Kapitel 9
Der laute Knall hatte so viel Ähnlichkeit mit einem Schuss aus einer Handfeuerwaffe, dass sich die Gäste unter die Tische flüchteten. Frank hingegen fiel nicht darauf herein. Sie hatte ihr Leben lang in Brooklyn gelebt, nur eine Meile entfernt von Cobble Hill, der italienischen Enklave, die berühmt-berüchtigt für die Tonnen von Leuchtraketen war, die man dort am 4. Juli in die Luft jagte — verbunden mit der höchsten Fingerverlustquote in der ganzen Stadt. Sie erkannte einen Knallkörper am Geräusch.
Als der Feuerwerkskörper draußen auf dem Gehsteig explodierte, gingen alle in Deckung außer Frank und Matt. Frank war stolz, dass kein Meter freie Fläche mehr zu sehen war.
Einmal in ihrem Leben — damals, auf dem College, für etwa fünf Minuten — hatte sie erlebt, wie aufgestaute Aggression in willkürliche Gewalt überging: anonyme Anrufe, Vandalismus, Feuerwerkskörper. Aber jeglicher Rest Rücksichtslosigkeit in ihr war zusammen mit ihren Eltern gestorben. Oder vielleicht auch zusammen mit ihrer Jungfräulichkeit. Der Vorfall damals war so tragisch, chaotisch und trostlos gewesen, dass ihr jede Art von Rücksichtslosigkeit für immer fremd wurde.
Matt holte Frank wieder in die Realität zurück. »He, Leute! Es ist alles in Ordnung! Keiner hat eine Bombe auf das Café geschmissen!«
Eine Frau in einem Overall und einer Strickjacke mit Zopfmuster rappelte sich wieder auf. »Was war das?«, fragte sie nervös.
»Nur ein Knallkörper«, beruhigte Matt die Anwesenden. »Keine Angst!« Dann fragte er Frank: »Gratiskaffee für die am Boden zerstörten Massen?«
»Gute Idee«, antwortete sie. »Aber gib ihnen Kolumbia.« Wer tat so etwas? Es hätte jemand verletzt werden können, dachte Frank. Sie vermutete, dass ein Kind dahinter steckte, das ihnen einen Streich spielen wollte.
»Wahrscheinlich war es Benji Morton vom Moonburst aus Neid, dass wir ihm seine Gäste abspenstig machen«, sagte Clarissa und klopfte sich den Staub von der Hose. Auch sie hatte sich in den Dreck geschmissen, als der Feuerwerkskörper explodiert war.
Matt schüttelte den Kopf. »Benji Morton war es nicht.«
»Woher willst du das wissen?«, fragte Frank.
»Der würde es nie fertig bringen, eine Zündschnur anzuzünden«, antwortete er.
»So viel Mut gehört nun auch wieder nicht dazu, um kleine Knallkörper loszulassen«, meinte Frank.
Matt schüttelte den Kopf. »Nicht, um sie loszulassen. Er hätte viel zu viel Angst, gegen die Regeln zu verstoßen und geschnappt zu werden. Sein Rückgrat ist aus Butter, in seinem ganzen schwammigen Körper ist nichts, was einem Risiko standhalten würde. Woher ich das weiß? Ist er nicht der Manager des Moonburst? Das ist im Augenblick der am wenigsten riskante Job auf der ganzen Welt, oder nicht? Dieser Mann wird sein ganzes Leben lang ruhig und in Sicherheit dahinvegetieren, bis er eines Morgens mit neunzig aufwacht und sich fragt, wie er all die Jahre so vergeuden konnte, indem er nichts tat, nichts ausprobierte, nichts darstellte.«
»Okay«, sagte Frank. »Ich schenke jetzt eine Runde frischen Kaffee aus.«
»Gut zu wissen, Matt. Danke«, sagte Clarissa. »Oh, Francesca, leihst du mir mal kurz dein Ohr?«
»Klar, such dir eines aus«, antwortete Frank und bereute sofort ihren Sarkasmus. »Tut mir Leid, Clarissa. Was gibt es?« Sie fürchtete sich vor dem, was die Blondine zu sagen hatte. Immerhin war es praktisch zu Handgreiflichkeiten gekommen. Gut, vielleicht nicht direkt zu Handgreiflichkeiten, aber böse Worte waren gefallen. Vielleicht nicht direkt böse Worte, aber sie waren immerhin so hart, dass Frank sich vorkam, als hätte sie jegliche Chance für eine Freundschaft mit diesem Wesen verspielt.
Clarissa räusperte sich. »Du, ich fühle mich schauderhaft, seitdem das vorhin passiert ist. Ich hätte dir meine Ziele deutlicher machen sollen. Ich habe einfach das getan, wovon ich dachte, dass es helfen würde. Ich gebe zu, dass meine Methoden extrem sind. Ich glaube, ich bin das Gegenteil von Benji Morton: Ich nehme gerne Risiken in Kauf. Aber ich brauche deine Anerkennung, Francesca. Du bist so schnell und intelligent. Du bist jemand, der beim Schachspiel fünf Züge vorausdenkt. Ich fürchte, du hältst mich für leichtsinnig. Hoffentlich tust du das nicht, denn ich will dir nur imponieren.« Clarissa schaute Frank mit großen feuchtblauen Augen an.
Franks Brust schwoll an vor Stolz, gleichzeitig rutschte ihr das Herz in die Hosentasche. »Ich versuche doch, dir zu imponieren«, sagte sie. »Du bist alles. Eine Luxusausgabe.« Und ich bin nichts, dachte Frank. Kleine Brüste und Bürstenhaare. Wozu sollte diese Walküre ihre Anerkennung benötigen?, fragte sie sich ehrfürchtig. Ihr war, als wenn das tollste Mädchen der Schule den Bücherwurm um Hilfe bittet. »Du machst deine Sache großartig«, sagte Frank. »Ich hoffe nicht, dass du es dir wegen meiner Unentschlossenheit anders überlegt hast.«
»Bin ich erleichtert!«, erwiderte Clarissa mit einem einnehmenden Lächeln. »Ich fürchtete schon, ich hätte es mir ganz mit dir verdorben.«
Unschlüssig, wie sie sich verhalten sollte, legte Frank Clarissa die Hand auf die Schulter. Sie hatte tatsächlich ihren Arm ausgestreckt und sie berührt. Frank konnte ihre Dreistigkeit nicht fassen, aber die Lobeshymne hatte eine narkotisierende Wirkung. Unsicher tätschelte sie Clarissas Schulter und sagte: »Ich denke, wir sollten die Gäste beruhigen. Sie sehen immer noch recht mitgenommen aus.«
Clarissa legte ihre kalte, trockene Hand auf die von Frank. »Du hast Recht. Klar«, entgegnete sie. Und Frank fragte sich, ob Clarissa Amanda respektierte. Das war das Wichtigste, dachte Frank. Amanda sprach vielleicht Clarissas Jungmädchen-Seite an, aber Frank konnte vielleicht ein richtiger Freund werden. Sie lächelte Clarissa an und versuchte, ihr zu signalisieren, dass sie verstand: Amanda war nur ein Spielzeug.
Frank hatte sich wieder beruhigt und servierte frischen Kaffee. Währenddessen beschwichtigte Clarissa die Gäste und Matt wischte kleine Bäche von verschüttetem Kaffee auf. Auch Walter putzte über einige Tische und füllte die Serviettenbehälter nach. Als alle wieder auf ihren Plätzen saßen, bedankte sich Frank bei Matt und Clarissa. Walter erschien mit einigen mit Kaffee vollgesogenen Wischlappen bei Frank hinter der Kuchentheke. Sie deutete auf die kleine Spüle neben den Kaffeebehältern und sagte: »Aufwischen geht über deine Pflichten als Mr Coffee.«
»Kein Problem.« Er lächelte schüchtern.
»Nein, ehrlich. Ich möchte mich bei dir bedanken«, sagte sie, immer noch beflügelt durch Clarissa.
»Ist schon gut, Francesca.«
Frank musste ihn einfach fragen: »Abgesehen von deiner Beziehung zu Clarissa und deinem angeblich grenzenlosen Bedürfnis nach Feedback — sag, warum machst du das hier?«
Er wrang einen Lappen aus. »Was meinst du?«
»Wenn du ein großer J. Crew-Dressman bist, warum bist du dann an kostenlosem Kaffee interessiert? Hast du keine Engagements, keine Sitzung, kein Probeläufen? Wie auch immer das heißen mag, was ein Dressman so zu tun hat, warum tust du es nicht?«
»Sagen wir einfach, ich bin kein Fan von Amerikas Vereinheitlichung, zu der das Moonburst eine Menge beigetragen hat.«
»Ganz im Gegensatz zu J. Crew?«, fragte sie.
Er lachte. »Ich könnte schlimmer dran sein. Es könnte GAP sein. Außerdem ist J. Crew in erster Linie ein Versandgeschäft.«
»Ja, in unserem Block würden die wohl kaum ein Geschäft eröffnen.« Sie nickte. »Aber der Katalog kostet jährlich zwanzig Millionen Bäume das Leben. Und warum muss ich jeden Tag einen davon in der Post haben?«
Walter lachte — schon wieder. Er denkt, ich bin witzig, dachte Frank. Ja, witzig aussehen tue ich vielleicht. Kein gut aussehender Mann hatte ihr so viel Aufmerksamkeit geschenkt seit... Erinnerte sie sich überhaupt noch daran, wie lange das her war? Vielleicht war es Clarissas stillschweigender Anerkennung zu verdanken, dass alle Frank für unwiderstehlich hielten.
»Ich habe gesagt, ich hätte ein Problem mit der Vereinheitlichung, nicht mit der Abholzung von Wäldern.«
»Dann könnten also Tausende von Graueulen, die nicht wissen wohin, bei dir zu Hause einziehen?«
»Ehrlich gesagt ist mir das piepegal.« Er machte eine Pause, als wartete er auf ihr Lachen, doch sie hielt sich zurück. Dann fuhr er fort: »Ich habe noch nie so eine vergraulte Eule aus der Nähe gesehen, aber ich bin sicher, ihre Federn gäben eine gute Füllung für Steppjacken ab.« Erneut entstand eine Pause. »Mensch, bist du hart. Wenn du nicht wenigstens bei meinen Witzen lächelst, fange ich an zu heulen.«
»Ich lächele, wenn du etwas Lustiges sagst«, entgegnete sie. Er spülte seine Hände ab und Frank betrachtete sein Profil. Er hatte eine Knollennase. Das hasste sie bei einem Mann. Aber sie bewunderte die winzigen Poren seiner Haut und seine Koteletten — sie reichten fast bis an das markant geschnittene Kinn. Auch bemerkte sie positiv, dass er nicht diese seltsame, nach vorne geneigte, beinahe feminine Haltung hatte wie die meisten Dressmen.
Er tastete nach der Seife und sagte: »Eigentlich bin ich in den Wettbewerb hineingerutscht, weil ich gesehen habe, dass jemand in Schwierigkeiten steckt und ich ihm gerne heraushelfen möchte.«
»Auf mich hat Clarissa am Anfang bestimmt keinen hilflosen Eindruck gemacht«, sagte Frank.
Walter beugte sich vor und holte sich ein trockenes Handtuch aus dem Regal. »Dir wollte ich helfen, Francesca«, erklärte er. »Ich mag dich. Ich habe dich vom ersten Tag an gemocht, als ich hier hereinschneite, um am Wettbewerb teilzunehmen. Du hast dich so an mir vorbeigedrängelt, als hättest du mich gar nicht wahrgenommen. Da schwor ich mir, mich bemerkbar zu machen, so wie ich dich bemerkt hatte.« Während er seine Unterarme trocken rieb, blickte er zu Frank hinunter, und sie spürte, wie ihr plötzlich sehr heiß wurde.
»Mein Gott, du bist so ernsthaft«, stellte Walter fest. »Es scheint so, als wären deine Züge alle miteinander gekoppelt, als würden sie sich gegenseitig halten. Ich wette, wenn du lachst, verändert sich dein ganzes Gesicht vollkommen. Tu es, Francesca. Ich möchte es sehen.«
Sirenen heulten, Lichter flammten auf.
Frank drehte sich zu den Fenstern des Cafés. Auf der Straße hielt ein Polizeiauto an, im nächsten Moment stürmten zwei Polizisten herein, die Pistolen im Anschlag, bereit, einzugreifen und das Café unter Kontrolle zu bringen. Sie bemerkten schnell, dass die zirka vierzig Frauen durch Gratiskaffee und Adrenalin schon derart aufgewühlt waren, dass sie keinen zusätzlichen Kick mehr brauchten. Noch bevor die beiden ihre Waffen wieder weggesteckt hatten, stürmte ein zerzauster Mann in einem abgetragenen, braunen, gürtellosen Trenchcoat in das Café und schoss mit einer 35-mm-Kamera hastig einige Fotos von den Polizisten, zum Teil mit Frank im Hintergrund.
Frank trat einen Schritt vor und sagte zu den Männern in Uniform: »Das ist mein Café. Was wollen Sie hier?« Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Matt die Polizisten giftig anvisierte. Aus seinem Blick sprach Misstrauen den Leuten gegenüber, die Gesetz und Autorität verkörperten.
»Da drüben, Officers!«, sagte der Mann im Trenchcoat. Frank und die Polizisten blickten in die angedeutete Richtung und wurden dabei sofort fotografiert.
Einer der Polizisten, mit ungefähr 198 Zentimetern der kleinere von beiden, erklärte: »Wir haben eine Meldung bekommen, dass hier Schüsse abgegeben worden sind.«
»Schüsse?«, fragte Frank. »Nein, nein. Irgendein Verrückter hat auf der Straße billige Knallkörper losgelassen. Verletzt wurde niemand.« Der Mann im Trenchcoat starrte Frank an, während sie redete, und sie spürte, wie seine Blicke ihr folgten, als sie mit den Polizisten nach draußen ging, um ihnen die Überbleibsel des Feuerwerkskörpers zu zeigen. Der zweite Polizist, ein Riese von zwei Metern, holte ein Klemmbrett aus der Ablage des Einsatzwagens und bat sie, ein Formular zu unterschreiben.
In diesem Moment kam Amanda die Straße entlanggerannt. Sie atmete schnell, als wäre sie von New Jersey hierher gesprintet. Frank beruhigte sie, dass nichts passiert sei und sie sich nicht aufzuregen brauche. Der kleinere Polizist erkannte Amanda, er hatte ihr Bild in der Zeitung gesehen und bat sie nun schmeichelnd um ein Autogramm. Offensichtlich wäre ihm ihre Telefonnummer lieber gewesen. Zwar trug er keinen Ehering, doch bei Polizisten wusste man nie.
Frank blieb nichts anderes übrig, als Amanda später über die Gefahren eines Rendezvous mit einem Polizisten aufzuklären. Sie ließ ihre Schwester stehen, denn sie hatte bemerkt, dass der Mann im Trenchcoat sie noch immer anstarrte, die Kamera im Anschlag. Sie lief wieder hinein, gefasst auf die trockene Heizungsluft, die ihr entgegenblasen würde.
Entschlossen ging Frank auf den Fotografen zu: »Sie haben schwarze Flecken an der Hand — wie von schwarzem Schießpulver. «
»Sehr gut beobachtet, Miss Marple.« Der gnomenhafte, zerzauste Mann rümpfte etwas die Nase und — klick — hatte er sie auch schon abgelichtet.
Frank staunte über seine Unverschämtheit. »Bitte gehen Sie«, forderte sie ihn auf. Dann überlegte sie einen Moment. »Wer sind Sie?«
»Ich heiße Piper Zorn«, erklärte er. Frank war sich sicher, dass sie den Mann noch nie in ihrem Leben gesehen hatte. Und ihr Gedächtnis war zuverlässig.
»Sagt Ihnen der Name nichts?«, fragte er ungeduldig.
»Sie sind der Journalist von der Post, der diese Lügengeschichte über meine Schwester zusammenphantasiert hat«, sagte Frank. »Ich kann nicht behaupten, ein Fan Ihrer Schreibkunst zu sein.«
»Piper!«, flötete Clarissa und schob sich zwischen Frank und den Mann im Trenchcoat. »Heute hatte ich dich gar nicht erwartet.« Clarissa und Piper Zorn umarmten sich. Seine Hand streifte ihr Hinterteil, doch sie schob sie beiseite. Ihre Augen wanderten zu Walter, der Bestellungen entgegennahm und Wechselgeld herausgab.
»Ich kümmere mich nur um die Fortsetzung. Das sollte doch keine einmalige Story werden.«
»Du bist so gut zu mir«, säuselte Clarissa. Frank staunte, wie dieser Mann ihr aus der Hand fraß. Obwohl sie sich damit einverstanden erklärt hatte, dass Clarissa tat, was sie für richtig hielt, war ihr immer noch unwohl, wenn sie an die Berichterstattung in diesem Revolverblatt dachte.
»Vielleicht können Sie in der morgigen Ausgabe berichten, was tatsächlich vorgefallen ist, anstatt alles als Sensation aufzublähen«, schlug Frank vor.
»Francesca«, fing Clarissa an, »ich dachte, wir hätten das besprochen.«
Piper Zorn unterbrach sie. »Gerade Sie wollen mir einen Vortrag über journalistische Standards halten?«, schnaubte er. »Ich brauche einige Fotos. Gehen Sie aus dem Weg.« Er stieß Frank zur Seite und lief auf einige aufgeregt wirkende Gäste zu. Einen Moment lang dachte Frank daran, ihn zu bremsen, aber ihr Instinkt sagte ihr, dass sie damit alles nur noch verschlimmern würde.
Die beiden Frauen folgten Piper mit ihren Blicken. »Als du gesagt hast, du könntest einen Journalisten aus dem Ärmel schütteln, hatte ich nicht gedacht, dass er da auch hineinpassen würde.«
»Klein bezieht sich aber nur auf seine Körpergröße«, versicherte Clarissa. »Piper ist ein erfahrener Journalist und Autor. Er hat, soweit ich weiß, einige Preise gewonnen.«
»Er ist verantwortlich für die Feuerwerkskörper vor dem Café und hat dann die Polizeistreife alarmiert«, bemerkte Frank. »Bist du wirklich sicher, dass er vertrauenswürdig ist?«
»Er würde nie etwas tun, was meine Pläne gefährdet«, sagte Clarissa. »Ich habe alles voll unter Kontrolle.«
Frank hatte zwar ihre Zweifel, aber sie wollte das neue Einvernehmen nicht aufs Spiel setzen. Ihr kam der Gedanke, dass Leute, die immer alles voll unter Kontrolle zu haben glaubten, wahrscheinlich sowieso nur einer Illusion nachjagten, sie selbst inklusive. »Bei Piper könnte man meinen, dass er ein Problem mit mir persönlich hat«, sagte sie.
»Das ist doch lächerlich«, entgegnete Clarissa. »Mag sein, er ist etwas seltsam, aber für uns ist er viel wert als erstklassiger Journalist der größten Tageszeitung der Stadt. Er hat bereitwillig über euer Café berichtet. Jeder Absatz in der Zeitung kommt einem teuer bezahlten Werbeinserat gleich. Das ist Gold wert, Francesca.«
Frank nickte. »Ich weiß, ja. Und ich weiß es auch zu schätzen. Aber er wirkt so feindselig.«
»Du bist paranoid.«
»Es ist keine Paranoia, wenn tatsächlich jemand hinter einem her ist.« Eine von Franks Lieblingsängsten war typisch für New Yorker: Sie geht spätnachts allein von der Subway nach Hause. Auf einer verlassenen Straße hört sie Schritte hinter sich, und noch bevor sie wegrennen oder um Hilfe rufen kann, wird sie von einem Vergewaltiger oder Mörder angegriffen. Es ist kein willkürlicher Gewaltakt. Nein. Der Irre hat es auf sie abgesehen, hat sie schon vor Monaten ausgesucht. Zum Beispiel wegen der Farbe ihrer Bluse — vielleicht tragen deshalb 95 Prozent der New Yorker Frauen immer schwarz. Vielleicht wegen ihres Gesichtsausdrucks, der sagte: »Ich bin leicht unzufrieden« — und für den Psychopathen eine Aufforderung zu enthalten schien wie: »Töte mich jetzt.« Frank fiel es schwer, Fremden zu trauen. Vor allem feindseligen umherschwirrenden Männern im Trenchcoat.
Sie zählte, wie es ihre Art war, einmal mehr die anwesenden Gäste. Der Auftritt der Polizisten hatte einige Passanten von der Straße hereingelockt. Die Menge um Piper wirkte aufgedreht. Am nächsten Morgen würde die Anti-Story von den losgelassenen Knallkörpern sicher zu einem riesigen Rassenkrawall aufgebläht worden sein. Frank sah, wie einige Damen sich Tassen und French-Press-Kaffeekannen aus dem Verkaufsregal holten. Sie ging zum Kassieren hinter die Kasse und fragte sich, warum die Artikel, die seit langem auf den Regalen vor sich hin staubten, auf einmal so heiß begehrt waren. Schließlich verstand sie: Die Leute wollten Souvenirs. Erinnerungsstücke von ihrem großen Tag am Ort des Geschehens. Vielleicht war an dem ganzen Reklame-Spektakel für das Café wirklich etwas dran.
Amanda war nirgends zu sehen. Die Polizisten saßen im Café und genossen Gratiskaffee als kleinen Willkommensgruß. Vermutlich hatte sich Amanda ins obere Stockwerk zurückgezogen, um sich für den Abend zurechtzumachen. Es war sonst nicht ihre Art, Trubel zu verpassen, aber — so vermutete Frank — dieser lange Tag hatte sie sicher sehr mitgenommen. Vor allem, wenn man bedachte, wie er begann: mit ihrem Begleiter tot auf einer Bahre. »Habt ihr Geschenkpapier zur Hand?«, fragte Walter neben Frank. »Diese Dame möchte ihre French-Press-Kanne als Geschenk verpackt haben.«
»Nein, leider nicht«, wandte sich Frank an die Kundin, die die Kanne bereits gekauft hatte und die Schachtel jetzt ohne Geschenkverpackung in ihre Tasche steckte. Frank musste es sich eingestehen: Solange Walter an ihrer Seite war, freute sie sich sogar, dass ihre Schwester nicht anwesend war.
Amanda zog nie absichtlich die Aufmerksamkeit von Männern in Franks Nähe auf sich. Trotzdem tat sie es, angefangen bei ihrem Vater, später bei den Jungs in der Schule und schließlich bei Eric, ihrem Exverlobten, der bei einem Treffen der Greenfield-Familie zu neuem Leben erwacht war.
Frank wunderte sich, dass Walter ihr überhaupt Beachtung schenkte, wo sich doch auch Clarissa im Raum aufhielt. Aber hatte diese ihr nicht erzählt, dass sie die ganze Nacht über geredet hatten? Dass nichts passiert war? War es überhaupt im Entferntesten möglich, dass Walter sich für sie und nicht für Clarissa interessierte? Frank malte sich eine schöne Szene aus: Sie im Abendkleid, er im Smoking, wie sie irgendwo tanzten, wo es elegant zuging, in einem Ballsaal mit schweren Vorhängen, einer hohen Wendeltreppe und einem Balkon. Ja, einem Balkon, von dem aus man in einen wunderschönen Garten blickte, während in der Luft der Duft von Pinien und Rosen hing.
»Francesca.« Es klang, als sänge er ihren Namen wie ein Lied zu Geigenklängen. Sie war in Satin gehüllt, das Kleid ließ den Rücken frei.
»Huhu, Francesca.« Wieder erklang seine Stimme. Geschmeidig und rau zugleich. Sie küssten sich im Mondschein und Walters Hände strichen zärtlich über ihr Gesicht, berührten ihre Schultern, schüttelten sie sanft. Dann etwas fester.
»Hallo, komm auf den Boden zurück«, sagte Walter.
Und Frank erwachte, kehrte wieder in die Realität zurück. »Ja, ja«, stotterte sie. »Bin schon wieder da. Was gibt’s? Was ist los?«
»Die Dame wartet auf ihr Wechselgeld«, sagte Walter gelassen.
»Hier bitte.« Sie drückte der Kundin einige Münzen in die Hand und spürte, dass ihr Gesicht feuerrot sein musste.
»Wo warst du denn?«, wollte Walter wissen.
»Vergiss es.«
»Irgendwann möchte ich da auch einmal mit dir hin«, gab er zurück.
»Du meinst auch nie etwas ernst«, versuchte sie sich herauszureden. Er konnte es einfach nicht ernst meinen.
Ein Blitzlicht flackerte auf. Piper Zorn hatte sie geknipst. Clarissa stand neben Zorn und lächelte tückisch.
»Fein, dass ihr beiden so gut miteinander auskommt. Es sieht aus wie der Beginn einer wundervollen Freundschaft«, sagte Clarissa und betonte dabei das Wort Freund. Sie drehte sich zu Piper und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Vielen Dank, dass du hergekommen bist. Ich rufe dich morgen an.«
Sie wartete, bis Piper zur Tür draußen war. Dann sagte sie zu Walter: »Wenn wir jetzt gehen, schaffen wir es noch.«
»Ja, stimmt. Das habe ich total vergessen.« Dann wandte er sich an Frank: »Wir haben Karten für ein Konzert. Tut mir Leid, Francesca. Aber ich komme bald wieder und bringe alle meine Freunde mit. Dann locken wir sämtliche Frauen im Umkreis von fünfzig Meilen an. Mit mir ist dein Café sicher. «
»Aber du bist mit mir nicht sicher«, ergänzte Clarissa, nahm ihn beim Arm und führte ihn nach draußen in die kalte Nacht.
Jetzt, da sie ausgeträumt hatte, musste sie wieder daran denken, dass Walter sie nie Clarissa vorziehen würde. Sie durfte sich keine Hoffnungen machen oder irgendwelchen Erwartungen hingeben. Letztendlich würde sie doch nur wieder enttäuscht. Außerdem, selbst wenn er interessiert wäre, Frank würde niemals ihre Freundschaft mit Clarissa aufs Spiel setzen. Die musste mehr wert sein als jeder Mann. Deshalb beschloss Frank, Walter aus ihrem Kopf zu verbannen und sich wieder wie gewohnt einsam und altjüngferlich ihren Geschäften zu widmen.
Auch wenn sie das umbrachte.