Kapitel 21

Niemand ging ans Telefon. Frank stand mit einem Stapel Auszahlungsformulare am Münzfernsprecher vor dem Rite Aid und füllte sie aus, eines nach dem anderen. Ohne ihren Ausweis konnte Frank keine Zahlungsanweisung in Auftrag geben. Die Kassiererin hatte gesagt, sie könne, ohne sich aush-weisen zu müssen, bis zu zweitausend Dollar in bar abheben. Das bedeutete achtundzwanzig Scheine, die alle in den nächsten zehn Minuten ausgefüllt werden mussten.

Clarissa rief währenddessen vom Telefon nebenan bei der Post an. Sie war hingerissen von Franks Neuigkeit über den Bankirrtum.

»Heißt das, ich bekomme die restlichen fünfzehnhundert Dollar ebenfalls noch heute?«, fragte sie Frank.

Frank nickte. »Du erhältst sie, wenn du Zorn wegen der Informationen über Todd angerufen hast.«

Nachdem das abgemacht war, verließen die beiden Frauen die Bank und begannen zu telefonieren. Frank hinterließ frustriert eine dringende Nachricht auf dem Anrufbeantworter. »Amanda! Wenn du meine Nachricht in den nächsten zehn Minuten abhörst, dann schnapp dir meinen Pass aus meiner Nachttischschublade und lauf zur Citibank Ecke Montague/Clinton Street!« Sie knallte den Hörer auf die Gabel und rannte zur Bank zurück. Clarissa ließ sie in der Telefonzelle stehen. Ungefähr sieben Leute standen vor ihr in der Reihe, drei Kassen waren geöffnet. Nach ihrer Uhr würden die Kassen in zirka fünf Minuten schließen. Aber wenn sie bereits in der Schlange stand, würde man sie kaum wegschicken.

Sie irrte sich. Punkt 15 Uhr fertigten die Kassierer schnell die Kunden ab, die schon am Schalter standen. Dann glitt eine kugelsichere Scheibe herunter. Die Bank schloss. Die drei Kunden vor Frank stöhnten einstimmig auf und zogen kampflos ab. Frank blieb in der Reihe stehen und überlegte, die achtundzwanzig ausgefüllten Formulare in der Hand, was sie tun sollte. Sie hämmerte an eine der kugelsicheren Scheiben. »Aufmachen! Das ist ein Notfall!«

Nichts geschah. Sie rannte in den Hauptraum der Bank. Ein Sicherheitsbeamter half den Nachzüglern hinaus. Sie wich ihm aus und stürmte auf die verwaiste Informationstheke zu. »Ich brauche Hilfe, verdammt noch mal!«, rief sie. Ihre Stimme hallte zwischen den Marmorsäulen, doch das Personal der Bank ignorierte sie. Die meisten klappten ihre Taschen zu oder verschwanden hinter einer Tür mit der Aufschrift »Nur für Mitarbeiter«.

Ein Sicherheitsbeamter kam auf Frank zu. »Ma’am, wir schließen«, sagte er. »Sie müssen bis morgen warten oder mit den Geldautomaten vorlieb nehmen.«

»Ich verstehe das nicht! Ich war doch schon in der Schlange!«, sagte sie.

»Es tut mir Leid, aber Sie müssen jetzt das Gebäude verlassen.«

Wenn man sie verhaftete, bekäme sie das Geld nie. »Wie viel kann man am Automaten abheben?«

»Kann ich Ihnen nicht sagen.«

Frank rannte in die Vorhalle mit den Geldautomaten. Zehn Automaten. Nur einer war gerade frei. Frank steckte ihre Karte in den freien Automaten und gab ihre Geheimnummer ein: 447463. Sie drückte alle entsprechenden Funktionstasten. Englisch, Bargeld abheben, vom Girokonto. Als sie einen Betrag angeben musste, tippte sie fünfundfünfzigtausend Dollar ein. Der Automat summte eine Weile, dann erschien am Bildschirm die Meldung: »Der Betrag ist zu hoch. Bitte geben Sie einen kleineren Betrag ein.« Frank probierte zweitausend Dollar. Sie fürchtete sich vor der Vorstellung, dass sie nur kleinere Beträge auf einmal abheben konnte — das würde ewig dauern. Aber der Automat akzeptierte den Wunsch und Frank entnahm die Summe. Der Automat fragte, ob sie noch eine Transaktion vornehmen wolle. Sie gab nochmals Abhebung in bar ein und den gleichen Betrag.

Als Frank bereits zehntausend Dollar abgehoben hatte, erschien Clarissa in der Halle. Sie hatte keinen Platz mehr in ihren Taschen für das ganze Bargeld.

»Gib mir deine Handtasche«, befahl Frank.

Clarissa drückte die schwarze Nylontasche an ihre Brust. »Das ist eine Kate Spade.«

»Gib mir die Tasche!« Alle im Raum drehten sich zu der Verrückten um. Sie mäßigte sich. »Ich brauche sie nur für einige Minuten. Ich würde es wahnsinnig zu schätzen wissen, wenn du mir diese blöde Tasche geben würdest. Danke.«

Clarissa überließ ihr die Kate Spade. »Es gibt etwas, was du wissen solltest, Francesca.«

Frank nahm sie kaum wahr, stattdessen stopfte sie das Geld in die Tasche und setzte ihr wildes Getippe fort, bis auf dem Bildschirm plötzlich die Meldung erschien: »Dieser Geldautomat ist leer. Bitte gehen Sie an einen anderen.«

»Mist!« Wieder richteten sich alle Blicke im Raum auf sie. Frank rannte los und stellte sich an einem anderen Automaten in die Schlange. Sie trippelte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, als müsste sie aufs Klo.

Clarissa stand neben ihr. »Francesca, hör mir einen Moment lang zu«, drängte sie. »Piper Zorn ist verhaftet worden.«

»Das freut mich zu hören«, sagte Frank.

»Interessiert dich gar nicht, weshalb?«

»Warum stehen hier so viele Leute an?«, fragte Frank stattdessen laut. Sie bemerkte Clarissas Blick. »Was hast du über Todd Phearson in Erfahrung gebracht?« Das würde sie vom Warten ablenken.

»Es kümmert dich wirklich nicht, weshalb Piper verhaftet worden ist«, sagte Clarissa.

»Sag mir einfach, was du über Todd Phearson weißt, okay? Ich kann mich immer nur auf einen Feind konzentrieren.«

»Ich musste mit jemandem aus der Redaktion sprechen«, sagte Clarissa.

»Was hat er gesagt?«

Clarissa hielt einige voll gekritzelte Post-it-Notizen in Augenhöhe. »Todd Phearson, Hicks Street 256, Brooklyn; Sozialversicherungsnummer: 111-09-84444; Führerscheinnummer: 235-111-222; eingetragener Besitzer eines Toyota Corolla; Nettoeinkommen 1997: 60 000 Dollar.«

»Sechzigtausend Dollar?«, wiederholte Frank. »Das ist alles? Er muss einen cleveren Buchhalter haben.«

Clarissa fuhr fort: »Zahlt Unterhalt an Lucy Phearson, Pineapple Street 57, Brooklyn. Keine minderjährigen Kinder, aber er hat eine Tochter namens Sylvia McCartney, Grace Court Alley 5, und zwei Enkelinnen, Tracy und Betina McCartney.«

»Ich glaube, ich habe einmal gehört, dass er geschieden ist. Lucy Phearson?«

»Sie ist anscheinend so etwas wie eine Schriftstellerin. Ein Praktikant hat im Internet nach ihr gesucht, sie hat einige religiöse Gedichte auf irgendwelchen christlichen Websites veröffentlicht.«

Lucy Phearson konnte doch nicht Lucy sein, die alte Dame, die Verrückte, die auf die Bibel pochte und die Familie verteidigte? Sie war etwas zu alt dafür, Todds Exfrau zu sein.

Frank rückte in der Schlange auf. »Wenn du mit mir wartest, bekommst du dein Geld gleich«, sagte sie zu Clarissa.

Die Blondine schüttelte den Kopf. »Ich hole es mir ein andermal, denn ich möchte Piper besuchen. Sie haben ihn in die Adams Street 233 mitgenommen. Das ist doch hier in der Nähe?«

Das Gerichtsgebäude des Brooklyn Municipal Courts war nur wenige Blocks entfernt. » Geh rechts herum bis zur Court Street und dann überquerst du den Platz bis zum Gericht«, erklärte Frank. Schließlich siegte ihre Neugierde. »Weshalb wurde Zorn verhaftet?«

»Der Praktikant wusste auch nicht genau Bescheid, was gegen ihn vorliegt, aber angeblich hat Piper einige gerichtsmedizinische Gutachten aus dem Long Island College Hospital in der Atlantic Avenue gestohlen.«

Franks Herz machte einen Satz. Die Frau von der Leichenhalle aus dem Krankenhaus! Frank hatte völlig vergessen, dass sie für Piper eine Verabredung entgegengenommen hatte, in seinem Büro. Sie musste laut auflachen.

»Ich glaube nicht, dass das sehr witzig ist, Francesca«, sagte Clarissa. Dann nahm sie Brieftasche und Schlüssel aus der Kate-Spade-Tasche und verschwand.

Frank rückte allmählich in der Schlange vor dem Automaten voran, bis sie wieder an der Reihe war. Sie erleichterte ihn um zwölftausend Dollar und stellte sich erneut in die Schlange. Sie wiederholte den Vorgang so lange, bis sie die fünfundfünfzigtausend Dollar in Clarissas Tasche gezwängt hatte. Die Handtasche war voll gestopft mit den Scheinen, darunter viele Zwanziger und Fünfziger — Frank schätzte, dass sie über zehn Kilo wog. Sie verließ die Halle mit den Geldautomaten und hoffte, dass niemand beobachtet hatte, wie sie bündelweise Dollarnoten in ihre Tasche gestopft hatte.

Neben dem komischen Gefühl, eine Summe mit sich herumzuschleppen, die für die Anzahlung eines Hauses genügt hätte, erfüllte Frank ein ganz neues Gefühl der Ruhe.

Es war erst 15.45 Uhr. Sie hatte über eine Stunde Zeit, die wenigen Blocks zum Heights Café zurückzulegen und den Tag zu retten. Sie beschloss, einen Zwischenstopp in ihrer Wohnung einzulegen, um einen Pulli überzuziehen, denn während sie sich in der Bank aufgehalten hatte, war es noch kälter geworden. Außerdem wollte sie die Handtasche gegen einen Matchsack eintauschen.

Als sie sich dem Haus näherte, bemerkte sie ein Polizeiauto, das vor dem Gebäude parkte. Die Lichter blinkten nicht — Gott sei Dank — , das wäre sonst der zweite höchst spektakuläre Besuch der Obrigkeit innerhalb der letzten Tage gewesen. Sie ging zur Wohnungstür und schickte sich gerade an, sie mit dem Schlüssel zu öffnen, als einer der Polizisten auf sie zukam. Es war ein großer, schlanker Mann mit Schnurrbart und einem dreiknöpfigen Baumwollanzug, einen ebensolchen Mantel darüber.

»Francesca Greenfield?«

»Ja?«, sagte sie und drückte die Tasche fest an sich.

»Mein Name ist Detective Carlos Luigi. Ich habe letztens Ihre Schwester kennen gelernt.«

»Als Sie Benji festgenommen haben.«

Er nickte freundlich. »Kennen Sie einen Mann namens Piper Zorn?«

»Leider«, erwiderte sie.

»Wir haben ihn verhaftet, weil man ihn beschuldigt, sich illegal über die Sekretärin eines Krankenhauses Informationen über eine Polizeiuntersuchung verschafft zu haben«, fuhr der Detective fort. »Inzwischen hat er jedoch ein größeres Verbrechen gestanden. Wir haben Grund, anzunehmen, dass Sie etwas mit dem Fall zu tun haben. Wir möchten Sie daher bitten mitzukommen, um einige Fragen zu beantworten.«

»Die Frau im Krankenhaus... Sie meinen die Gutachten? Ich weiß davon nichts«, sagte Frank.

Detective Luigi blinzelte. »Zorn hat einen Mordversuch gestanden.«

Die Tasche an Franks Schulter wog immer schwerer. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als in ihre Wohnung zu gehen und dann zum Heights Café hinüberzulaufen. »Wann hat dieser Mordversuch stattgefunden?«, fragte sie. »Ich habe die ganze Nacht in meiner Wohnung verbracht. Und ich habe zwei oder drei Zeugen, die das bestätigen können.« Das hing davon ab, wann Walter gegangen war.

Der Polizist nickte. »Das klingt sehr nach Columbo.«

Frank lächelte. »Es ist die Wahrheit.«

»Möchten Sie gar nicht wissen, wen Zorn töten wollte?«

Frank hatte angenommen, es wäre irgendeine Freundin gewesen bei einem häuslichen Krach. »Ich kann es mir vorstellen.«

»Walter Robbins. Er liegt jetzt im Krankenhaus mit drei gebrochenen Rippen, einem gebrochenen Bein und einer Gehirnerschütterung. Zorn hat zugegeben, dass er ihn in einem U-Bahnhof vom Bahnsteig vor die hereinfahrende Linie 2 gestoßen hat. Mr Robbins hat Glück, dass er überhaupt noch am Leben ist.«

Das durfte nicht wahr sein. »Er hat mich heute Morgen angerufen.«

»Dann hat er vom Long Island College Hospital aus angerufen. Bitte kommen Sie, Ms Greenfield. Wir möchten mit Ihnen über Mr Robbins reden.«

Frank schaute auf die Uhr. Es war zu spät. Sie hatte nur noch eine Stunde. »Es geht nicht.«

»Hier handelt es sich um ein schwerwiegendes Verbrechen, Ms Greenfield.«

»Ich habe nichts getan.«

»Darüber reden wir in meinem Büro«, entgegnete er.

Frank zögerte. Höflichkeit siegt, dachte sie. »Es tut mir Leid, aber ich muss etwas erledigen. Im Moment kann ich wirklich nicht mitkommen.«

»Ich bitte nicht um eine Verabredung mit Ihnen«, sagte der Detective. »Steigen Sie ins Auto. Sofort.«