Kapitel 5
Die Nacht der Nächte stand bevor: Frank hatte sich hinter der Kasse postiert und beobachtete den Ansturm der Gäste. Mit Ausnahme des affektierten Typs, der sich in eine Ecke verzogen hatte und einen starken Kaffee nach dem anderen hinunterkippte, liefen die fünf Mr Coffee-Kandidaten durch die Menge. Jeder der Kandidaten trug ein Romancing the Bean-T-Shirt, das Claude als Abschiedspräsent entworfen und bedruckt hatte. Frank hatte Clarissa mehr als einmal gefragt, wie viel Geld sie nun eigentlich in die Renovierungsarbeiten gesteckt hatten, aber nie eine genaue Antwort bekommen. Das bereitete ihr Kopfzerbrechen und nicht einmal das Gedränge der zahlenden Gäste in ihrem aufpolierten Laden beruhigte sie. An Optimismus gewöhnte man sich anscheinend nur langsam.
Amanda huschte in einem roten Kleid mit U-Ausschnitt vorüber. »Das ist der beste Abend in der Geschichte vom Romancing the Bean!«, rief sie Frank zu. Es war der erste Abend in der Geschichte des Romancing the Bean, aber Frank wollte nicht kleinlich sein. Amanda hatte Recht. Ihre Eltern hatten in all den Jahren im Barney Greenfield’s nie derartigen Andrang erlebt. Frank hatte Bestellungen über rund dreißig Pfund verschiedenster Sorten Kaffee eingetippt zu günstigstenfalls jeweils neun Dollar. Der Großhandelspreis betrug rund fünf Dollar pro Pfund, das machte einen Profit von vier Dollar. Je nach Witterungsverhältnissen und Lieferbarkeit kosteten manche Bohnen aber auch sehr viel mehr — Jamaica hatte eine kleine und schwierige Ernte hinter sich, deshalb kostete Blue Mountain um die fünfundzwanzig Dollar pro Pfund im Groß- und bis zu vierzig im Einzelhandel. Den eigentlichen Profit erzielte man mit einzelnen Tassen. An einer Tasse für einen Dollar fünfzig verdiente das Café einen Dollar dreißig. Frank musste pro Monat viertausend Tassen Kaffee — oder umgerechnet pro Tag 133 Tassen — verkaufen, um die Unkosten zu decken. Das ganze letzte Jahr über waren die Schwestern durchschnittlich auf klägliche vierzig Tassen gekommen.
Im Laufe der letzten Stunde hatte Frank schon mindestens hundert verkauft. Sie hatte sich gefragt, ob ein neuer Anstrich den Umsatz um mehr als dreihundert Prozent steigern konnte. Jetzt hatte sie die Antwort.
Sie gab sich Mühe, sich über das Getümmel von Menschen in dem vollen Café zu freuen und nicht dem Ganzen still und heimlich zu misstrauen. Tatsächlich war es so voll, dass kein Mensch die neuen Tische und den neuen Anstrich beachtete. Ausnahmsweise war sie einmal in ihrem Leben zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Das Klimpern von Geld auf der Theke klang wie eine Droge fürs Ohr. Frank nahm das Geld mit einer Miene, die fast an ein Lächeln erinnerte. Die Gäste schienen ihre neue Haus-Mischung zu mögen: etwas Kaffee aus Guatemala, Costa Rica und eine Idee Indonesia für den Kick.
Endlich, um 20 Uhr, bahnte sich Clarissa in der Mitte des Raumes eine freie Fläche. Die Frauen an den Tischen applaudierten. Frank fragte sich, warum sie wohl klatschten — wegen Clarissas kunstvollem Outfit, einem streng geschnittenen limonengrünen Kostüm, das ihre Wespentaille zusätzlich betonte, hauchdünnen Strümpfen und hochhackigen Lackpumps, oder damit der Wettbewerb endlich begann.
In der einen Hand hielt Clarissa einige Karteikarten, in der anderen ein Mikrophon. Dann legte sie los: »Achtung, meine Damen und Herren. Im Namen des Romancing the Bean-Teams möchte ich mich bei Ihnen bedanken, dass Sie gekommen sind.« Die Gäste applaudierten verhalten. »Die Regeln für den Wettbewerb sind einfach. Ein Mann wird als Mr Coffee of the Week gekrönt. Als Preis bekommt er sieben Tage lang Getränke und Muffins gratis für sich und zehn seiner Freunde. Und am nächsten Freitag wandert die Krone an seinen Nachfolger.«
Frank stand in ihrer Arbeitskleidung, einer schwarzen Stretchhose und schwarzem Rolli, an der Theke und fragte sich, wie lange das wohl funktionierte. Sie stellte sich vor, was passierte, wenn in einigen Wochen der Mr Coffee-Wettbewerb nicht mehr neu sein würde. Das Moonburst würde sie wieder überrollen, als ob nichts gewesen wäre. Vielleicht könnten sie und Clarissa sich zusammensetzen und etwas Neues ausbrüten. Sie könnten ein Brainstorming veranstalten, so wie sie es früher immer bei der Zeitschrift gemacht hatten, um neue Ideen auszutüfteln. Im Team kann man sich zu größeren Taten inspirieren. Und vielleicht könnten sie sich hin und wieder einen Film zusammen ansehen.
Schließlich riss eine Berührung an ihrer Schulter sie aus ihrer Träumerei. Er trug eine grüne Chinos mit einem braunen Ledergürtel und ein Jeanshemd. Wie bei fast allen Rothaarigen schimmerte seine glatt rasierte Haut im Gesicht kalkig und fleckig. Unter seinem lockigen Haar machten sich erste Anzeichen drohender Kahlheit bemerkbar. Um den Bauch herum hatte er ein paar Pfund zu viel, kaschierte es aber geschickt mit der Kleidung. Als ob Frank das in irgendeiner Weise interessierte. »Einsam heute Abend?«, fragte sie den Mann.
»Eigentlich nicht«, log er, und das bewölkte Grau seiner Augen wurde noch dunkler.
»Armer Benji«, sagte sie. »Habe ich dich ausnahmsweise einmal geschlagen. Normalerweise würde ich mich dafür feiern lassen, aber heute ist mir nicht danach. Heute bin ich nur klein und unbedeutend und schadenfroh, schadenfroh, einfach schadenfroh.« Sie deutete mit dem Kinn auf die Massen. »Ich habe mindestens zweihundert Leute gezählt.« Eine Übertreibung. »Bekommst du es schon mit der Angst zu tun? Eine Ladenkette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied.« Benji Morton war der Manager vom Moonburst. Als Franks und Amandas Eltern letztes Jahr starben, hatte er Blumen geschickt. Frank verachtete ihn.
Seine dünnen Lippen zogen sich zu einem Schmollmund zusammen. »Ich wollte etwas über Kampf und Krieg sagen, aber ich denke, das versteht sich von selbst. Eines sage ich dir, Francesca, entweder ich bin ein armer Irrer oder in wenigen Wochen wird es nur noch ein Café in der Montague Street geben.«
»Da stimme ich dir voll und ganz zu.«
»Ich habe nicht vor, ewig ein kleiner Manager zu bleiben«, stieß er hervor. »Ich habe keine Lust, mein Leben lang Kaffeesatz und verschüttete Milch aufzuwischen. Und ehrlich gesagt verstehe ich auch nicht, was dir daran gefällt. Warum nimmst du diese ganze Rivalität so persönlich? Ich bin nicht dein Feind.«
»Warum bist du hier, wenn nicht, um die Konkurrenz auszuspionieren?«, fragte sie.
»Nein, so sehe ich dich nicht«, sagte er. »Ich möchte nur endlich schlau aus dir werden.«
Flirtete er mit ihr? Ein ekelhafter Gedanke. »Mit Konkurrenz habe ich den Wettbewerb gemeint.«
»Stimmt nicht«, gab er zurück. »Aber jetzt, wo du es sagst: Ich tippe auf den großen Typen da, der ist ein sicherer Kandidat.«
Frank hatte nicht bemerkt, dass Clarissa bereits die Teilnehmer präsentierte und sie in der Mitte des Raumes wie Ponys im Kreis vorführte. Hinter ihr kicherte Benji, und Frank fühlte sich plötzlich unsäglich dumm, die ganze Wettbewerbsidee war so erbärmlich. Sie gab Benji die Schuld an ihrem Stimmungsumschwung.
Jetzt arrangierte Clarissa die Männer in einer Reihe. »Gut«, sagte sie. »Ihr habt jetzt ausgiebig Gelegenheit gehabt, euch alle fünf Kandidaten genau anzuschauen. Allmählich wird es Zeit, den Gewinner zu ermitteln.« Sie hielt ihr Mikro über den Kopf des Redaktionsassistenten. Die Menge applaudierte schwach. Zu jung. Als Nächstes deutete sie auf den Bauarbeiter. Die Reaktion war schon enthusiastischer. Sie ging weiter zu dem großen Naturburschen. Donnernder Applaus, während anschließend der Dressman nur mehr lauen Zuspruch erntete, trotz Clarissas Anfeuerungsrufen — er wirkte einfach zu perfekt. Und auch dem affektierten Typ schenkte man nur einen kurz aufflackernden Applaus. So viel zur Prozedur der Wahl.
Clarissa gab Amanda ein Zeichen, damit sie Charles »Chick« Peterson das Zepter überreichte, das sie aus Alufolie gebastelt hatten. Während sie ihn krönte — die Krone war ebenfalls aus Alufolie — , starrte sie Chick in die Augen. Und er starrte zurück. Sie fassten sich an der Hand, und Frank wusste, Amanda würde nicht von den Kandidaten lassen können. Selbst mitten in der Nacht in einer Höhle würde sich Amanda den bestaussehenden Mann herauspicken.
Frank drehte sich um, denn sie wollte Benji auffordern, besser zu gehen, aber er befand sich bereits auf dem Weg zur Tür. Also wandte sie sich wieder den durstigen Gästen zu, die nach mehr Kaffee verlangten. Amanda bahnte sich einen Weg durch die Menge Richtung Theke, um ihrer Schwester zu helfen. Das Geklimper der Münzen in der Kasse klang auf einmal so hohl, dachte Frank. Was erwartete sie eigentlich vom Leben? Sich kratzend und beißend zu gebärden, um das Geschäft ihrer verstorbenen Eltern zu erhalten — war es wirklich das, was sie wollte? Sollte sie mit dreiunddreißig Jahren nicht eigene Pläne und Träume haben? Sollte sie sich nicht darüber Sorgen machen, dass sie seit der Trennung von Eric vor mehr als zwei Jahren keinen Sex mehr gehabt hatte?
»Ist was mit dir?«, fragte Amanda.
»Was sollte sein?«, gab Frank zurück.
»Die Aura um dich herum ist eindeutig schwarz«, bemerkte Amanda. »Was ist los? Ich sehe dir an, dass etwas nicht stimmt.«
»Da, zähl das.« Frank gab ihr eine Hand voll Fünfund-zwanzig-Cent-Münzen.
»Sag schon, was mit dir los ist«, beharrte Amanda.
Frank betrachtete Amandas verständnisvolles Gesicht. Sie sah so rosig, so frisch, so faltenlos aus. Frank wusste, ihrer Schwester lag an ihr, mehr als an irgendjemandem sonst auf der Welt. Aber sie würde nie Franks spezielle Art von Einsamkeit verstehen. Was es hieß, sich von allen Leuten weit und breit — sogar von der eigenen Schwester — unverstanden zu fühlen, obwohl man immer versucht hatte, wirklich versucht hatte, Beziehungen aufzubauen. Seit ihrer Jugend hatte sich an Franks Situation nichts geändert. Clarissa tolerierte Frank nicht — im Gegensatz zu ihrer neuen Busenfreundin Amanda. Wie konnte es auch anders sein? Amanda sah wundervoll aus in ihrem Kleid, ihr lockiges Haar tanzte auf ihren weichen, weißen Schultern.
»Wieso trägst du rot?«, fragte Frank. »Was ist mit deiner Arbeitskleidung?«
»Ich wollte mich für die Eröffnung kleiden wie für eine Party.«
Frank verbannte den störrischen Pony aus ihrer Stirn. »Ich muss mal«, sagte sie, »übernimm du solang.«
Frank drückte sich an Amanda vorbei, durch das Gewühl und die Tür hinaus auf die Straße. Sie atmete die kalte Luft in tiefen Zügen ein, bis sie sich etwas besser fühlte. Von einem Teenager, der gerade vorbeikam, schnorrte sie eine Zigarette. Dann setzte sie sich auf die Bank vor dem Café, rauchte fröstelnd und dachte nach. Ihre Augen wanderten zum Moonburst hinüber, wo es an diesem Abend sehr ruhig zuging. In Gedanken sah sie es in einem Feuerball explodieren, Glasscherben und Metalltrümmer durch die Luft fliegen und die zerfetzten Gliedmaßen von Benji Morton auf den Gehweg regnen. Sie nahm einen letzten Zug und drückte die Zigarette mit ihrem schwarzen Stiefel aus.