Kapitel 19
Frank schaute zu, wie Clarissa an ihren Haaren, Nägeln und ihrer Kleidung herumzupfte. Clarissa fühlte sich unbehaglich, wenn sie mit Frank allein war. Ihr schlechtes Gewissen hatte sie aus der Fassung gebracht. Abgesehen davon, dass sie eine Kostprobe in Sachen Kummer verdiente, verspürte Frank wenig Genugtuung, dass sie sie ihr verdankte. Setze das beliebteste Mädchen in der Caféteria, das in Wirklichkeit nicht so intelligent und toll ist, wie es den Anschein hat, den Blicken aus, und übrig bleiben Haare, Nägel und die Kleidung wie bei einer Anziehpuppe.
»Ich folge dem Rat von Amanda und verzeihe dir alles«, sagte Frank. »Ich hasse dich nicht. Wenn ich überhaupt etwas für dich empfinde, dann ist es Mitleid.«
»Ich tue dir Leid?«
»Ich bin froh und erleichtert, dir das sagen zu können.«
»Und weswegen?«, erkundigte sich Clarissa.
Wie sollte Frank das erklären? Sie hatte sich völlig grundlos zu Clarissa hingezogen gefühlt, hatte geglaubt, Clarissa würde über Kräfte verfügen, die sie nicht besaß — als könnte sie durch eine Freundschaft mit diesem strahlenden Wesen ihr tristes Ich stärken und Eigenschaften verliehen bekommen, die sie selbst nie gehabt hatte. Eine egoistische Dummheit, das wusste Frank. Aber wie traurig war das für Clarissa: Hatte sich irgendjemand ernsthaft für Clarissa selbst interessiert? Frank hatte auf ihre ungeschickte, zögerliche Weise Clarissa zu benutzen versucht. Sie hatte sich nie wirklich um sie oder ihre Angelegenheiten gekümmert. Aber sie hatte trotzdem nicht den Nerv, über ihr eigenes schlechtes Verhalten nachzugrübeln. Frank hatte ihren Preis gezahlt. Einen hohen Preis. Clarissa schien keinem Verlust nachzutrauern. Nicht einmal dem Ende ihres eigenen Mythos.
»Warum du mir Leid tust?«, griff Frank ihre Frage auf. Weil Clarissa offensichtlich keine anderen Gefühle hatte als ein schlechtes Gewissen.. Weil sie nur aus eigenem Interesse gehandelt hatte und deshalb einsam und verlassen sein musste — und es anscheinend gar nicht bemerkte. Selbst nachdem sie wiederholt von Piper angelogen worden war, hielt sie ihn immer noch für ihren Freund.
»Ja. Sag es mir«, insistierte Clarissa.
»Ich weiß es nicht.« Die Schöne trommelte mit ihren Nägeln auf dem Küchentisch. War sie so erpicht auf Rufmord? »Ich glaube, es wäre besser, wenn wir zu einem produktiveren Thema übergingen«, schlug Frank vor.
»Zum Beispiel?«
»Sühne.«
»Sühne?«, wiederholte Clarissa.
»Ja. Wie du den Schaden, den du angerichtet hast, wieder gutmachen kannst. Anderenfalls — ich bin nicht katholisch, also hilf mir mit der religiösen Konnotation — kommst du in die Hölle.«
Sie studierte Clarissas Reaktion. Das Einzige, was sich in ihrem Gesicht bewegte, waren die rosigen makellosen Nasenflügel. »Du brichst jetzt nicht gleich in Tränen aus?«, fragte Frank. Ihr gefiel die Vorstellung, dass ihre Worte die steinerne Prinzessin verletzen könnten.
Clarissa schüttelte den Kopf. »Ganz bestimmt nicht.«
»Deine Nasenflügel beben.«
»Was du sagst, klingt sehr hart für mich.«
Frank war schockiert. »Es tut mir Leid, wenn ich dich getroffen habe. Das habe ich nicht beabsichtigt.« Vielleicht hatte Clarissa doch noch Rudimente eines mitfühlenden Herzens in sich.
»Es ist immer schwierig, über Geld zu sprechen«, sagte Clarissa.
Hatte das Gespräch eine Wendung genommen? »Jetzt verstehe ich nur Bahnhof«, sagte Frank.
»Nun, du erinnerst dich an die Renovierungsarbeiten vor dem Wettbewerb? Und an das Inserat in der Zeitung? An das neue Schild und die Außendeko?«
»An all das, wovon du behauptet hast, wir sollten uns über die Finanzierung keine Gedanken machen? Ich erinnere mich.« Frank platzte fast der Kopf. Nach allem, was sie getan hatte, konnte Clarissa doch nicht etwa wagen, das Geld zurückzu verlangen? »Wie war das doch gleich mit Sühne?«, fragte Frank.
»Das ist nicht komisch, Francesca«, sagte Clarissa.
»Ich lache nicht.«
»Es hat mich dreitausend Dollar gekostet.«
»Ich glaube, damit musst du leben.«
Die bebenden Nasenflügel der Blondine blähten sich auf wie bei einer Kuh, die unter Rinderwahnsinn litt. »Ich habe nicht die Absicht, das Geld zu verlieren«, sagte sie.
Frank fasste es nicht. Nein, es war überflüssig. Eigentlich durfte sie von Clarissa nichts anderes erwarten. Allein der Gedanke, welches Leid ihr diese Blutsaugerin zugefügt hatte. »Wenn man das, was wir einander schulden, auf eine Waage legt, bist du mit dreitausend Dollar minus noch bestens bedient, glaube ich.«
»Ich möchte nur zurückbekommen, was mir gehört«, insistierte Clarissa. Jetzt, da sie den Job bei der Post wahrscheinlich vergessen konnte, hatte sie offensichtlich bemerkt, wie dringend sie das Geld benötigte. Immerhin war sie noch Studentin. Und Armani war nicht billig. Frank spürte, dass sie jetzt hart bleiben musste, wenn Clarissa ihr noch einen zusätzlichen Dienst erweisen sollte.
»Keinen Penny wirst du sehen«, sagte Frank ruhig. »Es sei denn... nein, vergiss es.«
»Was?«
Frank schüttelte den Kopf. »Das würdest du nie tun.«
»Vielleicht doch.«
Frank musste lächeln, als sie ihren Piranha einholte. »Ich stelle dir auf der Stelle einen Scheck aus, wenn du eine letzte Aufgabe als Marketing-Leiterin und Public-Relations-Chefin des Romancing the Bean erledigst.« Insgeheim dachte sie sich, dass der Scheck sowieso platzen würde. Clarissa verzog skeptisch die Lippen zu einem Schmollmund. Frank fuhr fort: »Ich möchte, dass du Piper Zorn anrufst und ihn bittest, einige Recherchen über Todd Phearson anzustellen. Besitztümer, Hypotheken, Verhaftungen, Bluttests, Kraftfahrzeugbehörde, Haustierregistrierung, Angelschein, Steuererklärung, alles, was er findet.« Die Post hatte uneingeschränkten Zugang zu Rathaus, Internet und Steuerbehörde. Die Recherchen würden vielleicht etwas ergeben, womit man Todd schaden könnte. Frank war sich nicht zu gut für eine Erpressung und klammerte sich an jeden Strohhalm. Denn wenn sie das nicht täte, würde sie auf jeden Fall untergehen.
»Du verlangst, dass ich Piper anlüge?«, fragte Clarissa.
»So dreht sich das Rad.«
»Du hältst das Ganze hier wohl für eine Soap Opera?«
»Nein. Ich dachte, er hat dich angelogen, und jetzt bist du am Zug und lügst ihn an.« Frank wunderte sich erneut, wie sie so viel Vertrauen in Clarissa hatte setzen können, denn besonders intelligent war sie wirklich nicht. Um des Cafés und ihrer selbst willen hatte sie offensichtlich sämtliche schlechten Eigenschaften Clarissas einfach ausgeblendet und sich ausschließlich auf das Imponierende ihres Wesens konzentriert.
»Statt eines Schecks hätte ich gern Bargeld«, forderte Clarissa.
»Ich gebe dir fünfzehnhundert Dollar, den Rest nächste Woche.« Oder im nächsten Leben, wie Amanda sagen würde.
»Einverstanden, ich mache es«, sagte Clarissa und hob das Telefon in der Küche ab, um bei der Post anzurufen. Sie starrte Frank an, während sie sagte: »Piper, hier ist Clarissa. Der Artikel von Walter Robbins heute ist klasse. Ja. Hör zu, ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Ich habe geschäftlich mit einem Mann hier draußen in Brooklyn zu tun. Er ist hinter mir her. Er behauptet, nicht verheiratet zu sein, aber ich möchte auf Nummer Sicher gehen. Kannst du das für mich nachschauen? Gut. Ja, außerdem behauptet er, reich zu sein. Und dass er einen Riesenschlitten fährt. Ich weiß. Ich weiß. Ja. Ja. Ich weiß. Kannst du nicht einen der Computerspezialisten bitten, ein wenig über ihn zu recherchieren? Todd Phearson.« Sie buchstabierte. Genau. »Wohnt in Brooklyn Heights. Ihm gehört das Heights Café. Ja. Einverstanden. Warte mal eine Sekunde. Ich muss niesen.«
Sie hielt mit der Hand den Hörer zu. »Wann und wo sind wir erreichbar?«
»Wir gehen zur Bank und holen das Bargeld. Dann sind wir wieder da. In einer halben Stunde. Aber er soll nicht hier anrufen. Wir rufen ihn an.«
Clarissa sagte ins Telefon: »Ich rufe dich in einer halben Stunde wieder an, um zu erfahren, was du herausgefunden hast. Nein, hier ist kein Fax in der Nähe. Auch kein Telefon. Die Batterien sind leer. Ich rufe dich wieder an.« Sie legte auf. »Er macht es«, sagte sie zu Frank. »Ich denke, er hat ein schlechtes Gewissen, dass er mich für sein Spiel benutzt hat. Eigentlich ist er gar kein so mieser Typ.«
Frank musste sich in den Arm zwicken, um nichts zu erwidern. Sie zwang sich, mit Clarissa noch so lange auszukommen, bis sie Todd zurückgezahlt hatte, was er verdiente. Danach würde sie nichts mehr mit Clarissa zu tun haben wollen. Frank blickte auf die Uhr. Es war 14 Uhr.
»Gehen wir?«, fragte sie. Die beiden Frauen zogen ihre Mäntel über und liefen nach draußen. Das Gitter vor dem Geschäft war noch immer verschlossen. Frank unterdrückte ein Schluchzen, als sie an die Begegnung mit Todd kurz vorher dachte. Material für eine Erpressung zusammenzusuchen war ein Schritt der Verzweiflung, aber es blieb ihr nichts anderes übrig. In den Kampf zu ziehen wäre nicht so schrecklich, wenn man den Ausgang wüsste. Aber bis es vorbei war, würde Frank ihr Leben als freie Frau nicht fortsetzen können.
Die Leute auf der Straße hasteten vorüber. Die Sonne stand am Himmel wie ein Basketball. Alles um sie herum schien sich immer schneller zu bewegen, während Frank auf das Ende eines Lebensabschnitts zuschritt. Selbst das Ende näherte sich trostlos. Frank konnte kaum abwarten, dorthin zu gelangen. Amanda würde das wahrscheinlich Optimismus nennen. Aber Frank war nicht bereit, dem zuzustimmen.
Die beiden Frauen liefen schweigend zur Citibank in der Montague Street, gegenüber dem Rite-Aid-Drugstore. Frank füllte ein Auszahlungsformular aus und reihte sich in die Schlange an der Kasse ein, hinter ein junges verheiratetes Pärchen mit einem Baby, das in einem Sportwagen mit Sonnenschirm saß. Clarissa wartete beim Christbaum, der noch in einer Ecke des riesigen Bankgebäudes stand, das eigentlich eine umgebaute Villa mit riesigen Marmorsäulen und einem herrlichen Mosaik auf dem glatt gekachelten Boden war. Das junge Pärchen sprach leise von seinen Plänen — konnten sie es sich leisten, mit dem Baby in der Stadt zu bleiben? Würden sie weggehen können? Die gelassene Unterhaltung über ihre gemeinsame Zukunft entwaffnete Frank. Als sie dreiundzwanzig war, dachte sie, sie würde eine fantastische Karriere im Verlagswesen machen, einen liebenden Ehemann finden und mit dreißig Jahren Kinder haben. Jetzt, mit dreiunddreißig, war sie überrascht darüber, welche Emotionen das junge Pärchen in ihr auslöste. Anstatt sie zu beneiden, fand sie die beiden nichts sagend und gewöhnlich, sie hatten sich mit ihrer Situation abgefunden.
»Der Nächste!«, rief die Kassiererin. Das Pärchen lief los, die Kontoauszüge und den Griff des Sportwagens fest umklammert.
»Ich möchte nicht mit ihnen tauschen«, sagte Frank zu sich selbst. Sie wollte mit niemandem tauschen. Die Erkenntnis, sich selbst zu akzeptieren, war überraschend gekommen. Als es blinkte und eine der Kassiererinnen »Nächster!« rief, überhörte Frank es.
Der Mann hinter ihr tippte ihr auf die Schulter und riss sie damit aus der Erstarrung, die sie dieser Epiphanie zu verdanken hatte. Frank trat vor den Schalter und gab der Kassiererin, einer älteren farbigen Frau, den Auszahlungsschein und ihre Citicard. Die Kassiererin drückte einige Tasten ihres Computers.
»Wie möchten Sie es?«, fragte sie.
»Fünfziger und Hunderter«, antwortete Frank.
Die Kassiererin händigte Frank das Geld und einen Beleg aus und sagte: »Wenn Sie mit unseren Anlageberatern sprechen wollen, können Sie mit dem Kollegen an der Informationstheke einen Termin vereinbaren.«
»Wie bitte?« Frank verstand nicht, warum sie für die sechshundert Dollar, die auf ihrem Konto verblieben waren, die Hilfe eines Anlageberaters in Anspruch nehmen sollte.
»Sie wollen doch nicht neunundsiebzigtausend Dollar einfach auf einem Girokonto liegen lassen, oder?«, fragte die Kassiererin.
»Da muss ein Irrtum vorliegen«, entgegnete Frank. Sie warf einen Blick auf ihren Beleg und blinzelte zweimal: Das restliche Guthaben betrug 79 343 Dollar.
Die Kassiererin drückte wieder einige Tasten. »Heute im Lauf des Tages sind achtzigtausend Dollar auf Ihr Konto überwiesen worden.«
»Ach ja, klar. Das hatte ich ganz vergessen.« Frank hatte keine Ahnung, was gespielt wurde, aber sollte es ein Bankirrtum sein, wollte sie auf keinen Fall, dass er korrigiert würde.
»Sie haben eine Summe von achtzigtausend Dollar vergessen?«
»Ich stehe unter Medikamenten«, sagte Frank entschuldigend. Sie beugte sich vor und flüsterte: »Equilibrin.« Die Kassiererin riss die Augen auf. Dann sagte Frank: »Ich hätte gern eine Zahlungsanweisung über fünfundfünfzigtausend Dollar, bitte.«
»Dazu benötige ich einen Ausweis mit Foto und einen weiteren Auszahlungsschein. Außerdem muss ich eine so hohe Summe mit dem Filialleiter abklären, glaube ich.«
Einen Führerschein hatte sie nicht und der Pass lag in ihrer Wohnung. »Klären Sie ab, was Sie abklären müssen. Ich bin in fünfzehn Minuten mit meinem Pass zurück.«
»Die Bank schließt in fünfzehn Minuten.«
»Mist«, entfuhr es Frank. »Wo kann ich telefonieren?«