Kapitel 2
Amanda genügte ein Blick auf Clarissa und sie wusste: Das war ihre Retterin. Das Gesicht der Blondine hatte die Form eines Katzenkopfes, und wenn sie sprach, schien sie zu schnurren. Amanda hatte einmal gelesen, dass Katzen in der Lage waren, Verbindungen von der Erde zur Astralebene herzustellen. Sie brachten Menschen angeblich mit überirdischen Kräften in Kontakt und fungierten als Führer. Clarissa war natürlich ein Mensch. Aber ihre bemerkenswerten Katzeneigenschaften sandten Wellen der Energie aus, die nur Amanda, da sie sensibel genug war, richtig zu schätzen wusste.
Sie wandte sich an Clarissa. »Sind wir uns schon mal begegnet?«
»Nicht in diesem Leben«, entgegnete die Katzenlady. Perfekte Antwort! Amanda schenkte ihrer Schwester ein verträumt-seliges Lächeln. Frank musste es doch auch spüren: Clarissa, mysteriös und offen zugleich, würde ihr Leben für immer verändern.
Frank sagte zu Clarissa: »Klar kannst du dem Ganzen einen neuen Anstrich verpassen. Aber ein Geschäft ist eine komplexe Angelegenheit, selbst wenn es klein ist.«
Clarissas glänzende Lippen formten sich zu einem Lächeln. Während sie redete, drehte sie ständig den Kopf hin und her, um den Blickkontakt mit beiden Schwestern zu halten. Sie spielte mit ihren Eitelkeiten und achtete darauf, dass beide mit voller Aufmerksamkeit an ihren getuschten Wimpern hingen. Zu Frank gewandt sagte sie: »Ich kann mir vorstellen, wie schwer es sein muss, ein Geschäft zu führen. Und genau dafür brauche ich dich. Ich spüre, dass du bei unserem Unternehmen die praktisch Denkende bist. Wir können doch zusammenarbeiten, Schulter an Schulter. Ich kann viel von dir lernen, und ich bin davon überzeugt, dass auch ich einige Ideen für dich habe.«
Und zu Amanda sagte sie: »Und du bist das Herz. Durch die Wärme, die du ausstrahlst, bleibt das Café ein gemütlicher, netter Ort. Wenn die Gäste dein strahlendes Gesicht hinter der Kasse erblicken, zahlen sie gerne.«
Zu Frank: »Im Augenblick geben die Gäste hier freilich nicht so viel Geld aus. Aber das wird sich ändern. Zuerst müssen wir sie durch diese Türen da hereinlotsen, aber dann wissen sie von selbst, wo sie ihr Budget für den Kaffee lassen.«
Zu Amanda: »Es wird klappen, wir müssen nur an einen Neubeginn glauben. Die Seele des Raumes muss erblühen.«
Zu Frank: »Als Erstes sollten wir einen konkreten Plan entwickeln.«
Zu Amanda: »Der erste Schritt führt nach draußen. Wir müssen die Leute erreichen. Wen wollt ihr erreichen? Wer ist die Zielgruppe?«
Amanda war mit ihrem Blick dem Hin und Her von Clarissas Kopfbewegungen gefolgt. Es erinnerte sie an die Zeit, als sie zu den U. S. Open in Flushing Meadows gefahren war. Die Tickets hatte sie von ihrem ehemaligen Chef erhalten, einem 64 Jahre alten Mann, für den sie wie eine Enkelin gewesen war. Sie nahm ihren damaligen Freund mit. Erst schauten sie zu, wie Pete Sampras irgendeinen Italiener vom Platz fegte, und dann vergnügten sie sich während des Damendoppels unter der Zuschauertribüne miteinander. Als der alte Mann in Rente ging, versiegte der Ticketstrom. Ihr nächster Chef, eine sehr junge Frau, die Tochter von irgendjemand Wichtigem, erwies sich als ausgesprochen feindselig. Sie verabscheute es, wie Amanda im Privatleben ihrer Kunden herumstocherte und für alles und jedes — angefangen bei unglücklichen Ehen bis hin zu Liebeshändeln — einen guten Rat parat hatte. Amanda vertrat die Ansicht, die Bezeichnung »Persönliche Verkaufsberaterin« beinhalte mehr als nur einfache An- und Auskleidehilfe. Bestimmt wurde ihre Chefin von jemandem unterdrückt — Amanda meinte das so stark zu fühlen, dass sie davon fast Zustände bekam — , und deshalb erwartete sie von ihren Angestellten, dass sie als schweigende, Wunder vollbringende Arbeiter nur mit Hilfe der Mode mühelos pummelige Ladys in geschmeidige Schwäne verwandelten. Etwas Passendes zu finden, das der ganzen Seele schmeichelte, gehörte nicht zu Amandas Job. Wenn sie durch den Tod ihrer Eltern nicht gezwungen gewesen wäre, Bloomingdale’s für Barney Greenfield’s zu verlassen, wäre sie binnen eines Jahres sowieso hinausgeflogen. Mit anderen Frauen auszukommen war ihr noch nie leicht gefallen. Es war ihr etwas peinlich, aber sie war davon überzeugt: Schuld daran war ihr Aussehen.
»Ideal wäre es«, meinte Frank, »wenn wir Kaffee-Liebhaber ansprechen könnten. Ich verbringe so viel Zeit und Energie damit, den besten Bohnen der Welt nachzujagen. Da wäre ich schon gerne von Leuten umgeben, die Qualität zu schätzen wissen. Aber ansonsten bin ich eigentlich mit jedem Kunden zufrieden, der etwas Kleingeld einstecken hat.«
Warum nahm ihre Schwester den Mund so voll?, dachte Amanda und sagte: »Die meisten unserer Gäste sind Frauen, die sich ungestört irgendwo hinsetzen und nachdenken wollen. Es wäre prima, wenn sie lieber unseren Kaffee als den von Moonburst trinken würden. Aber ob sie ihn tatsächlich lieber trinken, weiß ich nicht genau.«
»Das sollten sie aber! Moonburst-Kaffee ist überröstetes Abwaschwasser«, ereiferte sich Frank.
»Kaffee ist Kaffee«, bemerkte Clarissa.
Es folgte ein tadelndes Schweigen. Amanda betete, Clarissa hätte aus Unwissenheit gesprochen und nicht aus Gleichgültigkeit, denn für eine Greenfield war eine Kaffeebohne, obwohl so klein, keine unbedeutende Sache. Der Kaffee selbst, das flüssige Finale nach Jahrhunderten von Ernten und verschiedenen Witterungen, war heilig. Jeder Familienurlaub, zu dem sie aufgebrochen waren, hatte sie in ein Kaffee produzierendes Land am Äquator geführt. In ihrer frühesten Kindheitserinnerung sah sich Amanda auf den sonnenverbrannten Bergen von Guatemala von Frank durch die knorrigen Kaffeesträucher gejagt. Als Kind war ihre Lieblings-Gutenachtgeschichte die von Kaldi gewesen, einem alten abessinischen Ziegenhirten. Seine Herde hatte sich mit den roten Beeren der weiß blühenden Gebirgsbäume voll gefressen. Nach der Legende stellten sich die Ziegen, die mit Früchten und unwahrscheinlich viel Koffein voll gestopft waren, auf ihre Hinterfüße und tanzten um das arabische Weideland. Daraufhin kaute jeder arabische Ziegenhirte, der sich zudröhnen wollte, Kaffeebeeren. Die Schwestern hatten nie Schäfchen gezählt, sondern tanzende Ziegen. Und durch die Adern der Greenfields floss Kaffee. Frank war auf dem Gebiet ein Genie. Sie hatte das Zeug zu einer Feinschmeckerin, Amanda dagegen war eher eine fein ausgebildete Schlemmerin.
»Kaffee ist Kaffee?«, platzte Frank heraus. Amanda fühlte, dass Frank angespannt war wie ein Gummiband vor dem Zerreißen. Sie wartete entsetzt auf den Knall.
Clarissa erklärte: »Betrachtet mich als typische Verbraucherin. Ich bin wie jede andere Kundin. Kaffee dient der Koffeinzufuhr, und wenn er gut schmeckt, ist das umso besser. Ich denke, das Moonburst ist super. Der Kaffee schmeckt dort besser als im Maxwell House. Und das Folgers kann ihm nicht das Wasser reichen. Wenn ihr mehr Gäste hereinlocken wollt, müsst ihr euch auf Leute wie mich einstellen. Qualität ist eben nicht alles.«
»Ist das deine persönliche Überzeugung oder befinden wir uns noch in einer Marketing-Übung?«, wollte Frank wissen.
»Der Übung zuliebe sehe ich Kaffee so«, erklärte Clarissa. »Ein Getränk zu verehren finde ich recht preziös.«
»So, und warum bist du dann überhaupt hier hereingekommen?« Frank klang verletzt und beleidigt zugleich.
»Weil mir die Warteschlange nebenan zu lang war.«
»Wir möchten dem Moonburst keine Konkurrenz machen.« Amanda versuchte, die Spannung zu lösen. »Wir wollen uns nur über Wasser halten.«
»Um sich über Wasser zu halten, muss man konkurrenzfähig sein.« Clarissa stand auf. Sie begann, um den Tisch herumzulaufen. Amanda bemerkte, dass Clarissas Hose fachgerecht genau unterhalb des Knöchels gesäumt war.
»Ihr sagt, die meisten eurer Gäste sind Frauen?«, fragte Clarissa und warf einen kurzen Blick auf die beiden Chefinnen. Blonde Haarsträhnen verfingen sich an ihrem Revers, als sie sich umblickte, und blieben widerspenstig hängen. Amanda war drauf und dran, ihr die Haare aus der Jacke zu streichen, aber sie hielt sich zurück. Für solche Gesten waren sie nicht vertraut genug.
»Ist das wichtig?«, erkundigte sich Frank.
»Schritt eins eines jeden Marketing-Plans ist die Bestimmung des Gästestamms. Ich könnte eine Umfrage durchführen, aber — ohne euch zu beleidigen — aufgrund der Zahl unserer Stichprobensammlung wäre das Ergebnis statistisch betrachtet nicht aussagekräftig. Richten wir uns besser nach unseren Eindrücken. Nun, ich würde sagen, so wie die Sache aussieht, besteht euer Gästestamm aus einsamen, allein stehenden Damen von Brooklyn Heights, die die Zeit totschlagen wollen. Und das tun sie, indem sie Kaffee trinken, Kuchen essen und ein reiches Phantasieleben führen.«
»Hast du das alles aus diesen beiden Frauen abgeleitet?« Amanda deutete mit dem Kopf auf Lucy und die Leserin des Liebesromans. Sie hätte genauso gut Frank und mich meinen können, dachte sie.
»Beobachtung ist alles im Marketing«, erklärte Clarissa. »Es geht um das Image, um die Idee. Hat man erst einmal herausgefunden, an welche Zielgruppe man etwas verkauft und was diese will, kann man in einem nächsten Schritt seine Marke platzieren. Homogene Produkte — wie zum Beispiel Kaffee — tragen bestimmte Markenzeichen. Man setzt auf etwas Bestimmtes. Woran denkt ihr beispielsweise, wenn ihr Ivory Soap hört?«
»Kaffee ist nicht homogen«, widersprach Frank.
»Ivory Soap ist rein«, antwortete Amanda.
»Bounty?«
»Stark.«
»Charmin?«
»Mild.«
»Moonburst?«
»Gift.« Das war Frank.
Clarissa fuhr fort: »Moonbursts Markenzeichen ist die Qualität. Der Verkauf von erstklassiger Ware — starker, guter Kaffee für Erwachsene. Es tut mir Leid, das sagen zu müssen, aber dieses Markenzeichen ist durch sie bereits besetzt.«
»Das klingt unangenehm«, bemerkte Frank. »Abgesehen davon, dass Moonburst keinen qualitativ wertvollen Kaffee vertreibt. Es ist McCoffee. Die Bohnen werden alle einheitlich in riesigen Fabriken geröstet, ohne Rücksicht auf die jeweilige Ernte, und anschließend liegen sie wer weiß wie lange in Lagerhäusern herum. Jedes Gourmet-Café der Welt verwendet Arabica-Bohnen. Und erst ihre Mischungen! Sie ziehen eine Hawaii-Bohne durch ein Fünfzig-Pfund-Fass Kolumbia und nennen das dann Kona-Mischung! Menschenskinder, sie lassen Haselnuss-Sirup zu! « Frank musste Atem schöpfen.
»Die Kunden, die McCoffee trinken, kennen den Unterschied nicht. Sie wollen einfach einen starken Kaffee, heiß und voller Koffein. Und den bekommen sie im Moonburst«, erwiderte Clarissa.
»Etwas Erziehung wäre hier sehr angebracht«, entgegnete Frank. »Je länger man eine Bohne röstet, desto mehr Koffein verliert sie. Moonburst-Kaffee schmeckt vielleicht kräftig, aber er hat lange nicht den Koffein-Gehalt einer milderen Arabica-Röstung. Außerdem«, fuhr Frank fort, »erzielen Arabica-Bohnen nur halb so viel Koffeingehalt wie Robusta-Bohnen. Die Supermarkt-Mischungen wie Maxwell House schmecken, wenn man Glück hat, vielleicht sogar nach den Sträuchern, an denen die Bohnen gewachsen sind, aber für die reine Koffeinzufuhr sind sie immer noch besser als Moonburst-Kaffee. «
Clarissa nickte Frank zu. »Okay. Gut zu wissen.« Dann wandte sie sich an Amanda. »Wir müssen uns noch überlegen, auf was wir setzen wollen.«
»Da finde ich es schon interessanter, auf wen ich mich setze«, entgegnete Amanda. »Aber es ist schon so lange her, ich kann mich kaum mehr erinnern.«
»Seid ihr zwei Singles?«, fragte Clarissa.
»Du bestimmt nicht«, gab Amanda zurück.
»Glaubst du?«, antwortete Clarissa.
Amanda wollte gerade zu einer Tirade über ihren leidigen Single-Status ansetzen, ein sicherer Weg, auf Anhieb Freunde zu finden. Aber sie fühlte regelrecht, wie Frank vor Verlegenheit rot wurde. Frank hasste es, über Verabredungen zu sprechen. Sie wischte das Thema stets mit einem »Nicht mein Ding« vom Tisch. Aus einem Grund, der sich Amanda nicht erschloss, reagierte Frank unglaublich empfindlich, wenn es darum ging, wie begehrenswert sie war. Zu Unrecht, denn Frank war hinreißend. Sie war immer beeindruckend schlank gewesen, hatte dichtes schwarzes, absolut glattes Haar. Amanda erinnerte sich nicht, dass Frank je Hautprobleme gehabt oder eine Kosmetikbehandlung nötig gehabt hätte. Sie versuchte ihrer älteren Schwester telepathisch eine Botschaft zu schicken: Entspann dich. Frank würde ein strenges Urteil nicht so fürchten, wenn sie sich selbst nicht so hart beurteilen würde.
»Bin ich da in ein Fettnäpfchen getreten?«, erkundigte sich Clarissa. Sie sah, wie die Schwestern einen langen Blick austauschten und sich dann nervös abwandten. »Bin ich zu neugierig?«, fragte sie Amanda.
»Nein, keineswegs. Frank ist nur etwas unsicher Männern gegenüber«, erklärte Amanda. Frank ärgerte sich, an ihrer schwachen Stelle getroffen worden zu sein, aber ihre geschwätzige jüngere Schwester dachte nicht daran, ein schlechtes Gewissen zu haben. »Wir müssen uns öffnen, über unsere Ängste reden und sie durchlüften. Denkst du nicht auch so, Clarissa?«
»Klar. Sich frei zu äußern ist der Schlüssel zum Glück.«
Amanda fragte sich, ob Clarissa etwa noch intuitiver war als sie selbst. »Wenn unser Markenzeichen also auch Qualität ist, brauchen wir zusätzlich einen Gag.« Sie grübelte. »Was wollen Frauen?«
»Lang- oder kurzfristig?«, fragte Frank nach.
»Wir reden nicht über eine Investment-Strategie«, gab Clarissa zu bedenken.
»Ach, nicht?«, sagte Amanda. Clarissa lachte schallend auf. Es war ein widerhallender Ton, als wäre die blonde Frau innen hohl. Amanda wagte noch einen Vorstoß: »Frauen wollen glücklich sein. Liebe, Sicherheit, Leidenschaft, Freiheit. Spirituelle Erleuchtung. Ihre Ängste vergessen, wie Tod, Krankheit und Armut.«
»Na also, jetzt redest du ja.«
»Das ist aber auch alles«, unterbrach Frank. »Wenn jemand aufhören will, über Armut nachzudenken, ist das hier wohl der letzte Ort, wo er hingeht.«
»Der Teil mit der Liebe hat mich fasziniert«, sagte Clarissa. Sie versank tief in Gedanken. Dabei kniff sie sich derart in die Wangen, dass sie ganz rosa wurden. Amanda fragte sich, ob sie nicht versehentlich in meditative Trance gefallen war. »Ein Wettbewerb!«, schrie sie plötzlich. »Die meisten eurer Gäste sind Frauen, richtig? Und« — Clarissa beugte sich vor und flüsterte — »wenn sie so fett und hässlich sind wie diese beiden da, dann verwandeln wir diesen Schuppen in eine Goldmine.«
Amanda hörte nur das Wort Schuppen. Mag sein, die Backsteine bröckelten. Mag sein, der Gummibelag unter den Tischen war dreißig Jahre alt. Und beinahe alle Tassen hatten einen Sprung. Aber dies hier war kein Schuppen. Barney Greenfield’s war ihr Erbe. Amanda fühlte Ärger in sich aufsteigen. Sie entspannte sich, atmete einige Male tief ein und stellte sich vor, wie sich Wellen an einer Küstenlinie brachen. Sie wollte um jeden Preis negative, an der Seele nagende Gefühle vermeiden. Allmählich beruhigte sie sich und wartete darauf, dass Frank den Familienstolz rettete.
»Ah ja, Goldmine? Red weiter«, sagte Frank. Amanda betrachtete ihre Schwester fassungslos.
»Wettbewerbe sind ein Beispiel für einen Marketing-Appetizer«, erklärte Clarissa. »Sie kosten nicht viel. Denn wenn ich die Sache richtig einschätze, verfügt ihr nicht über allzu viel Bargeld. Das bräuchtet ihr nämlich, um eine aggressive Verkaufsstrategie für ein Produkt-Mailing zu finanzieren.«
»Ich verstehe nur nicht, wie du von Liebe auf Wettbewerb kommst«, warf Frank ein. »Ein Wettbewerb mit der Liebe als Preis? Da verkaufen wir ihnen wirklich einen >Appetizer<. Auf jeden Fall verkaufen wir sie für dumm.«
»Jetzt hör doch erst einmal zu«, redete Clarissa weiter. »Was wollen Frauen? Männer. Um hier mehr Frauen hereinzulotsen, müssen wir erst einmal Männer anlocken. Und zwar nicht irgendwelche Männer, sondern superattraktive, große, athletische Männer mit Waschbrettbauch und Haaren auf dem Kopf. Wir müssen den Frauen garantieren, dass das Café ein unerschöpfliches Reservoir an interessanten, jungen Kerlen bietet, die alle zu haben sind. Dann fallen sie in Scharen hier ein. Und um Männer anzulocken, müssen wir etwas bieten, was die wollen.«
»Sex!«, rief Amanda. Männer wollten Sex, das wusste sie sicher.
Clarissa nickte. »Nur ist das leider illegal. Die Männer, die wir suchen, können sowieso Sex haben, wann und wo sie wollen.«
»Nach meiner — wenngleich begrenzten — Erfahrung«, mischte sich Frank ein, »mögen Männer das scheinbare Desinteresse einer Frau, Fußball, Freiraum, die Three Stooges, Dick & Doof, lange, laute Gitarrensoli, Rülpsen und Furzen nach Lust und Laune, Einschlafen vor dem Fernseher, ihre Mütter, Arbeit an Wochenenden, sich darüber beschweren, an Wochenenden arbeiten zu müssen, und Sex mit mehr als einer Frau zur gleichen Zeit und das dann abstreiten.«
»Männer lieben das Geheimnisvolle und Faszinierende«, ergänzte Amanda. »Sie wollen verführt werden. Sie suchen die Gefahr und die Aussicht auf etwas Neues, Aufregendes. Und wenn man mit ihnen ausgeht, kommt man am besten im kurzen Rock und ohne Unterwäsche.«
»Ich hatte mehr in Richtung Gratiskaffee gedacht«, sagte Clarissa. »Man müsste zwei männliche Schwächen verbinden: heiße Getränke und etwas Kostenloses.«
»Männer protzen doch auch gern vor ihren Kumpels«, fügte Amanda hinzu. »Wenn ein Typ einen Freund mitbringt, bekommt er einen Muffin gratis als Bonus.«
»Großartig!«, rief Clarissa. »Brillant!«
Amanda genoss das Lob. »Das ist mir gerade so eingefallen.«
»Ja, lasst uns so weitermachen«, fuhr Clarissa fort. »Soll doch der Freund auch noch Gratiskaffee erhalten. Zehn Freunde. Je mehr Typen, desto besser. Um die Sache ins Rollen zu bringen, verteilen wir Flugblätter — neue Flugblätter. Außerdem setzen wir ein Inserat in die Zeitung. Wir brauchen Bewerber.«
»Bewerber wofür?« Frank war verwirrt.
»Wir veranstalten jede Woche einen Wettbewerb«, erklärte Clarissa. »Der Mann, der am besten aussieht, bekommt eine Woche lang Kaffee gratis samt seinen ebenso heißen Single-Kumpels. Die Kandidaten müssen bestimmte physische Anforderungen erfüllen. Den Gewinner nennen wir Mr Barney Greenfield.«
»Wie unser Großvater?«, fragte Amanda.
»Hm. Klingt nicht sehr sexy. Mr Coffee of the Week!«, schlug Clarissa vor. »Und wenn wir schon dabei sind, wir müssen den Namen des Cafés ändern. Barney Greenfield’s klingt nicht sehr nach Sex.« Amanda durchzuckte es: ihr Großvater und ihre Großmutter beim Sex — der Nachttisch vibrierend von den Erschütterungen des Bettes.
»Seit fast fünfzig Jahren heißt das Café jetzt Barney Greenfield’s«, sagte Frank.
»Wandel bedeutet Wachstum«, bemerkte Amanda und freute sich über Clarissas begeistertes Kopfnicken.
Frank lehnte sich zurück. Sie ging in die Defensive. »Du willst also auch, dass der Laden nach Sex klingt?«, wollte sie von ihrer Schwester wissen. »Habt ihr euch gegen mich verschworen?«
»Erst müssen wir über die Möglichkeiten nachdenken, bevor wir sie verwerfen«, beschwichtigte Clarissa.
»Der Name soll also nach Sex klingen?«, fragte Frank. »Dann können wir den Laden ja Sexpresso nennen.«
»Oder wie wäre es mit Café Quicky?«, schlug Amanda vor.
»Feucht und heiß?«, hielt Frank dagegen.
Amanda: »Javagina?«
Frank: »Kaffee-Ständchen?«
Amanda: »Café Französisch?«
Frank: »Starfucks?«
Die Schwestern kicherten über ihre Schlagfertigkeit.
Clarissa lachte höflich und hob schließlich die Hand: »Der Name sollte etwas romantischer klingen, finde ich. Poetischer. Ein Name, der die Gäste in ein altmodisches, verschwommenes Märchenland versetzt. Wie wäre es mit Café Love?«
»Romancing the Bean?«, warf Amanda ein.
Alle schwiegen. Romancing the Bean. Frank nickte freundlich.
»Das ist es!«, rief Clarissa. »Als du Romancing the Bean gesagt hast, ist mir ein Schauer über den Rücken gelaufen. Hast du schon einmal daran gedacht, Schriftstellerin zu werden?«
»Frank ist die Schriftstellerin.« Amanda fächelte die Idee weg wie Rauch, doch das Kompliment hatte sie entzückt. »Was meinst du, Frank? Romancing the Bean? Nicht zu ordinär. Nicht zu plüschig.«
Clarissa und Amanda sahen Frank an, die mit sich kämpfte. Sie hatte nie zu denen gehört, die schnell auf irgendeinen Zug aufsprangen. Und würde wahrscheinlich auch nie dazugehören. Schließlich verkündete sie: »Doch, der Name gefällt mir.«
Clarissa stand auf. »Heißt das, ich bin engagiert?«
Amanda nickte zustimmend und Frank warf ein: »Über dein Honorar...«
»Ich habe doch schon gesagt, dass ich es auf eigene Kosten mache. Aber die Oberaufsicht habe ich.«
»Ich dachte, wir machen Teamwork«, sagte Frank. »Hast du nicht von >Schulter an Schulter< gesprochen?«
»Nennen wir es doch einfach >gut informiert zusammenarbeiten<«, schlug Clarissa vor.
»Nenn es, wie du willst«, sagte Amanda. »Ich bin jedenfalls völlig hingerissen, dass du hier bist!«
»Und ich bin hingerissen, dass ihr hingerissen seid.« Clarissa trank ihren Sumatra-Kaffee aus. »Ich muss jetzt gehen. Die Vorlesung fängt gleich an. Und macht euch um eine neue Außendekoration keine Sorgen. Ich kümmere mich darum. Ihr könnt mich immer noch ausbezahlen, wenn das Geschäft aufblüht — oder sollte ich besser sagen aufbrüht?« Sie blickte auf die Uhr. »Warum machst du«, sie deutete auf Amanda, »inzwischen nicht einen Entwurf für das Flugblatt und das Wettbewerbsinserat? Wir müssen die Lokalzeitung dazu bringen, das Inserat kostenlos zu schalten. Und denk an ein Plakat für das Schaufenster.« Dann hängte sie sich ihre Tasche — von Kate Spade — um und verschwand, ohne sich noch einmal umzuschauen. Um ein Haar hätte Amanda ihr nachgerufen, denn sie hatten nicht einmal ihre Telefonnummer. Und Clarissa hatte sich auch nicht nach der ihren erkundigt.
»Wahrscheinlich wohnt sie hier in der Nähe. Und wo sie uns findet, weiß sie ja«, gab Frank zu bedenken. »Wie lautete gleich ihr Nachname? O’McFlayertyO’Leary?«
Amanda erinnerte sich auch nicht mehr. Viel mehr beschäftigte sie, dass immer noch ein winziger disharmonischer Laut in der Luft hing. »Du bist nicht überzeugt«, sagte sie zu ihrer Schwester.
»Der Wettbewerb ist vulgäre Effekthascherei«, antwortete Frank.
Amanda nickte. »Ich wette, sie ist Löwe.«
»Javagina. Der war gut, Amanda«, sagte Frank.
»Sexpresso — das war genial.«
Frank wischte geistesabwesend mit einem Lappen über die Theke. »Mal ehrlich — und ohne rosarote Brille — , glaubst du, das alles ist einen Schuss Pulver wert? Können wir uns ruhig und entspannt auf die Sache einlassen? Oder erleben wir die größte Schande unseres Lebens?«
»Sie ist wild entschlossen, ihr Bestes zu geben. Kann es da schief gehen?«, fragte Amanda rhetorisch.
»Hm«, machte Frank. »Werfen wir doch ein paar Pennys.«
Amanda tat nichts lieber als das. Aber sie wunderte sich, dass der Vorschlag von Frank kam. Ihrer Meinung nach war das I Ging Mist. Amanda holte schnell die Pennys. Es waren dieselben, die sie geworfen hatte, bevor Clarissa in ihr Leben trat. Sie hielt sie einen Augenblick behutsam fest, dann streckte sie die Hand aus. »Du wirfst. Wenn irgendwo Yin auftaucht, wird alles gut.«
»Ich habe immer Yin«, bemerkte Frank.
»Du hast nie Yin, du bringst alles durcheinander. Yin ist die Rückseite, die Zahlseite, und steht für Offenheit, Flexibilität. Du bist die Yang-Königin: streng und unflexibel. Die meisten Leute haben in ihrem Leben ein gesundes Gleichgewicht von Yin und Yang. Du hast nur Yang. Nur Kopf.« Amanda dagegen konzentrierte sich im Leben eher auf die Rückseite.
»Soll das heißen, ich bin nicht gesund?«, wollte Frank wissen.
»Du bist nicht ausgeglichen«, antwortete Amanda. »Eine Münze mit nur einer Seite.«
»Flachbrüstig, aber kopflastig«, sagte Frank.
»Ich habe nie von flachbrüstig geredet«, entgegnete Amanda. »Aber jetzt, wo du es sagst...«
»Los, gib mir die Pennys.« Frank nahm die Münzen und schloss die Augen.
»Stell eine Frage.«
»Steuern wir auf eine weitere Pleite in unserem unglückseligen Leben zu? Kommt eine weitere Demütigung hinzu, zu all den anderen? Werden wir durch diese verzweifelte Tat gerettet? Oder blamieren wir uns nur?«
Frank schüttelte die Münzen in ihrer Hand, während Amanda zu einem Singsang anhob: »Atme. Ein. Aus. Sieh die Wellen am Strand. Die Sonne, wie sie auf- und untergeht. Der Mond. Die Sterne.«
»Halt doch den Mund!«, befahl Frank.
Amanda schwieg und trat einen Schritt zurück. Sie atmete gleichmäßig ein und aus, während Frank die Pennys schüttelte. Das I Ging war ihre Geheimwaffe, ihre Art, den Instinkt zu überprüfen. Oder ihre Zweifel zu verstärken. Es schärfte ihre Intuition, führte sie auf den einen oder den anderen Weg. Amanda glaubte in der Regel nicht daran, dass es möglich war, in die Zukunft zu sehen. Der freie Wille warf manchmal selbst die besten übersinnlichen Vorhersagen über den Haufen. Aber sie glaubte fest an ein glückliches Dasein nach dem Leben — für gute Leute. Nach dem I Ging gab es keinen Tod. Es erfolgte nur eine Umwandlung der kontinuierlichen und unvergänglichen Energie. Amanda behielt diese Vorstellungen für sich. Sie hatte erkannt, dass die meisten Leute ihre Weitsicht als unrealistisch abqualifizierten. Und Frank fand ihre Theorien naiv und strotzend vor Wunschdenken. Zwar hatte Frank ein Recht, so zu denken, aber enttäuscht war Amanda deswegen trotzdem.
Frank schüttelte die Münzen in ihrer Hand hin und her, als spielte sie mit Würfeln. Dann warf sie sie auf den Tresen. Sie rollten, drehten sich und blieben schließlich auf einer Seite liegen. Frank legte sie in eine Reihe und Amanda holte ihre I-Ging-Taschentabelle. Wie gewöhnlich hatte Frank fast ausschließlich Kopf — oder Yang — geworfen. Nur die unterste Münze zeigte eine Zahl. Die Trigramme — die oberen drei und die unteren drei Münzen — ergaben Himmel über Baum. Amanda schaute in ihrer Tabelle nach. Fast hätte sie laut aufgeschrien. Die Konstellation ließ Dutzende von Deutungen zu, aber keine einzige davon war gut. Amanda entschied sich dafür: Stabile, solide Bäume ächzen unter wehenden Winden aus verschiedener Richtung. Der Himmel wird den Boden mit Sturm peitschen.
Die jüngere Schwester kämpfte damit, ihre Stirn unter Kontrolle zu bringen, denn Frank durfte die Wahrheit nicht erfahren. Sie war pessimistisch genug und hatte zusätzliche negative Verstärkung nicht nötig. Amanda erinnerte sich, dass der freie Wille jeden Wurf zu entkräften vermochte. Unterdessen sah Frank sie erwartungsvoll an und wartete auf eine Erklärung. Von den 64 Möglichkeiten war diese Konstellation eine der bedrohlichsten. Amanda lächelte breit wie ein Honigkuchenpferd. Da Frank die Last der Wahrheit nicht zuzumuten war, log sie: »Wenn die Interpretation ein Hinweis sein soll, dann wird schon alles gut gehen.«
Anscheinend gab sich Frank damit zufrieden, bemerkte aber: »Es ist trotzdem Mist.«
Zum ersten Mal hoffte Amanda, dass Frank Recht hatte.