Kapitel 6

Chicks Aura war purpurrot. Sobald Amanda neben ihm stand, blitzten ihre Augen indigofarben. Neben ihm fühlte sie sich klein und hilflos, dafür sehr weiblich. Sein Lächeln wirkte gelassen, zuckersüß und natürlich. Als sie ihm die Krone aufgesetzt hatte, konnte sie seinen Atem an ihrer Stirn spüren. In der Hoffnung, dass es ihn auch erwischte, starrte sie ihn fortwährend an und versuchte, ihm telepathisch zu signalisieren, dass sie nicht nein zu sagen gedachte. In ihren Augen war er ein Abenteurer, risikofreudig, ein selbstloser Lover. Darüber hinaus hatten Kletterer so irrsinnige Oberschenkel.

Amanda wartete geduldig darauf, dass Chick den ersten Schritt tat. Das war ihr Stil seit dem College. Eine lange Liste von One-Night-Stands, samt der dazugehörigen Betretenheit am Morgen danach, dokumentierte ihre jugendliche Begeisterungsfähigkeit, sofort in fremde Betten zu hüpfen. Später hatte sie entdeckt, dass es zu zweiten und dritten Dates kam, wenn sie ihre Verführungskünste spielen ließ und die Männer Zentimeter für Zentimeter in ihren weichen, warmen Mittelpunkt lockte. Je länger sie sie auf die Folter spannte, desto tiefer versanken die Männer in ihr wie in Treibsand. Verführung betrachtete sie nicht als Manipulation, auch nicht als Spiel, vielmehr als eine Kunst. Sie war fest entschlossen, ihrer alten Methode treu zu bleiben, ganz gleich wie verlockend es auch sein mochte, zu Chick hinüberzugehen und ihm erregende Nichtigkeiten ins Ohr zu flüstern.

Außerdem konnte Warten wunderbar spannend sein. Amanda kostete ihre Vorfreude voll aus, als sie zusammen mit Chick, Frank und Clarissa für das Lokalblatt, den Brooklyn Courier, posierte. Danach wurden noch einige Fotos von Chick allein geschossen, wie er RTB-Kaffee trank. Auf seiner, wie Amanda glaubte, unbehaarten Brust prangte ihr neues Logo. Als der Fotograf seine Arbeit beendet hatte, war es bereits nach 23 Uhr. Die Reihen hatten sich gelichtet und man beschloss, den Laden zu schließen. Während Clarissa noch an einem anderen Ort feiern wollte, verspürte Frank mehr den Drang, zu Hause zu bleiben und die Einnahmen zu zählen. Amanda hingegen hoffte, Chick würde sie zu einer Privatparty in seiner Hose einladen.

Ein wenig auf sich aufmerksam zu machen würde ihre übliche Abwartetaktik nicht unterlaufen, dachte Amanda. Also lief sie ans andere Ende des Cafés, wo er sich mit dem frisch engagierten Matt unterhielt, und beobachtete die beiden aus der angenehmen Entfernung von drei Metern. »Mann, kapierst du das denn nicht?«, sagte Matt zu Chick. »Wenn du nicht auf das Hamsterrad hinaufhüpfen und dich ständig in kleinen Kreisen bewegen willst wie der Rest in diesem verflixten Land, dann erschießen sie dich eines Tages oder sperren dich ein, nur weil du anders bist. Das genau passiert nämlich mit Künstlern in Amerika. Ich will Kunst für die Öffentlichkeit machen. Graffiti. Und dafür könnten sie mich einsperren.«

»Weil du fremdes Eigentum verunstaltest«, erwiderte Chick. Amanda liebte seine ausgewogene Stimme — sie klang weder zu tief noch beunruhigend kehlig, seine Worte flössen nur so in ihr Ohr.

»Und warum ist es ihr Eigentum?«, bohrte Matt. »Weil sie viel Kohle auf dem Rücken der Schwarzen gemacht und dann ein Stück Papier unterschrieben haben, auf dem steht: >Das gehört mir<? Auf diese Art wird ein ganzes Gebäude Privateigentum eines Einzigen?«

»In neun Zehntel der Gesetze geht es um Besitz.« Chick schaute über Matts Kopf hinweg und bemerkte Amanda.

Matt packte ihn am Arm. »Das ist doch einfach Mist, Mann. Du warst doch schon einmal oben auf einem Berg. Ich glaube einfach nicht, dass du dieses Besitzdenken gut findest.«

Amanda sah ihm in die Augen. Dabei hob sie eine Tasse Kaffee an ihre Lippen und schenkte ihm einen Blick, der irgendwo zwischen dem eines Vamps und einer unschuldigen Kaffeetrinkermiene lag. Dann feuerte sie Blick Nummer zwei ab: die Tasse etwas tiefer halten und gleichzeitig widerwillig, aber doch hoffnungsvoll die Augenlider langsam senken, dazu fast unmerklich die Stirn runzeln. Fließender Übergang zu Blick Nummer drei: aufflackernder Entschluss, dazu den Blick nach oben richten, gefolgt von direktem, frontalem Blickkontakt. Einige Sekunden halten: eins, zwei, drei, vier. Anschließend lächeln — nur mit den Lippen — und dann ein schneller Blick nach links, so als wäre man von der Dreistigkeit der eigenen Gedanken peinlich berührt. Zum Abschluss erröten wäre das Tüpfelchen auf dem i, aber das klappte nicht immer.

Chick reagierte wie erhofft und ließ Matt einfach stehen. Sie hielt den Blickkontakt, bis er nur noch ein paar Zentimeter von ihrer Tasse entfernt war. Matt zeigte ihm hinter seinem Rücken den Stinkefinger.

»Glückwunsch«, fing sie an. »Du gibst einen exzellenten Mr Coffee ab, vergiss nicht: Du musst jetzt öfter kommen.«

»Geh mit mir aus«, sagte er. »Heute Nacht.«

»Wo gehen wir hin?«, fragte sie.

»Zum Essen ist es, glaube ich, zu spät.«

So spät war es nun auch wieder nicht. »Ich könnte schon etwas essen«, entgegnete sie. »Hast du Hunger? Und, noch wichtiger, hast du Geld?«

Er lachte und nahm ihre Hand. Doch er hielt sie etwas zu fest für ihren Geschmack und für die behutsame Art, wie sie bisher miteinander flirteten. Aber sie verzieh ihm, wie sie generell immer schnell verzieh. »Heights Café?«, fragte er. Das Bar-Restaurant befand sich gleich um die Ecke. Zwar nannte es sich Café — den Akzent auf dem e hatten sie vergessen — , aber der Kaffee dort war allerhöchstem als bescheiden zu bezeichnen.

»Ich muss mich noch frisch machen«, sagte Amanda. »Treffen wir uns in zwanzig Minuten dort.« Sie hatte nicht vor, in weniger als einer Stunde dort aufzutauchen. Dazu hatte sie viel zu viel zu tun: Sie musste sich umziehen, neues Make-up auflegen, die Haare aufplustern, parfümieren und sonstige Accessoires anlegen. Amanda wusste, dass die Jagd nach physischer Schönheit die eigentlichen Ideale der Seele beschnitt. Aber da musste man als Mädchen durch. Gut auszusehen war nur hilfreich, eine Einstellung, die sie sich einverleibt hatte, lange bevor sie ihre kosmische Sensibilität entdeckt hatte. Schon als Kleinkind wusste sie um die Macht der Schönheit. Wenn sie lächelte und ihren Kopf leicht zur Seite neigte, bekam sie immer mehr Kekse von Daddy.

Amanda warf Chick eine Kusshand zu, als er sich, eingemummt in seinen Parka, auf den Weg nach draußen machte. Amanda liebte den Anblick: ein Mann, eingewickelt wie ein Geschenk. Der Winter war doch die schönste Jahreszeit.

»Wo geht er hin?«, erkundigte sich Clarissa, als die Tür bimmelnd hinter ihm zufiel.

»Ich weiß es nicht«, gab Amanda zurück.

»Amanda, wir hatten das besprochen. Der Wettbewerb ist nicht dein privater Date-Lieferservice.«

Amanda nickte. »Das Gleiche könnte ich zu dir sagen, Clarissa. Glaubst du, ich habe nicht bemerkt, wie du und Walter Robbins euch unterhalten habt?«

Clarissa blinzelte: »Ich habe nicht...«

»Doch, du hast.«

»Es war nicht...«

»Es war alles andere als unschuldig«, beharrte Amanda. »Er scheint dich auch wirklich zu mögen. Häufiges Vorbeugen, Arme entspannt an der Seite, angewinkeltes Knie — alles Zeichen für Vertrautheit. Und natürlich das Dreieck.«

»Das Dreieck?«, fragte Clarissa erstaunt.

»Seine Augen wanderten auf deinem Gesicht im Dreieck. Etwa so.« Amanda demonstrierte, was sie meinte, indem sie ihren Blick zuerst auf Clarissas linkes Auge lenkte, dann auf ihr rechtes Auge, auf ihre Lippen und wieder zurück auf ihr linkes Auge. »Eine Schleife mit drei Eckpunkten, könnte man sagen. Ein klares Zeichen, das Interesse bekundet, nicht weniger aussagekräftig, als würde er sabbern und sich die Lippen lecken.«

»Gut zu wissen«, sagte Clarissa. Sie warf einen kurzen Blick auf Walter, der sich auf der anderen Seite des Raumes mit einem Gast unterhielt. »Das bleibt unter uns, hast du verstanden? Es könnte Francesca verletzen, wenn sie erfährt, dass wir beide jemanden an Land gezogen haben.«

Amanda verabscheute es, ihre Schwester zu enttäuschen, aber in diesem Fall musste sie die Meinung ihrer neuen besten Freundin respektieren. »Gute Idee«, sagte sie, »ich liebe Geheimnisse. Ganz als wären wir zusammen in geheimer Mission unterwegs.«

»Wir verstoßen gegen unsere eigene Regel«, gab Clarissa zu bedenken.

»Einfach schamlos«, kommentierte Amanda und legte ihren Arm um Clarissas Schultern. Das Rot von Amandas Kleid biss sich fürchterlich mit Clarissas limonengrüner Jacke. »Aber wenn wir zu unserer ersten gemeinsamen Verabredung gehen, sollten wir uns vorher Gedanken machen, was wir anziehen.« Die Vorstellung erinnerte Amanda an ihre Junior-Highschool-Zeit. Geheimpakte, Aufeinanderabstimmen der Farben — die Zeit, als Freundschaft noch alles bedeutete.

»Wir könnten unsere Kleider tauschen«, sagte Clarissa.

»Deine Klamotten passen mir nie«, antwortete Amanda.

»Bitte.«

»Du bist so dünn wie ein Bleistift«, sagte Amanda. Jetzt kam sie sich wirklich vor wie 13. »Ich muss gehen. Ich treffe mich mit Chick zum Essen. Rufst du morgen an? Lass uns zusammen einkaufen gehen oder so was.«

Die beiden Frauen machten sich auf den Weg. Clarissa marschierte direkt zu Walter hinüber und verließ mit ihm das Café. Amanda mochte Walter. Er war ein liebenswerter Verlierer. Matt blieb noch da, um sauber zu machen. Und Frank würde stundenlang die Fünfundzwanzig-Cent-Münzen und Eindollarscheine der heutigen Einnahmen zählen.

Amanda ging nach draußen und schloss die Tür auf, die von der Straße aus zu ihrer Wohnung über dem Laden führte. Als Frank und sie nach dem Tod ihrer Eltern das Geschäft übernahmen, gaben sie ihre Mietwohnungen in Manhattan auf. Für Amanda war es bequem und praktisch gewesen, wieder nach Hause zu kommen. Für Frank dagegen waren damit Erinnerungen verbunden, die sie unzufrieden machten und bedrückten. Trotz der fortwährenden Bitterkeit gegenüber den vielen Fehlern ihrer Eltern — dazu gehörte unter anderem, jung zu sterben — hatte Frank hartnäckig darauf bestanden, deren Schlafzimmer zu räumen, um es selbst zu benutzen. Kurzerhand warf sie die alten Möbel hinaus und stellte ihre Sachen hinein. Sie sagte, sie wolle den Raum, weil er der größte der ganzen Wohnung sei. Außerdem habe sie dort ein eigenes Badezimmer. Amanda hingegen erklärte sich Franks Verhalten damit, dass sie zwar nicht mehr über ihre Eltern sprechen wollte. Indem sie aber darauf bestand, in deren altem Schlafzimmer zu wohnen, blieb sie Mutter und Vater unterbewusst weiterhin eng verbunden.

Amanda liebte große Wandschränke. Und die hatte ihr Kinderzimmer in Hülle und Fülle. Damals war sie selig gewesen, sie zurückzugewinnen. Sie fing an, sich für ihre Verabredung herzurichten. Jede Frau sollte Outfits bereithalten, die sie in Windeseile kleiden und die drei Faktoren berücksichtigen: Jahreszeit, Anlass und Absicht. Zum Beispiel bestand das perfekte saisonunabhängige Erstes-Date-Outfit aus schwarzen Samtjeans, einem Kaschmir-Angora-Mohair-Twinset, Hush Puppies, diamantenen Ohrsteckern, einem Armband mit Anhängern und, für Langhaarige, einem samtenen Haarband. Die winterliche Jahreszeit legte ein etwas umfangreicher ausgestattetes Winter-Verführungs-Ensemble nahe. Amanda zog also einen gerippten Rolli an, einen schwarzen knielangen Rock, schwarze Strümpfe, hochhackige Vinylstiefeletten, silberne Kreolohrringe, dazu trug sie die Haare offen und lockig, was dank der feuchten Luft möglich war.

Sobald sie sich angezogen hatte, schminkte, stylte und besprühte sie sich. Amanda liebte es, ein Mädchen zu sein, und ignorierte die Tatsache, dass ihr Rock nicht so fiel, wie er eigentlich fallen sollte, was so viel hieß wie: Sie hatte einige Pfunde zugenommen. Sie sah immer noch gut aus und war zuversichtlich, als sie sich an den Küchentisch für ihren üblichen Vor-Rendezvous-I-Ging-Wurf setzte.

Nachdem sie einige Male tief geatmet hatte, ein, aus, warf Amanda die Münzen. Wie immer viele Yins. Aber die Reihenfolge der Münzen — von oben nach unten: Zahl, Zahl, Zahl, Kopf, Zahl, Kopf — war nicht sehr viel versprechend. Das obere Trigramm repräsentierte die Erde. Das untere das Feuer. Ihre Deutungen: (1) Ihre Basis, ihre Stabilität liefen Gefahr, verbrannt zu werden, oder (2) das Licht des Wissens (Feuer) war unter der Erde vergraben. Die Interpretation beinhaltete eine Warnung: Sie würde nicht wissen, in welche Sache sie hineingeriet, und könnte in Gefahr sein, wenn alles vorbei war. Amanda befragte ihre Intuition, ob die Warnung sich auf die Verabredung selbst bezog oder aber auf die Wahl ihres Outfits.

Nach einigen Omms verstand sie die Bedeutung des Wurfs und zog schnell ein graues Minikleid aus Kaschmir an, das sich für alle Anlässe eignete, und war im nächsten Moment zur Tür draußen. Das Heights Café erreichte sie gegen Mitternacht.

Chick wartete an der hufeisenförmigen Bar. Pinkfarbenes Neonlicht wurde vom Spiegel hinter den Flaschen reflektiert — eine sehr schmeichelhafte Beleuchtung. Sie zog einen Stuhl neben Chick und lehnte sich so weit zu ihm hinüber, dass ihr Atem seinen Hals streichelte. Sie konnte regelrecht sehen, wie die Enden seiner Nervenbahnen hallo sagten.

»Tut mir Leid, ich habe mich etwas verspätet. Wartest du schon lange?«, fragte sie süßlich. Seine Antwort würde ein Beweis seiner Zuneigung sein. Sie signalisierte dem Barkeeper, dass sie etwas trinken wollte.

»Gar nicht«, antwortete Chick. Der Barkeeper, ihr alter Freund Paul McCartney (nicht verwandt), hörte Chicks Antwort. Er schüttelte ein ganz klein wenig den Kopf und Amanda nickte ein ganz klein wenig. Barkeeper Paul und Amanda hatten diese Platte schon öfter aufgelegt — Dutzende von Verabredungen hatte sie schon im Heights Café gehabt. In dem ganzen Viertel war es das einzige Restaurant, das nicht familienfreundlich war und dennoch annehmbare Preise hatte. Die Singles der Umgebung schätzten die dezente Beleuchtung, die glänzenden schwarzen Tischplatten, die starken Drinks und die rauchige Musik-Berieselung. Paul machte Amanda einen Kir Royal.

»Trinkst du den immer?«, erkundigte sich Chick.

»Findest du, das ist ein Drink für Mädchen?«, fragte sie.

Amandas typischer Date-Drink war ein Kir Royal, ihr typischer Nach-Date-Drink ein Wodka Tonic. Bei manchen Verabredungen startete sie aber auch direkt mit Scotch. Diesmal jedoch hatte sie davon abgesehen — schließlich war er Bergsteiger und kein Mann von der Wall Street.

»Ehrlich gesagt, ich habe noch nie einen Gedanken an das Geschlecht eines Cocktails verschwendet.«

Gute Antwort. Es versprach, eine Nacht mit Atmosphäre zu werden. »Aha«, sagte Amanda. Sie und Chick hatten vielleicht insgesamt zehn Minuten zusammen verbracht. Sie kannte ihn nur vom Wettbewerb her, von seinem Text auf der Anmeldekarte, seiner Purpuraura und seiner allgemein freundlichen Art. Und das mit dem Zungenzucken hatte er gesagt. Viel versprechend.

Sie nippte an ihrem Drink. »Aha«, sagte sie erneut. Es gehörte zu ihrer Taktik, den Mann die Unterhaltung steuern zu lassen.

»Irgendwie ist das peinlich«, gab Chick zu. »Vielleicht sollten wir einige Drinks nehmen und uns einfach entspannen.«

Sich betrinken als Konversationshilfe? Das hatte Amanda noch nie gehört. Aber wenn es etwas Neues war, würde sie es zumindest einmal ausprobieren. Sie stieß mit seinem Glas an und kippte ihren Kir Royal in einem Zug hinunter. Chick war ganz offensichtlich beeindruckt. Er lächelte und hielt seine Hand hoch, damit Amanda ihn abklatschen konnte. Sie tat es und hoffte, dass niemand sie gesehen hatte.

»Jetzt du«, wies sie ihn an und deutete auf seinen Drink.

Er schwenkte seinen Greyhound derart, dass der Inhalt seines Glases fast über den Rand schwappte, und trank ihn dann in einem Zug! Amanda gefiel sein Adamsapfel, der an seiner Kehle unter makelloser Haut hinauf- und hinunterglitt. Sie stellte sich vor, wie sie ihn küsste. Chick sah wirklich klasse aus. Auf all die Berge war er hinaufgeklettert, er liebte die freie Natur. Amanda phantasierte sich gerade in eine nette kleine Idee hinein, als er wieder seinen Arm hob. »Eine Runde hätten wir«, sagte er und nickte ihr zu. Er wartete darauf, dass sie ihn wieder abklatschte. Unauffällig hob sie die Hand und klatschte ihm auf die Handfläche. Paul hinter dem Tresen verdrehte die Augen.

»Weißt du«, sagte Amanda, »ich bin fasziniert von Kletterern. Es bedeutet Gefahr, Abenteuer, körperlichen Einsatz, eine Angelegenheit des Adrenalin.«

»Ich habe eher Trecking betrieben als Klettern«, erklärte er. »Ich hatte mir vorgenommen, auf den Mount Everest zu steigen, aber höher als fünfzehnhundert Meter bin ich nie gekommen.«

»Die ideale Höhe für den Anbau von Arabica-Kaffee«, warf Amanda ein. So ein Quatsch.

»Wow.« Er lächelte.

»Von solchen Tatsachen habe ich eine Million auf Lager.«

»Am besten eine nach der anderen.« Er gab Paul das Zeichen für die nächste Runde.

Der Barkeeper kam mit den Drinks. Amanda lächelte und scheuchte ihn weg, denn Paul hatte ein Faible dafür, Gäste zu belagern. Sie merkte, dass ihre Intuition ihr etwas mitzuteilen versuchte: Sie wollte etwas ungestörter sein mit Chick. Und auf Pauls süffisantes Gegrinse und Augengerolle verzichtete sie gern, lenkte es sie doch nur von der Wärme ab, die sich langsam in ihrem Becken breit machte. »Setzen wir uns an einen Tisch«, schlug sie Chick deshalb vor. Vielleicht würde Chick, wenn sie sich gegenüber- statt nebeneinander saßen, diese... Sache da mit der Hand nicht mehr machen.

»Tisch hört sich großartig an, Amanda«, sagte er. »In einer netten kleinen Ecke.« Seine Augen wurden ganz dunkel und sexy.

»Irgendwo, wo wir uns unterhalten können«, stimmte sie zu.

»Ungestört.«

»Wo wir uns unsere Hoffnungen und Träume erzählen können«, fügte sie hinzu.

»Uns unsere Ängste und Phantasien verraten.«

Sie lächelten einander an. »Das war ironisch gemeint, richtig?« Sie musste das fragen, denn sie wusste, sie meinte es ironisch, doch aus ihm wurde sie beim besten Willen nicht schlau.

Er lachte und warf den Kopf nach hinten, so dass sie nochmals seinen hübschen Hals aufblitzen sah. »Du bist ja witzig. Ironisch! Großartig! Gimme five.«

Lieber Gott. Als er zum dritten Mal in so kurzer Zeit seinen muskulösen Arm in die Höhe hob, erkannte Amanda plötzlich, warum dieser prächtige, intelligente Mann Single war. »Tut mir Leid, Chick. Ich kann es nicht... das da. Es geht einfach nicht.«

»Was kannst du nicht?«

»Das da.« Sie machte eine Mini-Abklatsch-Bewegung.

»Was ist das?«

»Dieses Abklatsch-Ding eben«, flüsterte sie. »Ich bin kein großer Sportfan.«

Er wurde kreidebleich. »O Gott«, stammelte er, »du hältst mich sicherlich für einen kompletten Idioten. Ich schäme mich so. Da sitze ich mit der schönsten Frau, die ich je in meinem ganzen Leben gesehen habe, und bin so aufgeregt, dass mir nichts anderes einfällt als dieses lächerliche Trottelgetue. Wahrscheinlich ist es nur ein Vorwand, um dich zu berühren. Ist mir das peinlich. Ich muss gehen.« Er sprang von seinem Stuhl auf und warf einen Zwanziger auf den Tresen.

Jetzt war Amanda betreten. »Bitte bleib. Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen.« Die schönste Frau, die er je gesehen hatte? Ein Vorwand, um sie zu berühren? »Du kannst mich doch berühren, Chick.« Sie fühlte sich schrecklich.

Man kann einem Mann das Abklatschen abgewöhnen, aber man kann keinem Mann angewöhnen, ein Abenteurer und ein prächtiger Kerl zu sein. Warum hatte sie überhaupt ihren Mund aufgemacht? »Ehrlich, Chick«, bettelte sie, »bitte, bleib hier.«

»Ich tue dir doch bloß noch Leid. Ich mag dich, Amanda. Ehrlich. Ich glaube sogar, ich liebe dich. Das klingt noch absurder als alles andere, was ich gesagt habe. Ich muss jetzt gehen. Sofort. Ich rufe dich an.« Bevor er in die Nacht hinauslief, rannte er en passant aus Versehen einen Barhocker und eine Bedienung mit einem mit Drinks beladenen Tablett über den Haufen.

Sollte sie hinter ihm herlaufen? Nicht in diesem Kleid, dachte Amanda. Sie stöhnte auf. Paul brachte ihr noch einen Kir Royal. »Hast du das gehört?«, fragte sie den Barkeeper. Der ganze Planet hatte es gehört. Paul nickte nur. »Ich kapiere das nicht«, beschwerte sich Amanda. »Er hatte so viel Selbstvertrauen im Barney Gree... im Romancing the Bean. Er hat sogar meine Hand gehalten. Was ist nur passiert?«

»Was du heute Abend erlebt hast«, sagte Paul, »ist der Unterschied zwischen einem Mann, der mit Koffein voll gepumpt, und einem, der mit Wodka aufgetankt ist.«

»Ist das eine Barkeeper-Weisheit?«, fragte sie.

»Er hatte schon drei Drinks intus, bevor du aufgetaucht bist.«

»Hast du mit ihm gesprochen?«

Paul zuckte die Achseln. »Ich habe seinem Geplapper zugehört. «

»Ich hätte ihn nicht warten lassen dürfen«, jammerte sie. »Ich habe es mir selbst zuzuschreiben, dass es schief gelaufen ist.«

»Vergiss ihn, Amanda. Das war doch nur wieder so ein Versager mit großen Plänen und einer leichten Brieftasche — die zwanzig Dollar reichen nicht für seine und deine Getränke.«

»Wäre ich etwa mit einem verheirateten Mann und Vater zweier Kinder wie dir besser bedient?«, fragte sie spitz, da Pauls ewige »Du hast was Besseres verdient «-Leier sie ärgerte. Als Amanda bemerkte, dass sie Paul mit ihrem Ausspruch offensichtlich verletzt hatte, versuchte sie es zu überspielen: »Was soll ein so strahlend schönes Mädchen denn machen?«, versuchte sie zu beschwichtigen.

»Ironie? Du bist witzig. Großartig! Gimme five.« Paul hob die Hand. Sie pikste ihn mit einem Cocktailsticker in die Seite.

Ihr Blick wanderte zu den Fenstern. Keine Spur von Chick. Sie leerte ihren Cocktail und dachte darüber nach, wie sich der Abend hätte entwickeln können. Dann machte sie sich auf den Heimweg. Sie war fest entschlossen, am nächsten Morgen mit Chick zu sprechen, sich zu entschuldigen und es noch einmal mit ihm zu versuchen. Dazu war sie verpflichtet. Wenn sie ihn abgeschreckt hatte, würde er nicht mehr ins Romancing the Bean kommen. Und wenn er seine Freunde nicht mitbrachte, wäre der ganze Plan, Männer als Köder zu benutzen, vermasselt. Amanda versuchte sich nicht vorzustellen, wie Frank auf ihre Verabredung reagieren würde und wie enttäuscht Clarissa von ihr wäre. Sie musste ihrer neuen Freundin erzählen, dass der Abend mit Chick schief gelaufen war. Bei Clarissa ging bestimmt nie etwas schief. Die ganze Double-Date-Geschichte konnten sie sich abschminken. Amanda fasste es nicht, dass sie eben noch in neuer Gesellschaft gewesen war und keine fünf Minuten später jämmerlich und allein gelassen an einer Bar brütete.

Hätte sie doch wenigstens den Rock angelassen.

»Was hat er?«, fragte Frank. Es war früh am nächsten Morgen. Amanda hatte entsetzlich geschlafen. Jetzt war sie fast erleichtert, ihrer großen Schwester alles erzählen zu können.

»Es tut mir so Leid«, sagte sie. »Besonders für Chick. Du hättest sein Gesicht sehen sollen. Es war ihm so peinlich. Ich hoffe, er hat keine Angst vor mir.«

»Hört das denn nie auf mit dir«, sagte Frank. »Du trittst immer unschuldig ins Fettnäpfchen und ich muss es ausbaden. Ich habe das satt, Amanda.«

»Es tut mir Leid, Frank. War keine Absicht.«

»Du meinst es nie böse. Zieh dich an«, befahl Frank. »Wir gehen zu ihm. Vielleicht vergibt er dir, wenn du ihn darum bittest, und kommt zurück ins Romancing the Bean. Sein Foto erscheint im Courier. Die Leute werden ihn treffen wollen.« Frank lief auf und ab. »Ich bin wirklich total sauer, Amanda. Ich wundere mich selbst, dass mir das so an die Nieren geht. Wenn ich gestern noch nicht ganz sicher war, was ich eigentlich im Leben will, dann weiß ich es wenigstens jetzt. Wir müssen den Laden am Laufen halten. Wirklich sehr edel, ein Geschäft zu besitzen, hart zu arbeiten, um den Leuten einen Service zu bieten — und dann so etwas. Danke für diese Geschichte. Na, jetzt bin ich mir wenigstens sicher.«

»Gern geschehen«, erwiderte Amanda.

»Los, zieh dich an.«

»Gib mir zehn Minuten.« Amanda wusste, nicht einmal der stärkste Kamillentee besänftigte Frank, wenn sie so in Rage war. Sie kleidete sich an, zog Jeans, ein T-Shirt, einen Pulli mit rundem Ausschnitt an, dazu Stiefel und Mantel im Marinelook.

Franks Moralpredigt über Amandas Rücksichtslosigkeit zog sich noch vier Blocks weiter bis zu Chicks Wohnung in der Joralemon Street hin. Seine Adresse stand auf seiner Anmeldekarte — der Stapel lag noch unter der Kasse. Amanda hörte ihrer Schwester nur mit halbem Ohr zu — »Handlungen haben immer Konsequenzen, du denkst nie, bevor du handelst« — , während sie im Geiste ihre Rede für Chick zusammenbastelte. Die ganze Nacht hatte sie sich den Kopf zerbrochen, was sie sagen würde: »Chick, ich will es noch einmal mit dir versuchen. Ich glaube, zwischen uns ist mehr als nur sexuelle Anziehung. Gleich nach der ersten gescheiterten Verabredung aufzugeben, wenn sich daraus vielleicht etwas ganz Wesentliches entwickeln könnte, das ist ungefähr so, als würde man dem Schicksal die Tür vor der Nase zuwerfen. Vielleicht sind wir füreinander geschaffen. Doch um das herauszufinden, müssen wir es noch einmal miteinander probieren.« Amanda glaubte jedes Wort davon, denn seit dem Moment ihres Kennenlernens verspürte sie eine große Zuneigung zu ihm. Sie hatte es im Gefühl, dass ihre Schicksale miteinander verknüpft waren. Er musste sich noch einmal mit ihr verabreden.

Als sie um die Ecke von Chicks Block bogen, bemerkte Frank als Erste die aufblitzenden Lichter. Der Rettungswagen stand direkt vor Chicks Haus. Amanda sog mechanisch die Luft ein. Frank stürzte auf das Sirenengeheul zu und zog ihre Schwester am Handgelenk hinter sich her. Sie erreichten die Polizeisperre gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Chicks blaue, starre Leiche auf einer Bahre zum Rettungswagen gerollt wurde. Die Polizisten hatten sie nicht einmal zugedeckt. Eine Schande — ein stechender Schmerz der Trauer erfüllte Amanda.

Frank rief dem Sanitäter zu: »Selbstmord?«

Er hievte die Bahre in den Rettungswagen und schrie zurück: »Nein.« Amanda war erleichtert. Nicht dass ihr Ego so groß gewesen wäre, aber bei einem Selbstmord war die Seele dazu verurteilt, zwischen dieser Welt und der Astralebene auszuharren, bis die natürliche Lebenserwartung erreicht war — ein schreckliches, grausames Zwischenstadium.

Frank brüllte erneut: »Ein Unfall?«

Der Sanitäter gab keine Antwort. Er zog die Türen zu und der Wagen brauste davon. Die Schwestern schauten ihm nach, bis er verschwunden war.

»Ich weiß, was passiert ist, Frank«, sagte Amanda sanft.

»Deine Intuition kann mir im Moment gestohlen bleiben«, gab Frank zurück.

Amanda schwieg. Aber in ihrem Innern spürte sie es. In dem Augenblick, als sie die Leiche sah, wusste sie es.

Chicks Tod war kein Unfall. Jemand hatte ihm das Leben genommen. Und dieser Jemand war nicht Gott.