mit dem Telefon gemacht?«

»Ich habe es ausgestöpselt damit mich das Klingeln nicht aufweckt«, antwortete Matt.

»Eigentlich erwarten wir mitten in der Nacht im Laden nicht so viele Anrufe.«

»Jemand könnte sich verwählt haben. Ich stöpsele immer das Telefon aus, bevor ich ins Bett gehe. Eine Sache der Gewohnheit«, sagte er.

Matt tat, was er konnte, um jeder Art von Kontakt aus dem Weg zu gehen, dachte Amanda. Und sie tat, was sie konnte, um jeder Art von Kontakt den Weg zu ebnen. Er war genau das Gegenteil von ihr. »Kannst du bitte das Telefon wieder anschließen? Und bring einen feuchten Lappen mit. Wir müssen versuchen, den Mann wiederzubeleben«, sagte sie.

Matt steckte den Notizblock zurück in seine Tasche und ging nach oben. Amanda hoffte, Frank würde Matt nicht hinausschmeißen. Er meinte es ja nicht böse. Sie beugte sich über Patsie und tätschelte dem Muffin-Mann leicht die Wangen. Sie schlackerten und wackelten. Seine Haut war schuppig und weiß wie Mehl. Am Hals schob sich die Haut in mehreren Falten auf, als hätte er nicht nur ein Kinn. Er schlug die Augen auf.

»Hallo? Sind Sie verletzt? Haben Sie Schmerzen?«, erkundigte sich Amanda.

Der Muffin-Bäcker schüttelte den Kopf. Ein Tropfen Blut kullerte in sein Ohr. »Was ist passiert?«, fragte er.

Matt kam die Stufen herunter und drückte Amanda einen Lappen in die Hand. »He!«, sagte er. »Tut mir Leid, dass ich Ihnen einen Hieb versetzt habe. Ich dachte, Sie täten hier etwas Verbotenes.«

Patsie rollte sich nach links, dann nach rechts. In der Mitte seiner Bewegung legte er eine Pause ein.

»Brauchen Sie Hilfe, um aufzustehen?«, fragte Amanda. Der Muffin-Mann war zu dick und zu angeschlagen, um von alleine wieder auf die Beine zu kommen. Matt fasste seine Schultern von hinten und half ihm, sich aufzusetzen.

Der Mann betupfte mit dem Handtuch seine Kopfwunde. »Ich hörte jemanden die Treppe herunterkommen«, jammerte er. »Ich wollte Sie nicht erschrecken, deshalb habe ich Ihnen die Hand auf die Schulter gelegt. Aber Sie haben geschrien und mich erschreckt.«

»Warum haben Sie denn nichts gesagt?«, fragte Amanda.

»Ich hatte den Mund voll«, gestand Patsie.

Matt und Amanda warfen sich einen Blick zu. »Wie bitte?«, fragte sie.

»Ich hatte den Mund voll. Ich habe gerade ein Mais-Muffin gegessen. Deshalb konnte ich Sie nicht warnen, als Sie die Treppe herunterkamen.«

Das Blut an Patsies Kopfwunde war zum Teil schon getrocknet. Er rappelte sich auf und stellte sich auf seine erstaunlich kleinen Füße. »Ich muss noch mehr ausliefern. Keine Sorge, mir geht es wieder gut. Ich werde auch keine Anzeige erstatten.« Patsie kletterte die Stufen zur Lukentür hoch, öffnete sie und ging hinaus. Matt und Amanda liefen ihm hinterher. Sie schauten dem Lieferwagen nach, wie er die Straße hinauffuhr und vor dem Heights Café hielt.

»Ich verfüge über besondere Fähigkeiten, Matt«, sagte Amanda. »Ich weiß nicht, ob du dir darüber im Klaren bist. Ich empfange deutlich die Botschaft, dass du etwas vor mir verheimlichst.« Sie hatte so ein Gefühl, eine Eingebung. Außerdem bemerkte sie mehrere große Fußabdrücke auf dem schmutzigen Boden, die von Schuhen mit Übergröße herrührten. Sie stammten nicht von Matts Stiefeln, Patsies winzigen Schühchen, Franks schmalen Collegeschuhen oder Clarissas Pfennigabsätzen. »Du hast jemanden hier unten einquartiert, stimmt’s?«, fragte sie. »Wen? Einen Freund? Einen anderen Obdachlosen?«

Matt zog die Stirn derart in Falten, dass es jedem Dackel Ehre gemacht hätte. »Ich hatte ja vor, es dir zu sagen. Meine Notizen waren nur noch nicht ganz vollständig.«

Amanda fühlte sich plötzlich unwohl in ihrer Haut, so als wäre ihre ganze Kleidung um eine Größe eingelaufen. »Wer ist es, Matt?«

Er senkte den Blick. »Es war Chick. Peterson. Der Kerl, der tot ist.«