Kapitel 20

In der Greenfieldschen Wohnung klingelte und klingelte das Telefon. Amanda hörte nicht ein einziges Klingeln, denn sie stritt gerade unten auf der Straße mit Matt.

»Ich sage dir, wir nehmen das Telegramm und schieben es Todd Phearson in seinen Zwergenarsch«, sagte Matt.

Amanda schauderte vor so viel Derbheit. »Ich glaube, er will einen Scheck. Außerdem müssen wir Frank finden und ihr erst mal alles erzählen.«

»Soll sie alle wichtigen Entscheidungen in deinem Leben treffen?«, fragte er. »Warum übernimmst du nicht einmal die Verantwortung.«

»Frank trifft nicht alle wichtigen Entscheidungen«, gab sie zurück.

»Nenne mir eine wichtige Entscheidung, die du im Laufe des letzten Jahres getroffen hast«, forderte er sie heraus.

Amanda schlang ihren Mantel enger um ihren Körper. »Warum fechten wir diesen Streit mitten auf der Straße aus?«

»Versuchst du, das Thema zu wechseln?«, fragte er. »Es ist absolut in Ordnung, wenn man die Verantwortung an jemanden abtritt, Amanda, wenn du dich damit zufrieden gibst, in deinem eigenen Leben nur eine Nebenrolle zu spielen. Klar, für die Regierung sind wir alle Schachfiguren. Ich meine, auf privater Ebene, was dich und Frank anbelangt.«

»Soll ich sie einfach überfahren?«, fragte Amanda.

»Ich habe nichts gegen das Bild, aber ich schlage nichts dergleichen vor. Ich übertrage dir achtzigtausend Dollar und als Erstes gibst du instinktiv die Verantwortung an jemand anderen weiter. Wenn du je heiraten solltest, wird dein Mann die totale Kontrolle über dich haben, während du dich glücklich und selbstvergessen treiben lässt und dich damit begnügst, den Dingen nachzuspüren.«

Fast hätte Amanda geantwortet: »Und was ist nicht in Ordnung daran, sich glücklich und selbstvergessen treiben zu lassen?« Aber natürlich wusste sie, was daran nicht in Ordnung war. Dazu musste man nur betrachten, wie weit sie mit ihrem Glücklichsein und ihrer Selbstvergessenheit gekommen war. Matts Bild von ihrer Zukunft — genauso wie sie es sich seit Jahren ausgemalt hatte — wirkte plötzlich schäbig und kindisch. In einem in der Kälte sichtbaren Atemzug hatte Matt all ihre beschaulichen Träume in Leere verwandelt.

»Du verletzt mich«, stellte sie fest.

»Mit einem Freund und Geschäftspartner sollte man offen reden können«, entgegnete er. »Mit einem stillen Teilhaber.«

»Das soll still sein?«, gab Amanda zurück.

»Also, was schlägst du vor?«, sagte er. »Wohin gehen wir jetzt? Und nimm mich nicht auf den Arm, indem du sagst, wir gehen ins Bett.«

»Vielleicht sollte ich lieber nach einem Ehemann Ausschau halten, der nicht andere, sondern sich selbst unter Kontrolle hat.«

»Ich sagte: Nimm mich nicht auf den Arm.«

Amanda lachte. »Zum Heights Café.«

Sie war sich nicht sicher, ob sie eine Konfrontation mit Todd oder — schlimmer noch — Paul McCartney, dem Barkeeper, durchstehen würde. Seit dem Zwischenfall auf der Promenade hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Die eiskalte Luft färbte ihre Lippen blau unter dem roten Lippenstift, weshalb sie lila aussahen. Es war ein Elend mit ihrer blassen Haut. Sie musste in die Wärme und das Heights Café war nicht weit entfernt. Frank würde nicht zögern, selbst wenn sie verzagt wäre. Sie schien die Konfrontation mit einem Feind sogar zu genießen. Amanda musste zugeben: Matt hatte Recht. Skrupellos hatte sie stets Frank die schwierigen und unangenehmen Angelegenheiten überlassen. Jetzt war sie an der Reihe.

Während sie sich der Restauranttür näherten, atmete Amanda tief ein und wieder aus und versuchte durch Selbsthypnose, wie Frank zu sein. Was würde ihre Schwester jetzt sagen? Wie würde sie sich verhalten? In die Haut ihrer Schwester zu schlüpfen war in manchen Situationen recht nützlich. Vielleicht sollte sie ihrer Seele etwas von Frank einverleiben. Dann wäre sie nie allein.

»Ich bin Frank. Ich bin Frank«, murmelte sie vor sich hin.

»Willst du mich verrückt machen?«, fragte Matt.

»Ich sammle mich nur.«

Amanda stieß die Tür zum Heights Café auf. Alle Augen in der Bar hefteten sich auf sie und ließen sie in Flammen aufgehen. Was für eine nette Abwechslung zum Eingefrorensein. Aber nach einem Moment musste sie den Mantel ausziehen, aus Furcht, sie könnte verbrennen. Todd war nirgends zu sehen. »Warten wir auf ihn«, schlug Matt vor.

Amanda nickte. Sie setzte sich auf einen der vertrauten Barhocker und legte ihren Mantel auf den Schoß. Matt entschuldigte sich für einen Augenblick. Auf dem Weg zu den Toiletten lenkte er Amandas Aufmerksamkeit auf die Küche.

Durch das runde Fenster der Küchen-Schwingtür erkannte Amanda Paul McCartney. Er redete und lachte mit jemandem, den sie nicht sehen konnte. Er kam in die Bar zurück und tat so, als würde er sie nicht sehen.

»Hallo, Paul«, sagte Amanda.

Er hütete sich davor, ihr in die Augen zu schauen. »Wie geht’s, Paul?!«, sagte sie lauter.

»Du solltest nicht hierher kommen«, sagte der Barkeeper.

Amanda betrachtete die Neonlichter, die sogar tagsüber hell und farbenprächtig waren. »Genau auf diesem Barhocker saß ich. Kaum zu glauben, dass es nur wenige Tage her ist. Wirst du wieder schreien, dass du mich hasst, und davonrennen?«

»Ich arbeite«, brummte er.

»Dann nehme ich das Übliche«, sagte sie.

»Kir Royal?«, fragte er. »Jetzt?«

»Was sollte mich daran hindern? Es ist ja nicht so, dass ich einen Laden aufmachen müsste.« Als Paul ihr den Cocktail mixte, fragte sie: »Wie geht es deiner Frau? Den Mädchen?«

Paul stellte das Getränk vor ihr auf eine Serviette, beugte sich über den Tresen und packte sie am Handgelenk. »Sprich ja nicht über meine Frau«, warnte er sie.

Amanda zog ihre Hand zurück und löste einen seiner Finger nach dem anderen. Sie war nervös und aufgedreht. Oder war es Angst? Fühlte Frank sich so, wenn ihr eine Konfrontation bevorstand? Mochte sie solche Augenblicke? Amanda entschied, dass »mögen« vielleicht nicht die richtige Bezeichnung dafür war. Obwohl sie jetzt den Beweis hatte, wie nützlich ein Konflikt sein konnte, um die Haut mit Sauerstoff zu versorgen, denn ihr Herz klopfte wild. Außerdem zwang Paul sie dazu, eine andere Seite von sich zu zeigen. Sie fragte sich, ob sie in ihrer konfliktfreien Existenz die ganze Welt immer nur zweidimensional betrachtet hatte, trotz ihres dritten Auges.

»Warum hast du dem Journalisten von der Post Lügen über mich aufgetischt?«, fragte sie.

»Ich habe niemandem Lügen aufgetischt«, entgegnete Paul. »Der Journalist hat mich zu Hause angerufen und vorgegeben, Polizist zu sein, und wenn ich nicht die Wahrheit sagen würde, dann machte ich mich mitschuldig an einem Mord. Folglich erzählte ich ihm, was ich wusste. Die Zitate hat er alle erfunden. Daraufhin bekam ich Ärger mit Todd, denn natürlich gefiel es ihm nicht, dass der Name seines Restaurants in der Zeitung auftauchte. Er war stocksauer auf mich, weil ich mit dem Journalisten gesprochen hatte. Deine erbärmliche Verabredung hätte mich beinahe meine Arbeit gekostet.«

Er machte also sie für sein Unglück verantwortlich, dachte Amanda. Klar, dass sie nie wieder Freunde wären — sollten sie es je gewesen sein. Ihr Freundeskreis schrumpfte von Minute zu Minute. Wenn das in diesem Tempo weiterging, würde Frank bald die Einzige sein, die ihr blieb. Und vielleicht war Frank alles, was sie hatte.

»Habe ich etwas verpasst?«, fragte Matt. Er kam von der Toilette zurück und stand jetzt neben Amanda. Seine Hand lag schützend auf ihrer Schulter. Würde sich die Beziehung zu Matt auch als Wackelkontakt herausstellen? Zumindest waren sie durch das Geld gebunden. Gebunden. Das klang nicht sehr freiwillig.

Matt sah Paul an (beim Anblick von Matt kochte es im Kopf des Barkeepers) und fragte: »Was macht die heimliche Liebe?«

»Wie ist dieser Mist mit der heimlichen Liebe aufgekommen?«, wollte Paul wissen.

»Das hat mir deine Frau erzählt.«

»Sylvia?«

»Hast du noch eine andere?«, fragte Matt.

»Ich bin nah daran, dir eine zu verpassen«, drohte Paul.

Matt lachte ihm ins Gesicht, wich aber trotzdem etwas zurück.

In Pauls Kopf kochte es noch mehr, aber schließlich beruhigte er sich wieder. Er seufzte sogar und stützte seine Ellbogen auf den Tresen: »Sylvia war außer sich. Sie mag es nicht, wenn Todd sauer auf mich ist. Ich habe versucht, mich zu verteidigen, und vielleicht sagte ich auch, dass mir das mit dir nahe gegangen sei, Amanda. Sylvia entgegnete: >Dir ist Amanda Greenfield wichtiger als Todd.< Und ich — das war mein großer Fehler — habe zugestimmt. Na ja, da ist sie explodiert und mit den Mädchen weggelaufen. Später kam sie wieder zurück — das war wahrscheinlich, als du sie in unserem Haus getroffen hast, Amanda — und hat einen Koffer für sich und die Mädchen gepackt und ist verschwunden. Ich war am nächsten Tag mit ihr auf der Promenade verabredet, damit wir uns aussprechen. Da bist du auch aufgetaucht.«

»Deswegen wolltest du mir aus dem Weg gehen«, sagte Amanda. Wenn Sylvia sie zusammen gesehen hätte, hätte das nur ihren falschen Eindruck verstärkt. »Du warst also nie heimlich in mich verliebt?« Sie war etwas enttäuscht.

Paul wurde weicher. »Sollte es mir je in den Sinn gekommen sein, hatte ich bestimmt nie die Absicht, der Verlockung zu erliegen.«

Matts schützende Hand auf ihrer Schulter verwandelte sich in einen eisernen Griff. »Steck dir deine Absichten sonst wohin«, sagte er.

»Selber.«

»He, Jungs!«

Paul beschwichtigte Matt: »Du hast nichts zu befürchten, Junior. Ich lasse mich mit keiner ein, bevor meine Frau nicht wieder nach Hause gekommen ist — was sicher bald der Fall sein wird, denn sie wohnt bei ihrem Vater. Und der erträgt die Kinder nicht sehr lange.«

»Ihr Vater wohnt hier in der Nähe?«, fragte Amanda.

Paul schien verwirrt. »Klar.« Er wrang einen Lappen aus. »Weißt du das nicht?«

»Was weiß ich nicht?«

»Weshalb arbeite ich so hart?«, fragte Paul. »Weshalb lasse ich mir so viel von Todd gefallen? Etwa, weil es angenehm ist? Ich tue es, weil ich es muss, denn ich falle meinem Schwiegervater nicht in den Rücken.«

»Todd ist Sylvias Vater?«, fragte Amanda. Sie hatte keine Ahnung, dass Todd überhaupt eine Familie hatte. Ihre Eltern hatten von ihm immer gesprochen, als wäre er ein einsamer, trauriger Mann, der ihre Gesellschaft brauchte. Eine vage Erinnerung an ein Gespräch ihrer Eltern über seine Scheidung stieg in ihr hoch.

»Todd ist ihr Vater. Und ich bin der Schwiegersohn, von dem erwartet wird, dass er den Laden einmal übernimmt, wenn Todd in Rente geht«, erklärte Paul.

Ein Laden, der Schlag 17 Uhr doppelt so groß gewesen wäre, wenn Matt nicht zu Hilfe gekommen wäre. »Sag bloß, du wusstest nichts von der Vereinbarung, die meine Eltern mit Todd getroffen hatten«, sagte Amanda.

Paul legte seine Handflächen auf den Tresen, als wäre er eine Kanzel. »Bis vorgestern hatte ich nicht die geringste Ahnung. Ich hätte es dir gesagt. Schau, ich sehe ein, dass ich dich schlecht behandelt habe — meine privaten Schwierigkeiten halten mich gefangen. Aber es tut mir Leid um Barney Greenfield’s.«

»Wo ist Todd jetzt?«, fragte sie.

»Ich glaube, er ist zu Hause, um vor dem Abendansturm zu duschen«, sagte Paul.

»Und wo ist sein Zuhause?«

»Hicks Street 256.« Amanda kannte das Haus Ecke Hicks/Joralemon Street, anderthalb Blocks von Pauls Wohnung in der Grace Court Alley entfernt und nur einen halben Block von Benjis Apartment in der Joralemon Street.

Matt half Amanda in den Mantel. Ihr Kir Royal stand unberührt auf der Theke. »Der Drink geht auf deine Rechnung. Du schuldest mir viel mehr als das. Du hättest mich wegen der Sache mit Todd und unserem Café warnen können. Aber du hast es nicht getan. Warum? Aus Gier? Oder Angst? Vielleicht aus Rache? Jeder einzelne Grund widert mich an. Wir sind keine Freunde mehr. Und wir werden nie mehr Freunde sein. Wenn ich dich auf der Straße sehe, werde ich wegschauen. Wenn du mich ansprichst, werde ich so tun, als würde ich dich nicht kennen. Ich werde dir nicht verzeihen. Und vergessen werde ich es auch nicht.«

Matt und Amanda verließen das Restaurant schnell. Sie zitterte in Anbetracht ihrer Rede. Matt trieb sie die Montague Street entlang. Dann bogen sie in die Hicks Street ein und liefen auf Todds Wohnung zu. In der frischen Luft wurde Amanda ruhiger. Ihr Puls verlangsamte sich und sie atmete wieder regelmäßig und tief. Nie zuvor hatte sie so grausame Worte zu jemandem gesagt, und sie meinte, was sie gesagt hatte. Trotz ihrer zitternden Gliedmaßen spürte sie, dass sie alles unter Kontrolle hatte. Sie hatte Verantwortung übernommen, hatte auch einmal die Drecksarbeit erledigt. Sie war mit sich zufrieden.

»Mann, ich hoffe bloß, dass ich nie etwas tue, was dir gegen den Strich geht«, sagte Matt. »Es ist unheimlich, wenn warmherzige Menschen plötzlich eisig werden.«

»Aber noch unheimlicher, wenn sie es nie werden«, sagte Amanda.