Kapitel 12

Amanda konnte nicht aufhören, über Chick nachzugrübeln. Was genau war sie ihm schuldig? Wenn ihre Beziehung zu ihm irgendetwas mit seinem Tod zu tun hatte... Sie durfte gar nicht daran denken, was das bedeutete. Ihr Karma würde sich nie wieder erholen. Sie versuchte, durch Meditation einen klaren Kopf zu bekommen. Ein, aus, die Sonne, der Mond, die Wellen, die Felsen, der Strand, der Sand, der Sandkasten, der Schmutz, das Ungeziefer, die Verwesung, der Tod. Es funktionierte nicht. Immer wieder schoss ihr ein Bild durch den Kopf: Chick, wie er betrunken und wackelig auf den Beinen an der Brownstone-Mauer in die Enge getrieben wird. Er versucht, sich gegen den Phantom-Mörder zu wehren. Eine Keule, wie sie Höhlenmenschen hatten — das fiel ihr spontan für einen stumpfen Gegenstand ein — , fliegt durch die dunkle Nacht und landet mit einem barbarischen Knall auf Chicks wunderschönem Kopf, dann das Geräusch von einem zerberstenden, sich in matschige Hirnmasse drückenden Schädel wie das Aufplatschen von Steinen in Schlamm.

»Du wirst ja ganz grün«, sagte Matt zu Amanda. Sie standen vor dem Park Plaza, um zu entscheiden, was als Nächstes zu tun war.

»Ich möchte mich einmal mit Piper Zorn unterhalten«, sagte Frank. »Ich glaube zwar nicht, dass das ein vernünftiger Mensch ist, aber wenn ich ihm erkläre, dass wir auch ohne ihn eine Reihe von Problemen haben, hört er vielleicht auf, über uns zu schreiben.«

Amanda schüttelte den Kopf. »Clarissa wird das nicht gefallen. «

Frank schaute sofort zu Matt. »Ich weiß nicht, ob ich in diesem Punkt mit Clarissas Strategie übereinstimme — nur in diesem Punkt. Ansonsten leistet sie Unglaubliches für uns, und das weiß ich zu schätzen, wirklich. Und«, sie drehte sich zu Amanda, »das wirst du ihr sagen, wenn sie herauskriegt, dass ich Zorn bei der Post einen Besuch abgestattet habe.«

Amanda presste die Hand auf ihren strapazierten Magen. »Ich denke, ich gehe zurück und öffne das Café.«

»Matt, glaubst du, du kannst den Laden heute für uns auf-machen?«, wandte sich Frank an den Kellner. Er nickte. »Amanda«, fuhr Frank fort, »warum gehst du nicht ins Moonburst und redest mit Benji? Er kannte Chick von allen hier am besten. Vielleicht geht es dir besser, wenn du mit jemandem über ihn sprechen kannst.«

Die jüngere Schwester war gerührt. »Bestimmt«, sagte Amanda. »Ich muss zugeben, ich bin überrascht.«

»Hast du etwa gedacht, ich hätte keinen Funken Mitgefühl in mir?«

»Nicht Mitgefühl«, sagte Amanda. »Geduld.«

»Habe ich etwa keine Zeit für deine ganzen blockierten Chakren?«

»Anscheinend hast du die nicht, nein. Und wenn wir gerade dabei sind: Es verletzt mich, dass du immer alles so leicht abtust, was mich betrifft.« Durch das Geständnis ließ die Anspannung in ihrem Magen nach.

»Jetzt bin ich überrascht«, sagte Frank.

»Was?«, fragte Amanda.

»Ich bin überrascht, dass ich so eine schädigende Wirkung auf dich habe.«

Die Schwestern standen mit hängenden Armen schweigend da und musterten einander. Ihr weißer frostiger Atem traf sich in der Mitte und löste sich dann in Luft auf. Amanda war nach einer Umarmung zumute. Das wäre genau der Augenblick. Die Oberfläche ihrer herzlichen, aber angespannten Beziehung — für die Frank verantwortlich war — würde durchbrochen. Darunter würde etwas Ehrliches und Dauerhaftes zum Vorschein kommen. Aber Amanda wusste: Wenn sie ihren Arm ausstrecken und versuchen würde, ihre Schwester zu umarmen, würde Frank sich sofort zurückziehen.

»Jetzt, wo ich offiziell in eurer Wohnung wohne: Kann ich meine Wäsche waschen?«, fragte Matt.

»Gern«, antwortete Frank.

»Du kannst dir in der Zwischenzeit ein paar saubere Socken ausleihen«, bot Amanda an.

»Botschaft erhalten«, sagte Matt.

Frank machte sich auf den Weg zum Eingang der Linien zwei und drei in der Clark Street. Matt und Amanda mummten sich ein, so gut sie konnten, und gingen zurück Richtung Romancing the Bean.

Amanda zitterte leicht, während sie liefen. Sie zog ihren Mantel enger um sich. »Frisch heute«, stellte sie fest.

»Ich mache keinen Smalltalk«, entgegnete Matt.

»Über das Wetter zu reden ist kein Smalltalk.« Die Launen wechseln mit Wind, Hitze und Luftfeuchtigkeit. Mit einem strahlenden Himmel. Wie oft hatte ein sonniger Morgen schon ihr ganzes Wesen auf eine höhere Ebene gehoben. »Zufälligerweise nehmen Bauern das Wetter sehr ernst«, sagte Amanda.

»Ich habe das wirklich so gemeint, was ich vorhin gesagt habe, wir zwei sollten einmal etwas gemeinsam unternehmen.«

Amanda versuchte, das Thema zu wechseln. »Hat Patsie nicht nach Marihuana gerochen heute Morgen? Mir war so.«

»Ich rauche nicht. Und rieche nichts«, sagte Matt knapp.

Damit war die Unterhaltung beendet. Schweigend gingen sie weiter. Amanda musste zugeben, dass das bequemer war, als ihn hinzuhalten. Nicht dass sie Matt abstoßend fand. Sie konnte nur nicht an eine Verabredung denken, solange ihr Chick im Kopf herumspukte. Außerdem arbeiteten sie zusammen. Und Matt hatte kein Geld. Bei all ihrer Spiritualität, Sensibilität und ihrer Gabe, in jedem das Gute zu sehen, hatte Amanda doch einen gewissen Anspruch, wenn sie sich verabredete. Der Mann musste nicht reich sein. Er musste auch keinen Job haben. Aber wenn er nicht einmal das Dinner bezahlen konnte, verschwendete sie keinen Blick an ihn.

Als sie am Café ankamen, überließ Amanda Matt ihre Schlüssel für das Sicherungsgitter und die Eingangstür zum Romancing the Bean. Sie spähte beim Moonburst nebenan durch das Fenster. Das Gitter war zwar offen, aber im Inneren entdeckte sie niemanden. Sie klopfte an die Scheibe und wartete. Nach einer Wartezeit von, wie es schien, zehn eisigen Minuten sah sie Benji Morton, der sich mit einem Schlüsselbund in der Hand auf der Straße heranquälte. Er schaute sie nicht einmal an, als er die Tür des Moonburst aufsperrte. Er öffnete sie, ging hinein und hielt sie Amanda auf. Wie eine richtige Lady und entsprechend ihrem Vorsatz, dass Männer den ersten Schritt machen mussten, würde sie keinen Fuß in den Laden setzen, solange sie keine mündliche Einladung erhalten hätte.

»Kommst du herein oder nicht?«, fragte Benji. Amanda lächelte süß, zählte insgeheim bis drei und ging dann wortlos hinein. Er schloss hinter ihr die Tür.

Er ließ die Holzfällerjacke fallen, darunter trug er seine normale Arbeitskleidung: Kakihose, Jeanshemd und Krawatte. Amanda musste sich eingestehen, dass sie sich von seinem rothaarigen, frisch geschrubbten, kräftigen Äußeren angezogen fühlte. Doch Frank zuliebe, die nie und nimmer hinnähme, dass sie sich mit dem Feind einließ, hatte sie dem Reiz nie nachgegeben. Tatsächlich war Amanda nicht davon überzeugt, dass Benji wirklich bösartiger Natur war. Aber die Tatsache, dass Frank nichts mehr hasste als das Moonburst, hinderte Amanda daran, ihn besser kennen zu lernen. Diese Aversion machte es Amanda nicht leicht, hineinzumarschieren und eine persönliche Unterhaltung über ein schmerzliches Thema mit ihm zu beginnen. Jedenfalls für sie würde es schmerzhaft sein, wie Benji den Tod von Chick empfand, wusste sie noch nicht.

Benji drapierte seine Jacke über die Theke. Amanda registrierte seine schlauchförmige Taille. Er sollte sich etwas mehr Bewegung verschaffen, aber war es an ihr, darüber zu urteilen? Ohne ein Wort zu sagen, schritt Benji an ihr vorbei hinter seine Computerkasse und begann, auf Knöpfen herumzudrücken. Sie räusperte sich, doch er schaute nicht auf. Es schien, als wollte er nichts mit ihr zu tun haben. So eine Grobheit. Vielleicht mochte Frank ihn ebenfalls grob behandelt haben, aber Amanda selbst war nie unhöflich zu ihm gewesen. Außerdem war sie nicht daran gewöhnt, dass ein Mann ihr keine Beachtung schenkte.

Seine Unverschämtheit provozierte sie. Sie betrachtete die Karte an der Wand hinter Benji und sagte: »Arabischer Java-Mokka. Eine klassische Mischung, die älteste der Welt. Besteht zu einem Teil aus Mokka-Bohnen aus den jemenitischen Regionen am Roten Meer und zu zwei Teilen aus Java-Arabica-Bohnen aus Indonesien.«

»Ja, und?«, fragte er.

Um sich von seiner schlechten Laune nicht aus dem Konzept bringen zu lassen, klimperte Amanda mit den Wimpern und sagte unschuldig: »Java hat seit Jahrzehnten keine hochwertigen Arabica-Bohnen mehr produziert.«

»Was ist der Punkt?«, bellte er.

»Ich dachte, das Moonburst würde einzig und allein Arabica-Bohnen mit Topqualität verkaufen«, flötete sie sanft. »So heißt es wenigstens in eurem Prospekt.«

Amanda pickte eine Moonburst-Broschüre aus dem Ständer vor der Kasse und hielt sie in die Höhe.

»Keinen Menschen interessiert das, Amanda.« Benji knallte die Kasse zu. »Die Schwachköpfe auf der Straße kümmert es einen Dreck, was in dem Kaffee drin ist. Unsere Gäste wollen nur, dass er heiß und stark ist. Und das bekommen sie bei uns. Moonburst könnte eine Malibu-Beach-Mischung auf den Markt werfen und die Leute würden sie kaufen. Das geht nur nicht in den Kopf von dir und deiner Schwester. Die Gäste wollen keine Kenner sein. Das würde sie Zeit kosten. Arbeit. Überlegung. Im Moonburst denken wir für die Gäste.«

Er war so böse. Auf mich?, fragte sie sich und sagte: »Diese ganze negative Energie ist schrecklich schlecht für deine Gesundheit.«

Benji schaute nicht einmal auf. Er kritzelte etwas auf ein Bestellformular. »Ich bin sicher, dass du nicht wegen meiner Gesundheit um diese Uhrzeit hier aufgetaucht bist«, sagte er. »Was willst du? Ich habe zu tun.« Er legte sein Klemmbrett weg und begann, Bohnen aus Fünf-Pfund-Säckchen in die riesige Kaffeemühle zu kippen.

Damit gab Amanda jegliche Hoffnung auf, je mit Benji in Kontakt zu kommen. Gegen seine offene, scharfe Feindseligkeit war sie nicht gewappnet. »Du bist wirklich ungerecht, Benji«, sagte sie.

»Du hast damit angefangen«, gab er zurück. »Du tust vielleicht so, als wärst du eine Mimose, eine Art Zauberprinzessin, die zu zart ist für diese Welt. Aber in Wahrheit bist du genauso gemein wie deine Schwester.«

Um sich so kritisieren zu lassen, war sie bestimmt nicht gekommen, noch dazu, wenn die Kritik nicht zutraf. Als ihre Augen sich mit Tränen füllten, ließ Amanda sie laufen. Und sie liefen in Strömen. Tief aus ihrem Bauch sprudelte ihr Schluchzen hervor. Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen, sank auf den Boden und ließ den Tränen freien Lauf.

Benji seufzte. »Oh, großartig. Sie ist hysterisch. Absolut großartig, verflucht noch mal.«

Amanda weinte noch stärker. Er gab Laute der Unzufriedenheit von sich und kniete sich schließlich neben sie. »Hör doch auf zu weinen«, sagte er sanft. »Bitte. Eine Frau weinen zu hören ist für mich wie einen Eispickel ins Auge zu bekommen. Es tut mir Leid. Ich habe es nicht so gemeint. Du bist sehr nett. Du bist keine Mimose. Weißt du, ich habe ein paar persönliche Probleme. Ich hätte sie nicht an dir auslassen dürfen. Bitte hör auf zu weinen. Ich halte das nicht aus. Ich tue alles, was du willst. Sag mir nur, was ich tun soll.«

Amanda schnappte nach Luft. »Alles?«

»Wie ich gesagt habe.«

»Erzähl mir von Chick.«

Seine Muskeln verkrampften sich. Amanda sah, wie sich seine Oberschenkel unter der Kakihose anspannten. »Chick wie?«, fragte er.

»Benji, ich weiß, dass er dein Freund war. Ich will nur mehr über ihn erfahren. Wie war er? Hat er lange und heiß oder kurz und kalt geduscht? Was hat er gegessen? Hat er viel gelacht? Erzähl mir einfach, was du weißt. Ich fühle mich, als hätte ich ein Loch im Herzen, das nur mit Informationen über Chick gestopft werden kann. Ich muss ihn kennen lernen, wie ich es getan hätte, wenn er nicht umgebracht worden wäre.«

Benji rappelte sich auf und ließ Amanda allein am Boden zurück. »Ich kannte ihn auch nicht.«

»Kannst du mir wenigstens die Telefonnummer von Bert Tierney in Vietnam geben?«, fragte sie. Vielleicht wusste der gemeinsame Freund etwas zu erzählen.

»Bert wie?«, fragte Benji. »Ich kenne niemanden in Vietnam.«

Warum log er? »Warum lügst du?«, fragte sie.

Die Eingangstür flog auf. Amanda blickte vom Boden auf und sah zwei Männer in dreiknöpfigen Polyesteranzügen. In der Hand hielten sie ihre Erkennungsmarken. Polizei. Der eine, mit einem Schnurrbart, fragte: »Benjamin Morton?« Benji nickte. Der andere, der komischerweise keinen Schnurrbart, sondern einen richtigen Bart trug, packte ihn am Arm und legte ihm auf der Stelle Handschellen an.

Der Polizist mit dem Schnurrbart fragte Amanda: »Wer sind Sie? Und warum weinen Sie? Hat Ihnen dieser Dreckskerl etwas getan?«

»Ich habe nur Staub im Auge«, entgegnete sie.

»Name«, sagte der Schnurrbart kurz angebunden.

»Amanda Greenfield.«

»Die bildschöne Cafébesitzerin.«

Sie errötete. »Bildschön würde ich nicht sagen.«

Der bärtige Polizist bemerkte: »Ich schon.«

Der schnurrbärtige Gesetzeshüter sprach weiter: »Also, Amanda Greenfield, Sie kommen offiziell nicht mehr für den Mord an Peterson in Frage.«

»Bin ich denn je offiziell in Frage gekommen?«

»Nur für die Presse«, sagte der Bärtige. »Los, Morton.« Er stieß Benji zur Tür.

Durch und durch unzufrieden erhob sich Amanda vom Boden. »Wo bringen Sie ihn hin?«

»Sind Sie mit dem Mann liiert?«, fragte einer der Polizisten zurück.

»Fragen Sie das hinsichtlich Ihrer Untersuchung oder aus persönlicher Neugier?«, entgegnete Amanda.

»Genug, Pastelli«, sagte der schnurrbärtige Ordnungshüter zu seinem Kollegen. Dann wandte er sich an Amanda: »Wir nehmen ihn mit aufs Revier. Ein Zeuge hat sich gemeldet und wir brauchen ihn für eine Gegenüberstellung.«

»Ein Zeuge wofür?«, fragte sie.

Die Polizisten warfen sich einen Blick zu, so als wäre Amanda ungeheuer dick. Schließlich sagte der Bärtige: »Er wird beschuldigt, Charles Peterson getötet zu haben.«

Genau das hatte Amanda befürchtet zu hören. Ihr Verstand lehnte diese Vorstellung ganz und gar ab: Benji, der arrogante Typ von nebenan, konnte keine brutale Gewalttat an einer so lieben Seele wie Chick verübt haben. Benjis Gesicht war weiß wie Eierschalen, er sah aus, als würde er jeden Moment umkippen. Die Polizisten schoben ihn mit einigen unsanften Stößen nach draußen, dicht gefolgt von Amanda, die nicht wusste, was sie sonst hätte tun sollen.

Sie drückten Benjis Kopf nach unten, um ihn ins Polizeiauto zu befördern. Es war ungefähr 6.30 Uhr. Um diese Zeit waren schon die ersten Leute unterwegs zu ihrem Arbeitsplatz in Manhattan. Einige Dutzend Menschen beobachteten die Demütigung Benjis durch die Hand des Gesetzes. Und plötzlich schien die Montague Street voll mit Schaulustigen zu sein. Alle Augen waren auf Benji gerichtet, den Angeklagten.

Sobald Benji saß, rief er: »Amanda, wenn dir unsere Freundschaft etwas bedeutet« — sie war sicher, dass sie ihm nichts bedeutete — , »dann warte im Laden, bis mein Team kommt, damit sie das Geschäft aufmachen können.«

»Wo sind die Schlüssel?«, fragte Amanda.

Die Polizisten warfen die Autotür zu. Benji artikulierte »Auf der Theke« durch das schalldichte Fenster, Amanda nickte und das Auto flitzte davon.

Amanda ging ins leere Moonburst zurück und schloss die Tür von innen ab. Der Schock, dass die Polizei Benji mitgenommen hatte, saß ihr in den Knochen. Aber auch, als sie sich mit der Realität abzufinden versuchte, weigerte sich ihr allessehendes, allwissendes drittes Auge, an Benjis Schuld zu glauben. Sie wusste nicht, woher diese Intuition kam, aber sie vertraute ihr. Trotz dieser Gewissheit war ihr das Rätsel um Chick wieder von neuem auf den Magen geschlagen. Wenn Benji ihr schon nicht geholfen hatte, Bert Tierney in Vietnam zu kontaktieren, musste sie eben zur Selbsthilfe greifen.

Sie hatte, so überschlug sie, ungefähr fünfzehn Minuten Zeit bis zur GKAZ (geschätzte Kellner-Ankunfts-Zeit). Zuerst wühlte sie unter der Theke herum und stellte fest, dass der bedauernswert Benji seine Jacke dagelassen hatte. Als sie nichts fand, ging sie nach hinten zu Benjis Büro. Sie probierte die Schlüssel an Benjis Schlüsselbund durch, immer wieder und wieder, fummelte mit jedem einzelnen herum und ließ ihn dann wieder aus. Sie verlor kostbare Zeit. Ihr Herz pochte wild. Doch endlich gelang es ihr, die Tür zu öffnen. Der Raum war nicht größer als ein Wandschrank. Immerhin gab es in diesem fensterlosen Loch einen Schreibtisch, einen Computer, ein Telefon und einen Aktenschrank. Und ein Rolodex-Telefonverzeichnis.

Amanda blätterte zum T. Tierney, ganz am Anfang. Sie kritzelte schnell die Nummer auf ein Post-it und stopfte das gelbe Quadrat in ihre Jackentasche. Dann sah sie auf die Uhr. GKAZ: in acht Minuten. Ein Anruf nach Vietnam kostete sicher ein Vermögen. Sie setzte sich auf Benjis Stuhl und wählte die Nummer der internationalen Vermittlung, um das Gespräch anzumelden.

Beim ersten Klingelzeichen meldete sich ein Mann. »Silver Coast Resorts.« Amanda war froh, englisch zu hören.

»Bert Tierney, bitte«, sagte sie.

»Am Apparat.«

Amanda rutschte auf dem Stuhl hin und her. »Hallo, Mr Tierney. Mein Name ist Amanda Greenfield. Ich rufe an wegen Chick Peterson.«

»Ja?«, ertönte es vom anderen Ende der Leitung.

Amanda realisierte plötzlich, dass sie die grausige Aufgabe übernehmen musste, dem Mann mitzuteilen, dass sein Freund getötet worden war — und dass sein anderer Freund, Benji Morton, als sein Mörder unter Anklage stand.

»Hallo? Sind Sie noch da?«

»Ich rufe von Benji Mortons Büro an«, sagte sie endlich. Sie wusste nicht, wie sie diese schreckliche Unterhaltung beginnen sollte.

»Geben Sie ihn mir mal, Süße«, sagte Tierney.

Benji ans Telefon holen? »Er ist gerade nicht da, er ist...«

»Wahrscheinlich sitzt er den ganzen Tag in Konferenzen fest. Unter uns, ich hätte es nie für möglich gehalten, dass Benji Morton Vizepräsident bei Moonburst für den Verkauf weltweit werden könnte. Wirklich erstaunlich, denn auf dem College war er nicht gerade der Erfolgreichste.«

Wovon in aller Welt sprach der Mann? »Es tut mir Leid, ich weiß nicht genau, wie ich es sagen soll.«

»Sie brauchen eine Referenz für Chick? Ich weiß, es ist peinlich zu fragen, ob einer Dreck am Stecken hat oder nicht. Sagen Sie Benji, Chick ist okay. Unsere Sache hier unten läuft gut. Ein ganz neues Konzept. Und richten Sie Benji aus, dass da, wo es herkam, noch mehr davon zu holen ist.«

Durch ein Rütteln an der Eingangstür des Geschäfts ließ Amanda den Hörer fallen. Sie kroch ihm nach, hob ihn wieder auf und hängte mit einem »Ich muss jetzt auflegen« ein.

Sie schnaufte einige Male tief durch, dann stand sie auf. Als sie aus dem Büro trat, sah sie eine junge Frau in Jeans und Daunenjacke durch das Caféfenster hereinspähen. Trotz ihrer zitternden Hände schloss sie die Bürotür wieder ab und lief nach vorne. Sie sperrte die Eingangstür auf und verließ das Moonburst.

Die Bedienung auf der Straße war kaum älter als achtzehn. »Arbeitest du nicht nebenan?«, fragte sie, doch Amanda überging die Frage. Sie schloss die Tür des Moonburst von außen ab — an ihren Schläfen schienen die Adern fast zu platzen vom Druck des pulsierenden Blutes — und sagte: »Es gab einen Notfall. Benji hat mich gebeten, seinen Leuten etwas auszurichten.«

»Was auszurichten?«, fragte das Mädchen skeptisch.

Amanda kalkulierte das karmische Gewicht dessen, was sie vorhatte, und beschloss, in jedem Falle weiterzumachen. »Sag allen, das Moonburst ist bis auf weiteres geschlossen.«

Dann machte sie drei große Schritte bis zum Bordstein und warf Benjis Schlüssel in den Gully.